Quecksilber1

Quecksilber in Wiesen und Gärten: Jahrzehntelang vergiftete die Lonza die Umwelt – alle schwiegen © SRF «Schweiz aktuell» vom 6.7.2016

Leichen im Keller (Teil 3): Der vertuschte Quecksilber-Skandal

Frank Garbely /  Jahrzehntelang verschwiegen Behörden und die Lonza die Quecksilber-Gefahr. Bis die Deponie saniert ist, können noch Jahre vergehen.

Seit 1978 ist bekannt, dass giftige Chemie- und Industrie-Abfälle der Lonza-Deponie Gamsenried bei Visp das Grundwasser verschmutzen. Doch erst zwölf Jahre später lief die Sanierung der Deponie an. Und es dauerte nochmals rund 20 Jahre, bis die Öffentlichkeit erfuhr, dass die Lonza die Umwelt auch mit Quecksilber verseuchte. Die Walliser Behörden wussten das seit Jahrzehnten, aber sie unternahmen nichts gegen die Quecksilber-Gefahr und vertuschten das Problem. Ob die undichte Deponie überhaupt sanierbar ist, darüber gibt es Zweifel.

Bereits Ende der 1980er Jahre vertrat der Zürcher Geologe Marcos Buser, ein erfahrener Experte im Bereich Entsorgung chemotoxischer Sonderabfälle, die Ansicht, dass sich die Sanierung nicht auf die Deponie beschränken dürfe. Nach seiner Einschätzung war das Grundwasser im Unterstrom der Deponie bis hinunter nach Lalden viel stärker verschmutzt als bisher angenommen. Dabei stützte er sich auf Analysen, welche die Lonza in Auftrag gegeben hatte. Zwischen 1979 und 1986 hatten Forscher der Universität Neuenburg Grundwasser-Analysen durchgeführt. Sie stellten eine starke Verschmutzung des Grundwassers zwischen Gamsen und Lalden fest. Zu den analysierten Stoffen zählten unter anderem: Aniline, Phenol, Ammonium und Chloride.
Die Forscher studierten zudem die räumliche und zeitliche Ausbreitung der diversen Verschmutzungen. Doch die Ergebnisse dieser Analysen wurden nie kommuniziert, sie liegen bis heute unter Verschluss, nicht einmal das Amt für Umweltschutz in Sitten kennt sie. Wie hat sich die Verschmutzung seit den 80er Jahren entwickelt; wie weit talabwärts reicht sie inzwischen, bis Raron oder gar bis Gampel. Oder sackten die Schadstoffe ab und liegen 30 oder 40 Meter tief im Grundwasser?
Experte sagte Scheitern voraus
In seinem Gutachten vom September 1988 zum Sanierungsprojekt gab Marcos Buser der Sanierung kaum Erfolgschancen. Der Experte rechnete damit, dass die Deponie bald wieder das Grundwasser verschmutzen werde. Darum seine Empfehlung: «Sollte die Umweltbelastung durch die Deponie anhalten, werden Sanierungsmassnahmen an der Quelle nötig. Das heisst: Ausräumen der bestehenden Deponie, Nachbehandlung des Lagergutes.»
Nur: Kaum jemand hatte das Gutachten Buser gelesen.
Trotz Bedenken des Gutachters bewilligten Sitten und Brig das Sanierungskonzept. Am 1. Dezember 1990 lief die Sanierung an. In der Folge warteten die Lonza und das Amt für Umwelt regelmässig mit Erfolgsmeldungen auf: Die Sanierung greift. Alles läuft nach Plan.
So geriet die Lonza-Havarie langsam in Vergessenheit, niemand sprach mehr von der Deponie.
Quecksilber auf Wiesen und in Gärten
Doch dann die nächste unliebsame Überraschung: Quecksilberverseuchte Böden zwischen Steg und Visp. Beim Bau der Autobahn stellte man in den Jahren 2009/2010 fest, dass landwirtschaftlich genutzte Felder und private Gärten stellenweise stark mit Quecksilber belastet waren. Woher das Quecksilber kam, war sofort klar: aus der Lonza. Vorerst unklar blieb hingegen: Wie viel Quecksilber lagerte in den Böden?
Die Behörden von Sitten und die Lonza gaben Studien in Auftrag, lieferten eine erste Antwort: 28 Tonnen. Doch diese Zahl war nicht korrekt – einmal mehr. Das zumindest behauptete der Verein Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU). Er sprach von 200-250 Tonnen Quecksilber. Die Lonza dementierte. Aber der Verein AefU hatte zumindest zum Teil recht. Die Lonza musste ihre eigenen Zahlen nach oben korrigieren, sprach nicht mehr von 28 Tonnen, sondern neu von 50 Tonnen Quecksilber.

Sowohl beim Amt für Umwelt in Sitten wie auch bei der Lonza hatte sich in den letzten zehn Jahren einiges getan. Das Amt in Sitten hatte massiv aufgerüstet, eine ganze Reihe von hochqualifizierten Mitarbeitern angestellt. Und vor allem: Sitten setzte immer stärker auf Transparenz. Das Amt für Umweltschutz richtete eine eigene Website ein, informiert seither laufend über Umweltverschmutzung und den Fortschritt von Sanierungsprogrammen.
Ein ähnlicher Wandel vollzog sich bei der Lonza. Sie kaufte ein ausgewiesenes Spezialisten-Team ein, das besonders grosse Erfahrung mit der Entsorgung von Sondermüll und der Sanierung von Chemie-Deponien mitbrachte. Dieses neue Team begann proaktiv über die Probleme der Lonza mit Umweltverschmutzung zu kommunizieren. Ein schwieriger und auch undankbarer Job. Immer wieder musste und muss das Team geradestehen für Fehler früherer Lonza-Verantwortlicher, für Sünden aus längst vergangener Zeit.
Deponie schon wieder undicht
Die Polemik über das Ausmass der Quecksilber-Verschmutzung sorgte im Wallis jahrelang für heisse Köpfe. Die Lonza kam kaum aus den Schlagzeilen heraus. Dieser Medienrummel um die quecksilber-verseuchten Böden kaschierte einen anderen, womöglich noch grösseren Skandal: Die Lonza-Deponie war erneut undicht.
Die Befürchtungen des Experten Buser hatten sich bewahrheitet. Trotz komplexen und aufwendigen Massnahmen spülte die Deponie weiter Schadstoffe ins Grundwasser. Das zeigten Grundwasseranalysen aus den Jahren 2005-2006. Aber erst ein halbes Jahrzehnt später erfuhr die Öffentlichkeit davon – im Sommer 2011. Damals stufte die Dienststelle für Umwelt die Deponie «als belasteter, sanierungsbedürftiger Standort» ein und verlangte von der Lonza «ein umfassendes Sanierungsprojekt für das ganze Areal der alten Deponie». Die erwähnten Analysen ermittelten im Grundwasser eine ganze Reihe von Schadstoffen, darunter Anilin, Azonol, Phenol, Toluidin, Benzol … Und plötzlich war auch die Rede von Quecksilber.
60 Tonnen Quecksilber lagern in der Deponie
Wie konnte das sein? Warum erst jetzt? Wieso nicht schon 1978, als Geohydrologen festgestellt hatten, dass die Deponie undicht war? Für die Sanierung der maroden Deponie waren damals unzählige Untersuchungen durchgeführt worden. Dutzende von Experten hatten Studien angefertigt. Aber nicht einer hatte im Zusammenhang mit der Deponie Quecksilber erwähnt. Das geschah erst im Jahre 2011. Ein Sprecher der Dienststelle für Umwelt in Sitten erklärt: «Es war unsere Dienstelle, die im Jahr 2011 die Lonza darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es auf der Deponie Quecksilber geben muss.» Und plötzlich meldete die Lonza, dass auf der Deponie tatsächlich Quecksilber lagerte, und nicht zu knapp, nämlich 40 bis 60 Tonnen.
Dabei wusste die Lonza: Auf der Deponie lagerte schon immer Quecksilber. Seit dem ersten Tag. Die Deponie war 1918, vor über 100 Jahren, in Betrieb genommen worden.
Quecksilber hatte die Lonza seit 1917 eingesetzt, als Katalysator bei der Produktion von Azetaldehyd. Auch in den 40er Jahren bei der Produktion von Vinylchlorid, zur Herstellung von Gummiersatzstoffen. In den 60er Jahren nahm die Lonza die Petrochemie in Betrieb und konnte so ihre Produktion massiv steigern. Das war aber keineswegs das Ende des Quecksilber-Einsatzes. Im Gegenteil, die Quecksilberverwendung nahm zu und damit schnellte auch der Quecksilberverlust in die Höhe. Erst in jüngster Vergangenheit hat die Lonza jede Nutzung von Quecksilber eingestellt.
Jahrzehntelang vertuscht
Auch die Behörden, speziell die staatlichen Ämter im Bereich Gewässer- und Umweltschutz wussten seit Jahrzehnten, dass die Lonza die Umwelt, u.a. mit Quecksilber, belastete.1) Seit den 1920er Jahren waren in der Rhone zwischen Visp und Leuk immer wieder ganze Fischbestände vergiftet worden. Regelmässig hatte der Staat Experten ins Oberwallis geschickt, um die Ursachen für das Fischsterben zu ermitteln. Das Resultat war jeweils dasselbe: die Industrie-Abwässer der Lonza. Bereits in den 1940er Jahren war im Zusammenhang mit toxischen Abwässern ausdrücklich die Rede von Quecksilber. Spätestens seit 1974 war der Lonza und auch den kantonalen Behörden die Verschmutzung der Rhone mit Quecksilber bekannt. Die Internationale Kommission zum Schutz des Genfersees liess die Sedimente der Rhone untersuchen. Die höchsten Quecksilberwerte wurden im Oberwallis gemessen, und zwar dort, wo die Lonza ihre Abwässer in die Rhone leitete. Die Untersuchungsergebnisse wurden veröffentlicht. Natürlich kannten die Behörden in Sitten diese Untersuchungen, der Kanton war Mitglied der Genfersee Kommission. Doch im Wallis schien niemand beunruhigt, niemand sorgte sich über die massive Quecksilberverschmutzung, niemand stellte Fragen – auch kein Politiker.
Erst seit 2011 ist Quecksilber wieder ein Thema. Erst seit 2011 ist bekannt, dass auf der Lonza-Deponie 40-60 Tonnen Quecksilber liegen und dass die Deponie wieder undicht ist und das Grundwasser verseucht.
Deponie muss dringend neu saniert werden
Jetzt muss die Deponie dringend neu saniert werden. Das kann dauern. Zuerst sind die Experten – Geohydrologen, Chemiker, Bau- und Umwelt-Ingenieure – am Werk. Bis Ende des nächsten Jahres müssen sie eine «Detailuntersuchung» über Inhalt und Zustand der Deponie durchführen, dann eine «Gefährdungsabschätzung» vornehmen, bevor sie die «Variantenstudien» in Angriff nehmen können, um schliesslich ein «Sanierungsprojekt» zu erarbeiten: ein umfangreicher Bericht, der bei den Behörden eingereicht und abgesegnet werden muss. Dann erst wird man beginnen können zu überlegen, welche der vorgeschlagenen Sanierungsmassnahmen ergriffen werden soll. «Die erste Massnahme wird realistischerweise frühestens im Jahre 2022 umgesetzt werden können. Das geht einfach nicht anders», sagt Rémi Luttenbacher, Leiter Umweltprojekte bei der Lonza.
Ist die Deponie überhaupt sanierbar?
Und in dieser langen Zeit werden aus der undichten Deponie weiterhin Schadstoffe ins Grundwasser sickern. Welche Stoffe, in welchen Mengen und in welcher Konzentration? Wie lange noch? Was geschieht mit dem immer stärker verschmutzten Grundwasser? Viele offene Fragen. Genau genommen weiss man noch nicht einmal, ob die 1,5 Millionen Kubikmeter mächtige Deponie überhaupt sanierbar ist. Offen auch die Frage, wer zum Schluss den Schaden bezahlen wird!
Bleibt noch nachzutragen. Im April dieses Jahres wurde im Grundwasser in Visp und im Bereich der Lonza-Deponie Benzidin, eine hochgiftige und krebserregende Substanz entdeckt. Joël Rossier, der in die Wüste geschickte Chef der Dienststelle Umwelt, schlug Alarm und verlangte sofortige Massnahmen. Die Lonza und auch Rossiers Chef, Staatsrat Melly, dagegen beruhigten. Das Grundwasser sei nicht betroffen, jede Gefahr sei gebannt, erklärten sie wiederholt.
Auch im Fall Benzidin fällt der dürftige Wissensstand der Lonza auf – einmal mehr. Bei der Lonza weiss man zwar, dass das Benzidin von der Deponie ins Grundwasser gelangt. Aber: Wie kam der hochtoxische Stoff auf die Deponie? Das scheint schleierhaft, selbst für die Lonza. «Wir wissen nicht, woher das Benzidin kommt. Die Lonza hatte und hat für keine ihrer Produktionen Benzidin benutzt», sagt ein Sprecher der Lonza.

Was kommt nach Benzidin?

1) Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) über das Quecksilberdossier, der dieser Tage veröffentlicht wurde. Der Walliser Grosse Rat (Kantonsrat) wird sich mit dem Bericht in der Dezembersession (10.-13. Dezember) beschäftigen.

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«Leichen im Keller»: Lesen Sie hier Teil 1 und 2

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Eine Meinung zu

  • am 26.11.2019 um 23:33 Uhr
    Permalink

    Im Wallis lief also die Sanierung der Deponie «erst 12 Jahre» nach Bekanntwerden an. Im Kanton Freiburg sind nun bereits 16 Jahre verstrichen und es ist noch nicht einmal entschieden, wie die Deponie La Pila, die mehr als 30 Tonnen hochgiftiges PCB enthält, saniert werden soll. Der Kanton sucht angeblich seit 2009 nach ev. verantwortlichen Firmen, obwohl ganz Freiburg weiss, dass das PCB aus Industrieabfällen der Kondensatorenfabrik Condensateurs Fribourg SA stammt. Weil der Kanton jahrelang geschlampt hat, wurde ein beträchtlicher Teil des PCB bereits in den Schiffenensee «ausgelagert», bis heute spricht noch niemand von dessen Sanierung, bereits die budgetierte Viertelmilliarde für die Totalsanierung der Deponie La Pila bringt die freiburger Politiker ins Taumeln.
    Das Beispiel der LONZA zeigt zudem, was es bringt, das Problem nicht an der Wurzel zu packen und alle Schadstoffe zu eliminieren: Man lastet das Problem einfach der nächsten oder übernächsten Generation an. So versucht auch der in Freiburg zuständige Staatsrat Steiert nur gerade soviel des PCBs zu elimieren, damit der Kanton nicht auf die Bundessubventionen verzichten muss. Zusätzlich pikant am Dossier La Pila: Das BAFU, das eigentlich den Freiburgern auf die Finger schauen sollte wird vom ehemaligen Direktor des freiburger Umweltamtes geleitet, der das Pila-Dossier jahrelang begleitet hat und bestens kennt.

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