Die Ukraine – eine Brücke ohne Funktion
Viel Wind gab’s um den Normandie-Gipfel in Paris. Aber Aufwind? Seit 2014 ist die Ukraine als mögliche Brücke zwischen Ost und West blockiert. Jetzt trafen sich die Staatsoberhäupter der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs zu ihrem dritten Versuch, die blockierte Brücke wieder gängig zu machen. Was hat dieser Versuch gebracht?
Man hat wieder miteinander geredet. Man hat einen Waffenstillstand beschlossen. Man will einen Gefangenenaustausch einrichten. Als neugewählter ukrainischer Präsident hat Wolodymyr Selenski die Vereinbarungen von Minsk erstmals öffentlich anerkannt. Wladimir Putin zeigte sich gesprächsbereit. Emmanuel Macron und Angelika Merkel moderierten höflich. Sogar eine neue Sicherheits- und Wirtschaftsordnung von Wladiwostok bis Lissabon, wie aus deutschen Wirtschaftskreisen soeben vorgeschlagen, wurde mit angedacht. Das alles ist gut. Reden ist besser als Schiessen. Entschieden wurde allerdings nichts.
Noch während des Treffens wurde an den Grenzen zwischen dem Kiewer Kernland und den abgespaltenen Regionen wieder geschossen. Es gab erneut Tote. Noch auf der Konferenz erklärte Selenski, er wisse nicht, wie er die Waffenruhe, die schon so oft beschlossen und immer wieder gebrochen worden sei, durchsetzen solle.
Offen blieb vor allem aber der Kernkonflikt, nämlich in welcher Reihenfolge die Vereinbarungen für den autonomen Status der abgespaltenen Regionen umgesetzt werden sollen: Erst Wahlen, wie in der «Steinmeier-Formel» in Aktualisierung der Vereinbarungen von Minsk 1 und Minsk 2 vorgeschlagen, und nach einem ordnungsgemässen Verlauf der Wahlen dann eine Wiedereingliederung der abgespaltenen Regionen ins ukrainische Staatsgebiet? Oder erst «Abzug aller fremden Truppen», Schliessung der Grenzen gegenüber Russland, also Herstellung der Einheit der Ukraine beim gegenwärtigen Stand seiner Verfassung unter Wiedereinschluss der abgespaltenen Regionen, erst danach dann Wahlen mit anschliessenden Verhandlungen über den autonomen Status der umkämpften Gebiete?
Kein Konsens in Sicht
Die Positionen Putins und Selenskis zu dieser Kernfrage stehen konträr zueinander, nicht anders als schon zu Zeiten von Selenskis Vorgänger Petro Poroschenko. Russland will die Autonomie der Regionen garantiert sehen, bevor es seine Schutzfunktion für die russisch orientierte Bevölkerung der beiden Regionen zurückfährt. Selenski ist trotz aller verbalen Zugeständnisse an die Gültigkeit der in Minsk 1 und Minsk 2 seinerzeit vereinbarten und jetzt durch die «Steinmeier-Formel» konkretisierten Abläufe nicht in der Lage, dem Vorgehen, wie Putin es vorschlägt, zuzustimmen. Mehr noch, er hat mehrfach vor dem Treffen in Paris erklärt, dass in diesem Verfahren die Gefahr einer Föderalisierung (*) läge, der er nicht zustimmen werde.
Was das Pariser Treffen stattdessen gebracht hat, ist die Fixierung eines eingefrorenen Konfliktes – bestenfalls. Im schlechteren Fall, wenn Selenski zu Hause den Waffenstillstand durchsetzen oder gar ein Verfahren nach der «Steinmeier-Formel» durchsetzen will, werden ihm die nationalistischen Kräfte einen Strich durch die Rechnung machen. Schon jetzt haben sie zur Begründung der «Roten Linie», die er in Paris nicht überschreiten dürfe, erklärt, dass die Vereinbarungen von Minsk 1 und Minsk 2, ebenso wie deren Aktualisierung durch die «Steinmeier-Formel» der Ukraine in erpresserischer Weise aufgezwungen worden seien und sie deren Verwirklichung, wenn Selenski dem tatsächlich zustimme, als «Verrat» betrachten werden und deren Realisierung zu verhindern wüssten.
Tiefer in den Konflikt schauen
Mit diesem Fazit könnte man schliessen. Hinter diesem Ergebnis des Treffens werden jedoch noch Aspekte sichtbar, die öffentlich nicht zur Sprache kamen, an die aber zu erinnern ist:
Das ist zum einen die Tatsache, dass Putin, also Russland, an den Gesprächen des Normandie-Formats schon seit Minsk 1 für die Regionen Donezk und Lugansk nur deswegen stellvertretend teilnehmen muss, weil deren Vertreter durch die Kiewer Regierung von den Gesprächen nicht nur ausgeschlossen, sondern als «Terroristen» bezeichnet und bekämpft werden.
Dabei müsste es im Gegenteil darum gehen, gerade mit den um ihre Autonomie ringenden Teilen der Bevölkerung den Dialog zu suchen, statt sie mit Krieg zu überziehen und auf die Menschen zu schiessen. Hier wird ein noch viel weiter reichender Konflikt deutlich, als jener der verfassungsrechtlichen Verfahrungsweise, nämlich die Frage, ob ein friedlicher Ausgleich zwischen der Bevölkerung der abgespaltenen Regionen und den von Kiew beherrschten Teilen des Landes überhaupt noch möglich ist – und wenn, wie das dann einzuleiten wäre.
Ohne diese Fragen offen, das heisst im Dialog zwischen Kiew und den Vertretern dieser Gebiete zu behandeln, kann und wird es für die Ukraine keine Stabilität geben.
Nur durch Putins Bemerkung, bei einer Eingliederung der abgespaltenen Regionen vor verbrieften Vereinbarungen über ihren zukünftigen Autonomiestatus bestehe die Gefahr eines neuen Srebrenica, leuchtete diese Realität aus den Verlautbarungen des Pariser Treffens hervor. Angesichts der Mobilisierungsdrohungen der radikalen ukrainischen Nationalisten ist dies eine berechtigte Sorge. Eine gewaltsam erzwungene, zudem noch ethnisch begründete Nationalisierung des Landes kann angesichts von dessen realem Pluralismus nur in innenpolitischen Terror führen.
Wer soll sich zurückziehen?
Erinnert werden muss zweitens daran, dass wenn vom Rückzug fremder Truppen aus dem Land gesprochen wird, es nicht nur um den Rückzug russischer Unterstützer aus den Regionen Donezk und Lugansk gehen kann. Die russische Unterstützung für die Regionen ist nur eine Seite der gegenwärtigen ukrainischen Realität. Sie wird von Russland nicht geleugnet. Ohne Russlands personelle, finanzielle, strategische und administrative Unterstützung wären die abgespaltenen Gebiete schon längst von Kiew überrannt worden.
Nicht vergessen werden darf, dass der russischen Präsenz in der Ostukraine die aktive Unterstützung Kiews durch die NATO, verbunden mit zivilen westlichen Hilfsprogrammen gegenübersteht. Erst jüngst wieder, im Oktober 2019, bekräftigte NATO-Sekretär Stoltenberg bei einem Treffen der NATO-Ukraine-Kommission in Kiew die Bereitschaft der NATO, ein «umfassendes Hilfspaket» mit «gemeinsamen Übungen im Schwarzen Meer», mit «Informationsaustausch», «Schulungsveranstaltungen» usw. mit der Kiewer Regierung zu entwickeln und generell die weitere Einbeziehung der Ukraine in das «NATO Enhanced Opportunity Programm» «eingehend zu prüfen».
Wie diese auf der Tagesordnung nicht sichtbaren Punkte zu bewerten sind, konnte man, wie so oft, im Kommentar der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) lesen. Nach Ausführungen dazu, dass es bei Putins gegenwärtiger Gesprächsbereitschaft nicht um eine Lösung des Konfliktes, sondern um «Ablenkung vom eigentlichen Konflikt» gehe, stand dort zu lesen: «Denn es geht in diesen Gesprächen nicht nur um den russisch-ukrainischen Konflikt. Es geht auch darum, mit welchen Botschaften der Westen dem russischen Regime entgegentritt.» «Inkonsequenz» ermutige die russische Führung, «deren Bereitschaft zum Regelbruch sich in fast allen Politikfeldern zeigt, bis hin zum Sport. Wer um des lieben Friedens willen versucht, die Wogen zu glätten, hilft dem Dialog mit Russland nicht. Er schwächt nur die eigene Position gegenüber dieser russischen Führung.» (FAZ, 11.12.2019)
Neue Sanktionen als Begleitmusik
In der Tat, darum geht es: Position gegen Russlands angebliche «Bereitschaft zum Regelbruch» zu beziehen. Wie blind für die weltpolitischen Vorgänge muss man sein, um so etwas schreiben zu können angesichts der beständigen und gerade jetzt wieder wiederholten Angebote aus Moskau, eine Sicherheitsordnung von Wladiwostok bis Lissabon aufzubauen, den aufgelösten IWF-Vertrag durch ein Moratorium aufzufangen, mit der NATO ins Gespräch zu kommen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen?!
Und als hätte es noch weiterer Beweise bedurft, worum es auf der Seite des Westens geht, verhängten die USA parallel zu den Verhandlungen in Paris erneute Sanktionen gegen «Nordstream 2». Das trifft Russland und die EU gleichermassen. Wenige Tage darauf verlängerte die EU, allen US-kritischen Worten Macrons und Merkels zum Trotz, ihre eigenen Sanktionen gegen Russland um ein weiteres halbes Jahr – noch während der Gespräche in Paris!
Die USA als «lachender Dritter»
Diese Massnahmen machen klar: Solange diese Grundkonstellation bestehen bleibt, wird die Ukraine als «eingefrorener Konflikt» aufrechterhalten werden, der einerseits Russlands, zugleich aber auch Europas Kräfte im Konflikt miteinander bindet. Das rückt die Visionen einer offenen Sicherheits- und Wirtschaftszone von Wladiwostok bis Lissabon, für die die Ukraine als Übergangsland ihre historisch gewachsene Brückenfunktion wahrnehmen könnte, in weite Ferne. Statt zum möglichen neutralen Vermittler zwischen östlichen und westlichen Partnern des eurasischem Raums zu werden, wird die Ukraine als Stachel erhalten, der solche Vermittlungen verhindert und Eurasien nachhaltig spaltet. Treibende Kraft und lachender Dritter dieser Strategie sind – einmal mehr – die USA. Solange diese Konstellation erhalten bleibt, wird es in der Ukraine keine Entspannung geben und damit eine Annäherung Westeuropas an Russland verhindert.
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Siehe dazu das Infosperber-Dossier
- «Die Ukraine zwischen Ost und West» mit über 50 Artikeln von verschiedenen Autoren
sowie das Infosperber-Dossier
- «Krim, Annexion oder Selbstbestimmung» mit mehreren Berichten nach eingehenden Recherchen vor Ort auf der Krim
sowie zur geopolitischen Situation und deren Entstehung
- «1997 – 2007 – 2017: 20 Jahre Fehlpolitik der USA», die Folgen der NATO-Erweiterung nach Osten
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(*) Die Begriffe «Autonomie» und «Föderalisierung» werden oft missverstanden. Unter «Föderalisierung» versteht «Kiew» eine Struktur mit «autonomen» Regionen, die zum Beispiel die amtliche Sprache selber wählen oder das Schulsystem selber gestalten können (entfernt vergleichbar mit dem System der mehrsprachigen Schweiz). Das wird von «Kiew» strikte abgelehnt. Es wird eine ukrainische «Nation» angestrebt, die total uniform ist, mit zum Beispiel überall nur der ukrainischen Sprache als Amtssprache – was der historisch gewachsenen pluralistischen Realität aber vollkommen zuwiderläuft. Praktisch alle Unruhen in der Ukraine begannen damit, dass «Kiew» der russischsprachigen Bevölkerung die ukrainische Sprache aufzwingen wollte.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Kai Ehlers ist ein deutscher Publizist. Er hat eine eigene Website.
Die ukraine ist ein souveräner staat und russland hat dort nichts zu suchen. Punkt.
Daran haben sich alle regelungen zu orientieren.
Wenn realpolitisch auch angezeigt, ist es ordnungspolitisch doch grotesk, putin als mitsprechenden in ukrainischen angelegenheiten zuzulassen. Das ist etwa so, wie wenn mir einer zwei autos klaut, und man am schluss die rückgabe von einem davon als salomonischen kompromiss feiert. Oder wie wenn man miterrand damals an eine konferenz über die zukunft des juras beigezogen hätte.
Trotzdem ist die ukraine gut beraten, minderheiten in ihrem gebiet aus freien stücken grosse autonomie zuzugestehen. Das lehrt die erfahrung, ist auch zb in katalanien oder anderswo sinnvoll. Ist aber eine innerukrainische sache. Niemandem käme es in den sinn, macron in unserer welschschweiz mitmischen zu lassen, nur weil sie dort französisch sprechen.
Seit 1990 bereise ich jährlich Russland, um mit LehrerInnen und SchülerInnen zu arbeiten und mit vielen Menschen über Leben und Politik zu sprechen, Dazu habe ich ein Studium in russischer Sprache und Geschichte abgeschlossen. Ich bin mit vielen Menschen in Russland freundschaftlich verbunden und darf mich durch Tatbeweis als prorussisch bezeichnen. Seit 1993 bereise ich jährlich die Ukraine, um mit LehrerInen und SchülerInnen zu arbeiten und mit vielen Menschen über Leben und Politik in der Ukraine zu sprechen. Bis heute spreche ich mit allen ukrainischen Gesprächspartnern ohne Probleme im angeblich dort verbotenen Russisch. Ich habe viele treue Freunde in der Ukraine und darf mich durch Tatbeweis als proukrainisch bezeichnen. Beide Bezeichnungen sagen, dass ich für die Menschen in Russland und in der Ukraine Partei ergreife, und geben mir keinen Anlass, die Politik der beiden Regierungen und deren manipulative Propaganda zu vertreten. Es bleibt mir rätselhaft, wie naiv ein so kluger Analytiker der westlichen und ukrainisch-nationalistischen Propaganda russische Staatspropaganda über die Zustände in der Ukraine und in den «Volksrepubliken» seinem Artikel zugrunde legt und glaubt, dass die Ukraine «von Kiev beherrscht» wird, während die Bevölkerung der DNR von rechtsstaatlich denkenden Demokraten unabhängig von russischen Grossmachtinteressen vertreten und vor Massakern beschützt wird. Die notwendige Mission von Infosperber wird nicht erfüllt: der Leser wird manipuliert.