Skandal um Antibabypille: Wie Opfer um Entschädigung kämpfen
Red. Opfer von Verhütungspillen sind selten. Aber wenn es eine Frau trifft, ist sie ein Leben lang schwer behindert. Warum also Verhütungspillen verschreiben, die ein deutlich höheres Thrombose-Risiko haben, wenn es andere mit einem kleineren Risiko gibt?
- Bereits im September 2011 hatte Infosperber darüber informiert, dass Ärztinnen und Ärzte Verhütungspillen mit einem doppelten Risiko abgeben. Es handelt sich um Yasmin, Yasminelle, Yaz, Cerazette, Yira oder auch der Ring NuvaRing. Ärzte und Apotheker verdienten und verdienen an diesen neuen Pillen mehr.
- Zwei Jahre später informierte Infosperber, dass innerhalb von zehn Jahren zehn junge Frauen in der Schweiz wahrscheinlich an den Folgen der «neuen» Generation Verhütungsmittel starben. Wie viele weitere an Thrombosen und Lungenembolien erkrankten, wusste die Zulassungsbehörde Swissmedic angeblich nicht.
- Im Januar 2015 berichtete Infosperber über die schwerbehinderte Céline, deren Schadenersatzklage das Bundesgericht abwies. Trotz gegenteiliger Empfehlung der Behörden verschrieben Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz fast nur die risikoreicheren, neuen und teureren Verhütungspillen. 80 Prozent der Frauen erhielten immer noch Pillen der neuen Generation. Für die Aufsichtsbehörde Swissmedic spielen bei den Zulassungen der Pillen mehr oder weniger Risiken keine Rolle, so lange die Vorteile der Verhütung grösser sind.
Am 23. Oktober 2019 hat jetzt die ARD-Sendung «plusminus» unter dem Titel «Skandal um Antibaby-Pille» darüber informiert, wie unterschiedlich die Aussichten sind, wenn schwerbehinderte Opfer in den USA oder in Deutschland (und der Schweiz) um Entschädigung kämpfen. Im Folgenden eine Zusammenfassung.
Zuerst das Wichtigste in Kürze:
Es klingt, als sollten Frauen für die Last der Verhütung mit angenehmen Nebeneffekten entschädigt werden: Die Pillen Yasminelle®, Yasmin® oder Yaz® des Bayer-Konzerns sollen sich neben dem Schutz vor einer ungewollten Schwangerschaft auch positiv auf Körper und Seele auswirken. Das klingt verlockend, aber nicht nach Bedenken. Und schon gar nicht nach einem lebensbedrohlichen Risiko.
Klinisch fast tot
Julia Frenking hat solche Pillen eingenommen – und damit fast ihr Leben verloren: » Das Herz ist stehengeblieben, dementsprechend war mein Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt. Ich war eigentlich klinisch fast tot.»
Was war geschehen? Wie viele Frauen verhütete auch Julia Frenking mit einer Pille der neuesten Generation. Bedenken hatte sie nicht. Im Gegenteil: «Die Frauenärzte haben diese Pillen empfohlen, als wären sie besonders gut verträglich, einfach ein Lifestyle-Produkt, ganz harmlos.» Das passte gut zu der sportlichen Nichtraucherin. Doch an einem Tag im November 2014, damals war sie 29 Jahre alt, bekam sie plötzlich Atemnot. Sie schaffte es kaum noch die Treppe hoch und brach schliesslich zusammen. Ihr Herz stand still. Sie hatte eine Lungenembolie durch Thrombose erlitten. Beide Lungenflügel waren voller Blutgerinnsel. Den Ärzten gelang es zwar, die Gerinnsel zu entfernen, aber die Aussicht auf das Leben nach der OP war düster, wie die Frau heute beschreibt: «Dann haben die Ärzte (zu meinen Eltern, Red.) gesagt: Es kann sein, dass sie aufwacht und gar nichts mehr kann, ein Leben lang ein Pflegefall bleibt, vielleicht kann sie noch ein bisschen was. Machen Sie sich mal keine Hoffnung.»
Drei Jahre im Rollstuhl
Das Gehirn war nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt worden. Julia Frenking hatte einen Schlaganfall erlitten, in dessen Folge sie nicht mehr gehen konnte und alles erst wieder mühsam erlernen musste. Drei Jahre hat es gedauert, bis sie sich aus dem Rollstuhl «herausgekämpft» hatte.
Heute kann sie mit leichten Einschränkungen wieder gehen. Da bei ihr keine Risikofaktoren vorlagen, vermuteten die Ärzte bei ihr die Antibabypille als eine Ursache für die Thrombose mit den gravierenden Folgen.
Eine von vielen
Julia Frenking glaubt zunächst, ein Einzelfall zu sein – bis sie im Internet auf die Seite risiko-pille.de stösst. Hier berichten zahlreiche betroffene Frauen aus Deutschland über lebensgefährliche Nebenwirkungen der Pille wie Thrombose, Lungenembolie, Schlaganfall.
Eingriff ins Leben
Eine der Gründerinnen dieser Initiative ist Felicitas Rohrer. Sie hatte 2009 ein ähnliches Schicksal erlebt wie Julia Frenking. Sie hatte erst einige Monate lang mit Yasminelle® verhütet, als die damals 25-Jährige eine lebensbedrohliche Lungenembolie mit Herzstillstand erlitt. Die Ärzte mussten ihr Brustbein durchtrennen und sie am offenen Herzen reanimieren. Sie überlebte, doch die Schäden werden sie für immer begleiten. Sie beschreibt, wie nachhaltig sie ihr Leben verändert haben: «Ich kann meinen Beruf als Tierärztin nicht mehr ausüben, weil mir das körperlich nicht mehr möglich ist. Ich bin jetzt eine Thromboserisiko-Patientin, was ich davor nicht war. Das könnte natürlich auch Auswirkungen auf eine mögliche Schwangerschaft haben. Ich habe psychische Folgeschäden, mein Körper ist nicht so leistungsfähig.»
Schminkspiegel und Pinsel
Felicitas Rohrer hat die hübsche Verpackung ihrer Pille von damals aufgehoben. Weder im Begleitheft noch im Beipackzettel stand etwas von einer höheren Thrombosegefahr gegenüber älteren Pillen. Dafür gab es Schminkspiegel und Pinsel dazu.
Als Sorglos-Paket beworben
In den USA, wo Pharmaunternehmen auch für verschreibungspflichtige Medikamente werben dürfen, ging Bayer noch offensiver vor, um seine Pillen zu vermarkten. Der Konzern präsentierte sie quasi als Lifestyle-Produkte für ein schöneres Leben, in dem Probleme einfach verschwinden.
Höheres Thromboserisiko verschwiegen
Dabei war das erhöhte Thromboserisiko dieser Pillen Bayer schon seit 2008 bekannt. Auch in den Folgejahren zeigten unabhängige Studien immer wieder, dass der Wirkstoff Drospirenon ein bis zu doppelt so hohes Thromboserisiko im Vergleich zu älteren Antibabypillen hat. Während nämlich bei älteren Pillen, statistisch gesehen, von 10’000 Frauen pro Jahr fünf bis sieben eine Thrombose bekommen, sind es bei den neuen Pillen mit dem Wirkstoff Drospirenon neun bis zwölf Frauen.
Klage gegen Bayer
Erst 2014 brachte ein Beschluss der EU Kommission Bayer und andere Hersteller dazu, ihre Beipackzettel zu ändern und über das erhöhte Risiko zu informieren. Für Felicitas Rohrer kam diese Änderung zu spät. Sie wusste nichts davon. Da Bayer jede Verantwortung abstritt, verklagte die junge Frau den Hersteller schon 2011 auf Schadenersatz. Sie war damit die erste Klägerin in Deutschland und eine starke Motivation: «Ich finde, wenn Medikamente auf den Markt kommen, dann müssen bei gravierenden Nebenwirkungen die Hersteller dafür haften. Und ich sehe es nicht ein, dass Bayer Milliarden mit diesen Pillen verdient und sich weigert, in Europa Verantwortung für die Opfer zu übernehmen.»
Die Chancen schienen zunächst gut, denn Bayer hatte in den USA 2,1 Milliarden US-Dollar Schadenersatz an über 10’000 betroffene Frauen gezahlt – aussergerichtlich und ohne Schuldeingeständnis.
Zu solchen aussergerichtlichen Einigungen kam es in Deutschland allerdings nicht. Felicitas Rohrer musste also vor Gericht ziehen und beweisen, dass die Pille bei ihr zur Lungenembolie geführt hat. Martin Jensch, Fachanwalt für Medizinrecht, vertritt Felicitas Rohrer und weitere Frauen in Deutschland. Er erklärt, warum Bayer in den USA zahlt, in Deutschland aber nicht: «Hier muss man natürlich sehen, dass Bayer damit kalkuliert hat, dass, wenn sie verurteilt würden, in den USA weitaus höhere Schmerzensgeldbeiträge zugesprochen würden als diejenigen, die jetzt aussergerichtlich gezahlt werden. Die Gefahr besteht. Die ist real. Wir wissen, dass in den USA höhere Schmerzensgeldbeträge ausgeurteilt werden, die in ganz anderen Dimensionen liegen, als wir die in Deutschland kennen.»
Bayer schreibt uns dazu, die Entscheidung, Vergleiche in den USA abzuschliessen, beruhe auf Besonderheiten des Rechtssystems in den USA. Die Vergleiche hätten keine Bedeutung für Rechtsfälle in anderen Ländern.
Klage abgewiesen
Der Prozess von Felicitas Rohrer gegen Bayer zog sich über sieben Jahre hinaus. Dann wurde ihre Klage am Landgericht Waldshut-Tiengen abgewiesen. Es sei nicht bewiesen, dass die Pille die Lungenembolie verursacht habe. Es könne auch eine Flugreise gewesen sein, die allerdings vier Monate zurück lag. Anwalt Martin Jensch hält diese Begründung für falsch: «Eine Thrombose von der Art und an der Stelle, wie sie Frau Rohrer erlitten hat, tritt infolge Reisen nicht auf. Das hat der Sachverständige auch klar festgestellt. Und dennoch hat das Gericht dies dem Urteil zugrunde gelegt und das ist natürlich meiner Meinung nach fehlerhaft. «Für Felicitas Rohrer ist die Abweisung ihrer Klage ein herber Schlag. Sie hat Berufung eingelegt.
Weiter verschrieben
Was sie besonders ärgert: Anders als in Frankreich werden in Deutschland die Drospirenon-haltigen Pillen nach wie vor von den Kassen bezahlt [in der Schweiz zahlen die Kassen keine Verhütungsmittel]. Wegen der öffentlichen Debatte sind die Verordnungen für Yasminelle® und Co. zwar zurückgegangen, jedoch nicht zugunsten der risikoärmeren älteren Präparate. Stattdessen werden vermehrt andere Produkte der neuen Generation verschrieben.
Risiko auch bei anderen neuen Pillen höher
Dies sieht der Gesundheitsökonom Professor Gerd Glaeske kritisch, wie er am Beispiel der Pillen Maxim® der Firma Jenapharm beschreibt. Hier wurde «jahrelang damit geworben, dass bei ihnen sozusagen keine Erhöhung der Thrombosegefahr erkennbar wären, und dass man daher diese Pillen jeder Frau verordnen könne.
Seit Dezember 2018 wissen wir, dass auch bei der Pille die Thrombosehäufigkeit erhöht ist, fast genauso hoch wie bei den Drospirenon-haltigen Pillen.»
Uninformierte Ärzte
Dabei hat die zuständige Arzneimittelbehörde schon 2014 die Ärzte gewarnt und klargestellt: Ältere Pillen seien den neueren vorzuziehen, denn sie hätten das geringste Thromboserisiko. Doch warum wurde das von den vielen Gynäkologen offenbar ignoriert? Die Frauenärztin Dr. Silke Bartens sieht einen Grund im Informationsfluss: «Eine Ursache ist sicher: Nicht richtig informiert zu sein. Statt sich auf unabhängige Quellen zu stützen, lässt man sich von Kollegen und manipulierten Zeitschriften und Kongressen beeinflussen. Vertreter von Pharmafirmen kommen in ihre Praxis und schenken ihnen Musterverpackungen. Ich glaube, das Wissen ist immer noch so: «Naja, das wird schon nicht so schlimm sein.'»
Frauen wie Felicitas Rohrer hätten eine unabhängige Aufklärung ihrer Ärzte dringend gebraucht. Weil das nach wie vor zu wenig passiert, haben sie sich auf ihrer Website unabhängige Informationen selbst zusammengestellt. Die Botschaft ist deutlich: Die Pille ist kein harmloses Lifestyle-Produkt, sondern ein Medikament, das lebensgefährliche Risiken haben kann.
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Autorin: Chrstiane Cichy. Bearbeitung: Friedemann Zweynert. Copyright ARD-plusminus.
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Infosperber-DOSSIER:
Neue Verhütungspillen – Sie können die Lust schmälern und belasten Abwässer. Ein erhöhtes Thrombose-Risiko gibt es bei neusten Pillen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Warum setzen sich MEZIS (mein Essen zahle ich selbst) ÄRZTE gegen Korruption mehr durch. Es müssten die Patientinnen und Patienten nur regelmässig fragen, lieber Doktor, wo ist ihre Mitglied-Doku?