Konzernverantwortung ernst genommen – als Sorgfaltspflicht
Was tun die da eigentlich in Bundesbern? Das endlose parlamentarische Hickhack um die Konzernverantwortungsinitiative muss verwundern, sofern man der Realpolitik noch etwas mehr zutraut als den blossen Machtkampf zwischen Partikulärinteressen. Die wortreiche Botschaft des Bundesrats zur Initiative
Verantwortung oder Pflicht?
Aber das Rezept hat einen zynischen Beigeschmack, der von der Ingredienz eines Kategorienfehlers stammt: Menschenrechte rufen, wie schon der Begriff besagt, per se nach Verrechtlichung. Ihr praktischer Sinn liegt ja darin, die Würde und die grundlegenden Voraussetzungen eines Lebens aller Menschen in Selbstbestimmung und Selbstachtung unantastbar bzw. deren Verletzung gerichtlich einklagbar zu machen. Der unbedingte oder, mit Kant ausgedrückt, kategorische Geltungsanspruch entsprechender Menschenrechte kann nicht dem Gutdünken und der «freiwilligen» Verantwortungsübernahme mächtiger Akteure überantwortet werden. Analoges gilt für die Bewahrung einer lebenswerten natürlichen Umwelt, tangiert das doch vor allem die unbedingt schützenswerten Lebensbedingungen der nach uns kommenden Generationen. Es ist eine Herausforderung der intergenerationellen Gerechtigkeit, deren Ansprüche in gedanklicher Verallgemeinerung (Universalisierung) zu antizipieren und mittels rechtsverbindlicher Umweltstandards jenen der jetzt Lebenden gleichzustellen. Die Klimajugend hat’s gecheckt.
Folglich geht es in beiden Dimensionen im Kern nicht nur oder nicht primär um die Kategorie der «freiwillig» wahrgenommenen (oder eben vernachlässigten) Verantwortung, sondern um die Kategorie der Pflichten mächtiger Akteure gegenüber den von ihrem Handeln Betroffenen nach Massgabe der unantastbaren Rechte dieser Betroffenen. Die beiden Begriffspaare Freiheit/Verantwortung und Rechte/Pflichten lassen sich kategorial nicht zur Deckung bringen (vgl. Beck 2015, Literaturhinweise am Ende des Artikels).
Der Titel der Konzernverantwortungsinitiative ist insofern etwas unglücklich, als er den skizzierten Kategorienfehler selbst suggeriert, solange man sich nicht vertieft mit ihrer eigentlichen Substanz befasst – eben der Frage nach den Rechten (der Menschen) und Pflichten (der multinationalen Konzerne) im vielschichtigen Spannungsfeld von Marktwirtschaft und Menschenrechten (vgl. Ulrich 2018a) und ihrer grundsätzlichen Beantwortung im Lichte der Prinzipien einer «zivilisierten Marktwirtschaft» (Ulrich 2010).
Prinzipienorientierung oder Sachzwangrhetorik?
Diese Thematik steht derzeit nicht etwa nur in der Schweiz auf der politischen Agenda, sondern in vielen, ja nahezu allen OECD-Staaten. Der wichtigste Grund, weshalb dem Schutz der Menschen und der Natur vor mächtigen Wirtschaftsakteuren wachsende Bedeutung zukommt, liegt in dem, was der Harvard-Ökonom Dani Rodrik (2011: 114) als «Hyperglobalisierung» bezeichnet hat. Deren Kern besteht darin, dass dem internationalen «Standortwettbewerb» nicht mehr nur die Unternehmen, sondern auch die Staaten unterworfen werden. Unter seinen Bedingungen verlieren die Staaten tendenziell die Macht zur – ordnungsethisch (vgl. Ulrich 2016: 361ff.) unerlässlichen –rechtsstaatlichen Einbindung der privatwirtschaftlichen Interessen in eine faire, dem Wohl aller dienenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Stattdessen gerät umgekehrt die staatliche Politik unter die «Sachzwänge» privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung. International agierende Konzerne können sich nämlich mit der Androhung des Standortwechsels in ein anderes Land, also des Investitions- und damit Arbeitsplatzentzugs, die Behörden an «ihren» Standorten oft allzu leicht gefügig machen, besonders wenn es sich um wirtschaftlich schwache oder schwach regierte – d.h. stark korruptionsanfällige – Regimes handelt. Selbst in Ländern wie der Schweiz, die sich auf die Qualität ihrer demokratischen Institutionen gern etwas einbilden, lassen sich die Politiker in wirtschafts- und (unternehmens-)steuerpolitischen Debatten fast schon notorisch von den Sachzwangargumenten der Konzernlobbyisten den Kurs diktieren.
Diese schleichende Umkehr des Verhältnisses von öffentlicher Ordnung und privaten Interessen ist weit fortgeschritten. Wiederhergestellt werden kann die richtige Ordnung der Dinge letztlich nur noch auf inter- oder supranationaler Ebene. Bezogen auf die Kategorie der Rechte und Pflichten ist das die Ebene des Völkerrechts, auf der die international anerkannten, in der UNO-Menschenrechtserklärung deklarierten Menschenrechte einzuordnen sind. Unterstützt werden sie durch ein wachsendes Geflecht zwischenstaatlicher Verträge sowie Standards mit «soft law»-Charakter, die von internationalen Organisationen wie der OECD oder der UNO verabschiedet worden sind; so die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und insbesondere die von John Ruggie entwickelten UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. An Letzteren orientiert sich denn auch die Konzernverantwortungsinitiative weitestgehend.
Schön wär’s, wenn «unsere» Politiker, die eigentlich den Rechtsstaat als Parlamentarier weiterentwickeln bzw. als Regierungsmitglieder in die Tat umsetzen sollten, sich dieser heutigen internationalen Verhältnisse und Entwicklungen vermehrt bewusst wären und sie ernst nähmen. Allzu viele von ihnen sind jedoch mit den Partikulärinteressen, die sie eigentlich in eine gerechte öffentliche Ordnung einbinden sollten, so sehr verbandelt, dass sie vor allem darum bemüht sind, den kategorialen – und kategorisch geltenden – Kerngedanken der Konzernverantwortungsinitiative so weit wie möglich hinter einer unverbindlichen Verantwortungsrhetorik zu verwässern und diese Verwässerung durch einen verkomplizierten Gegenvorschlag unkenntlich zu machen. So arbeiten sie gewollt oder ungewollt für das special interest am systematisch verkehrten Schutz der «freien» Kapitalverwertung vor «störender» Rücksichtnahme auf Menschen und Umwelt. Interessenbindung macht offenbar blind für die Zusammenhänge von Ethik, Politik und Wirtschaft im Hinblick auf das Gemeinwohl (vgl. dazu Ulrich 2019).
Der liberale Weg: staatliche Schutzpflicht und privatwirtschaftliche Sorgfaltspflicht
Jedem Rechtsstaat, der diese Bezeichnung verdient, kommt in seinem Hoheitsgebiet die völkerrechtliche Schutzpflicht bezüglich der Menschenrechte und Umweltstandards zugunsten der zukünftig lebenden Menschen zu. Wenn aber wie dargelegt der einzelne Staat dieser Pflicht unter den (durchaus politisch geschaffenen) Sachzwängen des hyperglobalisierten Weltmarkts nur noch beschränkt Nachachtung zu verschaffen vermag, so gilt es aus ordnungsethischer Sicht, die multi- oder transnational agierenden Konzerne als buchstäblich übermächtige Akteure zu begreifen und sie unmittelbar völkerrechtlich in die Pflicht zu nehmen. Das kann und soll durchaus in einer Weise verwirklicht werden, die ihre Wirtschaftsfreiheit nicht stärker einschränkt, als es zum Schutz der vorrangigen Menschenrechte und Umweltstandards unbedingt erforderlich ist.
Der Weg, den die Konzernverantwortungsinitiative diesbezüglich einschlägt, folgt wie erwähnt den weltweit zunehmend anerkannten UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Ihr Konzept hat durchaus liberale Qualität: Den international tätigen Unternehmen wird gemäss dem vorgeschlagenen Verfassungstext erstens eine «sämtliche Geschäftsbeziehungen» umfassende, prozedural gefasste Sorgfaltsprüfungspflicht (Due Diligence) hinsichtlich der Einhaltung der international anerkannten Menschenrechte und Umweltstandards zugewiesen. Und zweitens sollen sie in einem engeren Geltungsbereich, nämlich demjenigen der «durch sie kontrollierten Unternehmen» (rechtliche Tochtergesellschaften oder faktisch beherrschte Firmen), für den Schaden, den diese mit der Verletzung von Menschenrechten oder Umweltstandards verursachen, haften. Solche Haftung ist auch und gerade in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung die ganz normale rechtsstaatliche Art der Durchsetzung allgemeiner Regeln und Standards, nämlich mittels Sanktionierung ihrer Missachtung. Die Haftung der Unternehmen entfällt gemäss der Konzernverantwortungsinitiative, soweit sie ihre Sorgfaltsprüfung nachweislich pflichtgemäss durchgeführt haben und trotz bestmöglicher Massnahmen zum Schutz von Menschen und Umwelt Fehler passieren. Somit können die Unternehmen in ihrem eigenen Interesse mit «freiwilligen» Anstrengungen dem Risiko, in entsprechende Haftungsklagen zu geraten, proaktiv vorbeugen. Soweit sie im Sinne guter Unternehmensführung über hinreichend entwickelte Prinzipien und Prozeduren von Compliance & Integrity (vgl. Thielemann 2005) verfügen, brauchen sie also keineswegs eine Flut von Klagen und daraus resultierende Kosten zu befürchten.
Die Logik des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs: Argument gegen oder für die Sorgfaltspflicht der Unternehmen?
Gerade diejenigen Firmen, die tatsächlich in «freiwilliger Eigenverantwortung» die Menschenrechte und Umweltstandards achten, sind im harten Wettbewerb allzu rasch die Dummen, solange Konkurrenten, die solche Standards nicht beachten und im «freien» Markt auf rücksichtslose Gewinnmaximierung setzen, von unlauteren Kostenvorteilen profitieren können. Der diesbezüglich ungeregelte Markt schafft falsche Anreize und lenkt damit den Wettbewerb in eine wirklich schädliche Richtung. Oder anders ausgedrückt: Der Markt ist ethisch blind – wir müssen ihm schon mit klaren und für alle Wettbewerbsteilnehmer gleichermassen verbindlichen Rahmenbedingungen sagen, was Vorrang vor dem einzelwirtschaftlichen Vorteils- und Gewinnstreben verdient.
Die wirklich verantwortungsbewussten Unternehmer haben das verstanden. Man erkennt sie deshalb just daran, dass sie der Allgemeinverbindlichkeit von Prinzipien und Standards guter Unternehmensführung aus aufgeklärtem Eigeninteresse zustimmen. Über die prinzipiengeleitete Geschäftspraxis hinaus übernehmen sie aus derselben Einsicht auch ein Stück branchen- und ordnungspolitische Mitverantwortung (vgl. Ulrich 2016: 469ff.; ebenso Wettstein 2015: 129ff.), indem sie in Debatten wie derjenigen zur Konzernverantwortungsinitiative grundsätzlich für statt gegen diese Stellung nehmen – was eine pragmatische Erörterung konkreter rechtlicher Umsetzungsfragen ja nicht ausschliesst. Nicht nur einzelne fortschrittlich denkende Führungspersönlichkeiten der Schweizer Wirtschaft, sondern auch immer mehr Unternehmervereinigungen – in der französischsprachigen Westschweiz eher als in der Deutschschweiz – treten inzwischen öffentlich für eine zukunftsfähige, nachhaltige Rahmenordnung auf der Linie der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte ein. Beispielsweise unterstützt das «Groupement des Entreprises Multinationales» mit einem Pressecommuniqué vom 13. Juni 2019 immerhin den nur unwesentlich abgeschwächten Gegenvorschlag des Nationalrats, bei dessen Annahme durch das Parlament die Konzernverantwortungsinitiative zurückgezogen worden wäre. Und zahlreiche wirtschaftsnahe Vereinigungen wie etwa «Actares» (AktionärInnen für nachhaltiges Wirtschaften) und die Genfer sowie die Waadtländer Handelskammer wirken sogar direkt im Trägerverein der Konzerninitiative mit.
Indirekte, dafür gewichtige internationale Unterstützung kommt von dem im August 2019 veröffentlichten Manifest von 81 CEO’s grosser amerikanischer Konzerne im Rahmen des «Business Roundtable», dem einstigen US-amerikanischen Vorreiter der Doktrin des Shareholder Value. Dieselbe Vereinigung engagiert sich nun für das Abrücken von dieser Doktrin und die Hinwendung zu einem viel umfassenderen Verständnis der unternehmerischen Aufgabe im ausgewogenen Dienst für alle involvierten «Stakeholder» (Mitarbeitende, Lieferanten, Kunden, Kommunen und Allgemeinheit), ja verweist sogar auf den «Human Development Index» der UNO als globales Fortschrittskonzept, an dem sich auch die weltweit tätigen Konzerne orientieren sollen.
Die «neue Normalität für Unternehmen» und der Geist der Ewiggestrigen
Warum aber ist solches ethisch-politisch-ökonomisches Denken nicht längst die «neue Normalität für Unternehmen», wie John Ruggie es 2018 in einem Interview in der Handelszeitung postuliert hat? Man kann die neue Botschaft des Business Roundtable nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, als «zu 50 Prozent Marketing, zu 25 Prozent Heuchelei» und zum restlichen Viertel als «Unkenntnis und Korporatismus» abtun, wie es kürzlich der bekannte Tessiner Unternehmer und Financier Tito Tettamanti in einem ganzseitigen Interview im Tages-Anzeiger tat (Diem Meier 2019). Mögen solche mixed motives auch durchaus mitspielen, so würden sich die im Business Roundtable vereinigten CEO’s gleichwohl kaum die Zeit für ihre erwähnte Initiative nehmen und sich öffentlich exponieren, wenn es ihnen nicht zugleich um einen ernsthaften Beitrag zur Debatte über die Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft ginge.
Das Interview mit T. Tettamanti zeigt demgegenüber exemplarisch, welche obsolete Weltanschauung solchem Umdenken im Wege steht. Es ist das von ihm selbst explizit auf Milton Friedman (1962) zurückgeführte marktfundamentalistische Wirtschaftsverständnis und das damit spezifisch verbundene, vermeintlich der strikten Gewinnmaximierung verpflichtete (!) Unternehmensverständnis. Da liest man doch tatsächlich das altbekannte marktmetaphysische Bekenntnis: «Der einzige Zweck eines Unternehmens ist, dass es Profit macht». Hinzu kommt ein abgrundtiefer Anti-Etatismus, der alle Einsichten der politischen Philosophie des Liberalismus auf der von John Rawls (vgl. 1998) gezeichneten Linie negiert: «Nur Erfolg schafft Legitimation, keine Regierung», meint Tettamanti bis heute. Wenn jüngere, andersdenkende Manager sich zur Ordnungs- und Regulierungsaufgabe des Staats bekennen, ist das in diesem Weltbild nur so erklärbar, dass diese vermeintlich fehlorientierten Führungskräfte «keine Konkurrenz mögen» und letztlich – von Tettamanti ausdrücklich in dieser Pauschalität formuliert – «gegen die Marktwirtschaft sind». Dass eine gemeinwohldienliche und sozialverträgliche Marktwirtschaft der ordnungsethisch orientierten und rechtsstaatlich durchgesetzten Einrahmung bedarf, prallt an dieser im politisch-philosophischen Sinn des Begriffs keineswegs liberalen, sondern vielmehr libertären Laissez-faire-Doktrin aus dem 18. Jahrhundert einfach ab.
Man könnte solch doktrinär-libertäres Denken heute als randständig abtun, wenn es nicht immer noch, ja mehr denn je, die redaktionelle Haltung des politisch einflussreichsten schweizerischen Blatts, nämlich der NZZ, prägen würde. Dessen Chefredaktor Eric Gujer hat jüngst in seinem Kommentar vom 29. November die Konzernverantwortungsinitiative pauschal dem angeblichen linken «Traum [von] einer reglementierten Schweiz mit starkem Staat und schwachen Bürgern» zugeordnet und sie ebenso pauschal als Verschlechterung der «Rahmenbedingungen für die Wirtschaft» diffamiert. Rechtsstaat als Gegensatz zur Bürgerfreiheit? Weltweit ungebundenes Wirtschaften allein zum Vorteil der Kapitaleigner? Marktfundamentalistischer Primitivliberalismus als Antwort auf die politisch-ökonomischen Herausforderungen der Gegenwart – echt jetzt?
Wenn der Chefredaktor in die Tasten greift: seitenbreite Headline auf der Frontseite! (Leitartikel der NZZ am 30. November 2019; identisch mit dem oben zitierten anklickbaren Online-Text vom 29. November 2019)
Da staunt im 21. Jahrhundert der Laie und der Fachmann wundert sich. Sind die heute tonangebenden Unternehmensführer und ihre Adlaten vielleicht wirtschaftsethisch und ordnungspolitisch so wenig aufgeklärt und von den konfliktreichen realen Zusammenhängen des Wirtschaftens so sehr abgehoben, dass sie ihr ureigenes Interesse an allgemeinverbindlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie ihre unternehmerische Aufgabe ohne Wettbewerbsnachteile in gemeinwohlförderlicher Weise erfüllen können, gar nicht mehr erkennen? Man kommt kaum um den Eindruck herum, dass dem teilweise noch so ist. Und es gibt einen simplen Grund dafür: Das Wirtschaftsdenken, das viele von ihnen öffentlich vertreten, korrespondiert oft ökonomischen Theorien und ordnungspolitischen Doktrinen, die vor vierzig Jahren oder länger – also zur Zeit ihrer Ausbildung – den Zeitgeist bestimmt haben und in den Hörsälen des Ökonomiestudiums verkündet wurden, inzwischen aber als obsolet durchschaut sind. Den ideologischen Kern der Denkmuster, die bei den Gegnern der Konzernverantwortungsinitiative dominieren, bildet eben das Syndrom des Neoliberalismus im heutigen Sinn eines marktradikalen Ökonomismus. Dieser traut der unsichtbaren Hand des «freien» Markts fast alles zu, misstraut hingegen grundsätzlich der sichtbaren Hand rechtsstaatlicher Regulierung, sobald sie über effizienzorientierte Wettbewerbspolitik hinausgeht (vgl. zum neoliberalen Konzept der Ordnungspolitik Ulrich 2016: 366ff.).
Hier schliesst sich der Kreis zur eingangs erwähnten, angeblich «schädlichen Verrechtlichung» des Wirtschaftslebens durch verbindliche Menschenrechte und Umweltstandards, wie sie die noch immer durch und durch neoliberal geprägte economiesuisse befürchtet. Wer sich in solchen Zirkelschlüssen nicht weiter verfangen oder gar darin aufklärungsresistent einrichten möchte, tut gut daran, sich näher mit den wirtschaftsethischen Einsichten zu befassen, auf denen die Konzernverantwortungsinitiative aufbaut. Sie leitet daraus nicht viel mehr ab als das zivilisatorische Minimum an rechtsstaatlichen Voraussetzungen zukunftsfähiger, mit den Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft verträglicher Unternehmensführung.
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Zitierte Literatur
Beck, V. (2015): Verantwortung oder Pflicht? Zur Frage der Aktualität und Unterscheidbarkeit zweier philosophischer Grundbegriffe. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Bd. 2, H. 2, S. 165-202.
Diem Meier, M. (2019): «Diese Chefs sind gegen die Marktwirtschaft». Gespräch mit dem Tessiner Financier Tito Tettamanti. In: Tages-Anzeiger, 7.09.2019, S. 45.
Friedman, M. (1962): Capitalism and Freedom. Chicago/London: University of Chicago Press.
Rawls, J. (1998): Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Rodrik, D. (2011): Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft. München: Beck.
Thielemann, U. (2005): Compliance und Integrity – Zwei Seiten ethisch integrierter Unternehmenssteuerung. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Jg. 6, H. 1, S. 31-45.
Ulrich, P. (2010): Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Bern: Haupt.
Ulrich, P. (2016): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. 5. Aufl., Bern: Haupt.
Ulrich, P. (2018a): Marktwirtschaft und Menschenrechte. Zur zivilisatorischen Ordnung der Dinge. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 104, H. 4, S. 508-522.
Ulrich, P. (2019): Ethik, Politik und Ökonomie des Gemeinwohls. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Jg. 20, H. 3, im Erscheinen.
Wettstein, F. (2015): Business and Human Rights. Eine kritische Betrachtung aus der Perspektive der Integrativen Wirtschaftsethik. In: Beschorner, T./Ulrich, P./Wettstein, F. (Hg.): St. Galler Wirtschaftsethik: Programmatik, Positionen, Perspektiven. Marburg: Metropolis, S. 115-141.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Prof. em. Dr. rer. pol. Peter Ulrich, 1987-2009 erster Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen und Leiter des dortigen Instituts für Wirtschaftsethik.
Es ist erstaunlich, dass immer noch normative Schlussfolgerungen auf der Basis neoliberaler Analyse – aus dem Zusammenhang gerissen – im öffentlichen Diskurs gepredigt werden.
Ich finde die Analyse des Autors, dass schlecht verstandene Theorien auch heute noch von etwas überalterten Entscheidträgern umgesetzt werden leider richtig und entsprechend bedenkenswert.
Schon vor 40 Jahren habe ich in meinem Unterricht in «ökonomischer Analyse» darauf insistiert, dass es sich dabei um gedankliche Verhaltensmodelle handelt, welche zwar reale wirtschaftliche Kräfte illustrieren können, deren Realismus aber an ganz konkrete Grundbedingungen gebunden sind. Die Gleichheit der Chancen aller Marktbeteiligten ist nur eine dieser Grundbedingungen, welche erfüllt sein müssen.
Mehr als 20 Jahre konkrete Arbei bei der Preisüberwachung haben bestätigt, dass Marktversagen, aber auch kollateral Regulierungsversagen, oft diese ideale Funktionsfähigkeit des (neo-)liberalen Gedankenmodells relativiert, die darauf basierenden normativen Schlussfolgerungen ad absurdum führt.
Der Markt könnte vieles, wenn man ihn nur machen liesse.
Das klassische Beispiel des Grenznutzens einer Pistole als Transaktionsargument kann illustrieren, dass individuelle Macht sehr wohl die Verteilung der Reichtümer über die Prinzipien der neoliberalen Analyse hinaus beeinflussen kann. Der Markt kann in einer Welt der Pistoleros nicht funktionieren. Diese Theorien sollten in ihrem Kontext verstanden werden.
Vielen Dank für die absolut exzellente Darlegung!
Hervorheben möchte ich:
"Gerade diejenigen Firmen, die tatsächlich in «freiwilliger Eigenverantwortung» die Menschenrechte und Umweltstandards achten, sind im harten Wettbewerb allzu rasch die Dummen, solange Konkurrenten, die solche Standards nicht beachten und im «freien» Markt auf rücksichtslose Gewinnmaximierung setzen, von unlauteren Kostenvorteilen profitieren können. Der diesbezüglich ungeregelte Markt schafft falsche Anreize und lenkt damit den Wettbewerb in eine wirklich schädliche Richtung."
Empfehlung an Marktgläubige: Diesen Abschnitt einmal sehr gründlich auf der Zunge bzw. in den Hirnwindungen zergehen lassen! Die «unsichtbare Hand des Marktes» und deren – vorgeblichen – «Segnungen» einmal, nur einmal, zu Ende denken (mit all seinen Konsequenzen – für alle Betroffenen!).
Wer effektiv möchte, dass sich das beste Produkt durchsetzt – und zwar aufgrund einer umfassenden, nicht nur auf den Shareholder bezogenen Betrachtungsweise -, muss dafür sorgen, dass sich nicht jene einen Vorteil verschaffen können, die sich mit einem (noch) höheren Mass an Skrupellosigkeit (bei der Ausbeutung von Mensch, Tier und «Natur") hervortun.