Die Brexit-Wahl und ihre Folgen
Red. – Christos Katsioulis leitet das Büro der Friedrich Ebert Stiftung in London. Sein Text ist auf ipg-journal publiziert worden
Schuld an allem war nur der Brexit? Ganz so einfach ist es nicht. Boris Johnson hat einen Erdrutschsieg für die konservative Tory-Partei errungen, Labour ist weit abgeschlagen und hat das schlechteste Ergebnis seit 1935 eingefahren. Noch mehr historische Zahlen gefällig? Johnson hat eine grössere Mehrheit als Margaret Thatcher 1987, die Tories haben nun die vierte Wahl in Folge gewonnen und werden das Land nach neun Jahren definitiv noch für weitere fünf Jahre regieren können und dabei aus der EU herausführen.
Was kann man von diesem Wahlabend mitnehmen? Sechs Schlussfolgerungen drängen sich auf:
Der Brexit-Taschenspielertrick von Boris Johnson hat funktioniert. Der Slogan „Get Brexit Done“ hat viele Wählerinnen und Wähler überzeugt, für die Tories zu stimmen. Dabei haben sie darüber hinweggesehen, dass Johnson vollkommen vage geblieben ist in der Frage, wie das künftige Verhältnis mit der EU gestaltet werden soll. Die Aussicht, mit dieser Wahl den Brexit vom Tisch zu bekommen und damit endlich in die gelobte Zukunft aufbrechen zu können, hat die Agenda von Beginn an dominiert. Weder Labour noch anderen Parteien ist es gelungen, das Thema zu wechseln oder die noch bestehenden Fallstricke aufzuzeigen.
Die Tories haben eine schmutzige Kampagne gegen Labour geführt, die hinsichtlich der eigenen Inhalte vollkommen monoton war: Brexit, Brexit, Brexit. Dabei waren fast alle Mittel recht, seien es manipulierte Videos, als Faktcheck getarnte Twitteraccounts, bezahlte Anti-Labour Anzeigen auf Google oder auch das am Wahltag verbreitete Gerücht, dass Wählerinnen und Wähler einen Ausweis brauchen, um wählen zu dürfen. Johnson hat das Trump-Playbook auf das Vereinigte Königreich adaptiert und damit Erfolg gehabt. Das wird die Hoffnungen anderer Rechtspopulisten in Europa beflügeln.
Bisher waren Tories gespalten, jetzt ist es Labour
Die zerrissenen Tories waren der grösste Stolperstein bei den bisherigen Versuchen, den Brexit zu implementieren. Die gestrige Wahl hat dieses Bild gedreht. Nun ist die Labour-Partei tief gespalten.
Der Ausgangspunkt für den gesamten Brexitprozess war eine in sich gespaltene konservative Partei. Die zerrissenen Tories waren auch der grösste Stolperstein bei den bisherigen Versuchen, den Brexit zu implementieren. Die gestrige Wahl hat dieses Bild gedreht. Nun ist die Labour-Partei tief gespalten. Ihre Wählerschaft, die bislang aus einer Koalition zwischen urbaner Mittelschicht in Grossstädten und traditioneller Arbeiterklasse in Kleinstädten und ehemaligen Industriegebieten bestand, hat sich entlang der Brexitlinie aufgeteilt.
Die klassischen Wählerinnen und Wähler von Labour und damit viele Wahlkreise im Norden und der Mitte Englands haben sich bei der Frage „Brexit oder Labour“ für den Brexit entschieden und einen Kandidaten der Tories ins Parlament entsandt. Die Tories haben es geschafft, die Gruppen der Leave-Wählerschaft auf ihre Seite zu ziehen. Corbyn vermochte es dagegen nicht, die zahlenmäßig stärkeren Remainer zu überzeugen.
Doch der Brexit war nicht das alleinige Problem von Labour, wie sich in vielen wütenden Reaktionen nach der Bekanntgabe der Exit Polls zeigte. Für viele Wählerinnen und Wähler war es unvorstellbar, dass Corbyn tatsächlich Premierminister werden könnte. Gleichzeitig war das Wahlprogramm von Labour, das eine Vielzahl von populären Politiken beinhaltete, offenbar nicht glaubhaft. Es erschien selbst eingefleischten Labour-Unterstützern unmöglich, dass Labour all die Versprechen – vom freien Breitband, über die Abschaffung der Studiengebühren, bis hin zur Renationalisierung von Energie, Wasser oder Bahn – finanzieren könnte.
Ein Blick auf die Wählerschaft von Labour ergibt ein beunruhigendes Bild für eine sozialdemokratische oder linke Partei. Besserverdienende und vor allem besser ausgebildete Menschen haben Corbyn gewählt.
Labour verliert seine traditionellen Wähler
Ein Blick auf die Wahlkreise und die Wählerschaft von Labour ergibt ein beunruhigendes Bild für eine sozialdemokratische oder linke Partei. Besserverdienende (wenn auch nicht die ganz Reichen) und vor allem besser ausgebildete Menschen haben Corbyn gewählt. Damit setzt sich ein Trend fort, der sich in den vergangenen Jahren angedeutet hatte. Während viele der traditionellen Sitze in den ärmsten Regionen Englands, aber auch in Wales verloren wurden, konnte Labour die Wahlkreise in London weitgehend halten und sogar Zugewinne erzielen.
In Schottland ist Labour faktisch nicht mehr existent, ein einziger Sitz konnte jenseits des Limes erobert werden. Besonders schmerzhaft für die harten Corbynites ist der Umstand, dass nicht nur Tony Blair in der Vergangenheit mehr Stimmen von Wählerinnen und Wählern der Arbeiterklasse eingefahren hat als Jeremy Corbyn, sondern jetzt auch Boris Johnson mit der Tory Partei.
Schottlands Streben nach Unabhängigkeit hat einen neuen Schub erhalten. Die Schottische Nationalpartei SNP hat drei Viertel der Sitze in Schottland erobert, auch wenn sie einen Stimmenanteil von weniger als 50 Prozent verzeichnet. Dennoch wird dieses Ergebnis ein wichtiges Argument dafür sein, ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum zu fordern.
Die Liberaldemokraten, im Mai noch die strahlenden Gewinner der Europawahlen, sind weiter dezimiert worden. Trotz vieler Überläufer aus der konservativen Partei und der klaren Haltung zum Brexit konnten sie keine entscheidenden Sitze hinzugewinnen. Ganz im Gegenteil, Parteichefin Jo Swinson hat ihren Sitz verloren, so dass die Partei sich schon wieder mit der Frage befassen muss, wer sie in die Zukunft führen wird.
In der Labour-Partei droht eine Fortsetzung der Grabenkämpfe, eine weitere Urwahl des Vorsitzes und vermutlich ein ähnlich schmutziger Wahlkampf, wie wir ihn gerade erlebt haben – dann aber parteiintern.
Wie geht es nun weiter in London und in Brüssel? Der Weg zum Brexit scheint festzustehen, der Termin Ende Januar wird mit Sicherheit eingehalten werden und die Verhandlungen über das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs mit der EU werden bald beginnen. Aber Johnson, der sich bislang zum Anwalt der harten Brexiteers in der eigenen Partei gemacht hatte, dürfte mit seiner komfortablen Mehrheit in der Lage sein, einen weicheren Kurs zu fahren, als es sich die selbst ernannten Spartaner wünschen.
Die politische Flexibilität, die Johnson schon immer an den Tag legte, wird mit dieser parlamentarischen Mehrheit leichter umzusetzen sein. Nach dem Wahlsieg, der weitgehend ihm und seiner Strategie zugeschrieben wird, hat er die Tories hinter sich vereinigt. Sie werden ihm selbst bei möglichen Schlangenlinien in den kommenden Jahren folgen.
Bei Labour dagegen sind die während der Wahl verdeckten Risse voll aufgebrochen und die nächsten Wochen werden turbulent. Die Rufe nach einem umgehenden Rücktritt von Corbyn begannen schon in der Wahlnacht. Noch versucht er das allerdings hinauszuzögern. Denn auch wenn Corbyn verloren hat, soll doch der Corbynismus gerettet werden. Daher versuchen Corbyn und seine engsten Verbündeten, in den kommenden Tagen die Hebel der Macht in der Partei in der Hand zu behalten. Sie wollen Einfluss darauf nehmen, wer versuchen darf, Labour nach dieser historischen Niederlage wieder aufzurichten.
Das bedeutet eine Fortsetzung der Grabenkämpfe, eine weitere Urwahl des Vorsitzes und vermutlich einen ähnlich schmutzigen Wahlkampf, wie wir ihn eben erlebt haben – dann aber parteiintern. Und in der Zwischenzeit regiert Boris Johnson das Land ungehindert und führt es aus der EU heraus. Wie sang doch noch die Menge junger Hipster beim Glastonbury Festival? Oh, Jeremy Corbyn!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Christos Katsioulis leitet das Büro der Friedrich Ebert Stiftung (FES) in London. Der Artikel erschien zuerst im ipg-journal, das sich als engagierte Debattenplattform für Fragen internationaler und europäischer Politik versteht.
So viel Mut im Verhältnis zur EU wie ihn Boris Johnson gezeigt hat, wünsche ich mir für unseren Bundesrat!
Man kann jetzt gross lamentieren, dass andere Themen untergegangen seien. Aber der Brexit war nun mal das wichtigste, nicht nur aus Tory-Sicht. Ausserdem war er der Grund dafür, dass schon wieder gewählt wurde. Wenn Labour es nicht mal schaffte, dazu eine klare Haltung einzunehmen, sind sie wirklich selber schuld.
P.S.: Bei den Interessenbindungen hätte man auch noch hinschreiben dürfen, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung eine SPD-nahe Institution ist.