«Guter Kiff aus den Bergen»
Red. Walter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist. Im Oktober 2019 ist er mit dem Fahrrad und Interrail nach Spanien gereist und hat in Melilla die Grenze nach Marokko überquert. Er wird in den kommenden Wochen mit dem Fahrrad Marokko entdecken.
Zum ersten Mal stoppt mich die Royal Gendarmerie 50 Kilometer vor dem Tagesziel. Zwei junge Burschen, die recht freundlich wirken, kontrollieren meinen Reisepass und die Nummer, die ich an der Grenze in Beni-Enzar erhalten habe. Ab nun gibt es permanent Kontrollen. Und jedes Mal ist der Checkpoint besser gesichert. Am Stadteingang steht die Polizei in Vollmontur, das Gewehr im Anschlag, kugelsichere Weste, ein Schlagstock am Ledergurt. Die mobile Strassensperre mit zentimeterhohen, dicken Nägeln blockiert die Hälfte der breiten Strasse. Man ahnt nichts Gutes. Hier muss es ziemlich gefährlich sein, und hier kommt niemand durch, der den Beamten irgendwie verdächtig scheint.
Die Küstenstadt Al Hoceima: Vor drei Jahren Zentrum einer breiten Protestbewegung. (Bild: Walter Aeschimann)
Ich bin in Al Hoceima, einer marokkanischen Küstenstadt mit rund 55’000 Einwohnern. Sie liegt im Norden am Mittelmeer. Im Hinterland türmt sich das stark zerklüftete Rifgebirge auf. Im Stadtzentrum scheint das Leben wie in vielen kleinen Städtchen. Zwischen der Municipalité und dem Polizeikommissariat, rum um den Place Ifriquia, versprühen einige Banken eine gewisse Eleganz, ebenso Hotels in unterschiedlichen Preisklassen und Geschäfte internationaler Luxusmarken.
Die Rif-Region in Marokko mit der Stadt Al Hoceima (Google Earth)
In den Cafés sitzen Männer und schauen irgendein Fussballspiel, das fast überall aus einem Fernsehapparat flimmert. Oder sie sitzen draussen auf den Trottoirs, rauchen und trinken Tee. Frauen in Djellabas, dem traditionellen, bodenlangen Überwurf- und Kapuzenmantel mit langen Ärmeln, laufen mit Einkaufstaschen vorbei.
Markt in einer Seitenstrasse von Al Hoceima. (Bild: Walter Aeschimann)
Die Seitenstrassen und Hinterhöfe sind oft nicht mehr asphaltiert. Der optische Gegensatz ist nun gross. Ein Traktor, der Orangen zum Markt bringt, wirbelt eine Staubwolke auf. Eis, das feilgebotene Fische auf fahrbaren Verkaufsständen kühlt, schmilzt in der Sonne. Das Wasser tropft auf den Boden. Es bilden sich Wasserlachen. Auf dem Markt werden Früchte, Kleider, Gemüse oder Fladenbrote angeboten. Auch lebende Hühner und Kaninchen, die für den Käufer gleich vor Ort getötet werden. Der Abfall türmt sich auf, Hunde und Katzen wühlen darin herum. Es riecht streng. «Kein Foto», sagt der Mann am Hühnerstand, als er mich sieht. Die Menschen drängeln sich vor den Ständen. Ein Junge hilft mir Früchte einzukaufen, sonst wäre ich wohl lange nicht zum Zug gekommen.
Ein Todesfall vor drei Jahren
Man würde nun gerne wissen, warum diese massive Polizeipräsenz nötig ist für eine Stadt, deren Alltag weitgehend friedlich scheint. Aber das Gespräch ist schwierig. Die Menschen beäugen mich eher misstrauisch und reagieren distanziert. Die jungen Leute, mit denen ich eventuell Französisch oder Englisch sprechen könnte, gehen achtlos an mir vorbei. Sie tippen auf dem Handy und lauschen über kleine In-Ohr-Kopfhörer der Musik. Mit älteren Männern kann ich mich kaum verständigen. Sie sprechen Tarifit, eine in Marokko verbreitete Berbersprache, allenfalls gebrochen Spanisch. Kaum jemand spricht mich spontan an. Einzig die Reinigungsfachfrau im Hotel, die ausgezeichnet Französisch spricht, nimmt sich meiner an. Sie rät mir davon ab, ins Rifgebiet zu fahren, weil es zu gefährlich sei.
Der Grund für das massive Polizei-Aufgebot, sagt die Frau, liege drei Jahre zurück. Damals sei «etwas Schreckliches» passiert. Aber sie geht nicht auf Details ein. Einiges lese ich ergänzend im Internet nach. Am 28. Oktober 2016 starb in Al Hoceima der Fischhändler Mouhcine Fikri unter nicht restlos geklärten Umständen. Die Polizei hatte seinen Bestand von 500 Kilogramm Schwertfisch konfisziert und in den Müll geworfen. Der Händler sprang seinem Fang hinterher, wollte ihn retten und wurde dabei im Müllwagen zerquetscht.
Der Todesfall trieb die Menschen in Al Hoceima und den umliegenden Dörfern und Städtchen auf die Strasse. Sie demonstrierten vorerst gegen die willkürliche Polizeigewalt und weiteten die Forderungen aus – auf ein Spital, eine Universität, mehr Fabriken, damit die Menschen Arbeit haben. Das Zentrum der Protestbewegung war Al Hoceima. Doch die «Bewegung» (Arabisch: «Hirak») breitete sich aus und erreichte andere Städte im Rifgebirge. Schliesslich sympathisierte auch ein Teil der Zivilgesellschaft in den Zentren Rabat, Casablanca oder Marrakesch mit den Protestierenden. Sie forderten soziale Gerechtigkeit und die Freilassung politischer Gefangener. (Infosperber berichtete: «Anhaltende Unruhen in der Berber-Region»).
Weil die Regierung neue Proteste in Al Hoceima befürchtet, kontrolliert die Königliche Gendarmerie seit mehr als zwei Jahren die Stadt. Jeder renitente Ansatz soll im Keim erstickt werden. Der Respekt der Obrigkeit scheint nicht unbegründet. Das Gebiet mit seinen unzugänglichen Gebirgszügen und Tälern war schon immer ein Nährboden für die Rebellion. Hier proklamierten 1920 Berberstämme aus dem Rifgebiet die Rif-Republik und sagten sich von Spanisch-Marokko los. Dies führte zum Rifkrieg zwischen den Aufständischen der Rifregion und Legionären der Kolonialregierung. In der Schlacht von Annual erlitten die Spanischen Truppen am 21. Juli 1921 eine entscheidende Niederlage gegen die Guerillatruppen und zogen sich zurück. Auf dem Rückzug verseuchten sie das Gebiet gezielt mit Senfgas. Das Gebiet um Al Hoceima führt aufgrund der Senfgas-Verseuchung die marokkanische Lungenkrebsstatistik noch heute an.
Privatisiert, verkauft, geplündert
Bis heute ist die Region auch eine Projektionsfläche für das Recht auf Selbstbestimmung weiter Teile der Bevölkerung. Als Marokko 1956 unabhängig wurde, übernahm die neue Regierung die administrativen Strukturen des Kolonialregimes. Die Politik zur «Betonung ethnischer Differenzen» zwischen Berbern und Arabern wurde fortgeführt. Der König bestimmt die Politik mit den nationalen, urbanen arabischen Eliten. Die indigenen, nicht-arabischen Berberstämme wurden seit je benachteiligt, die politische Autonomie einzelner Regionen im Rif ging verloren. Nicht nur die Autonomie. Die Ländereien wurden teils privatisiert, zwangsenteignet, an ausländische Investoren verkauft. Das trieb viele Menschen in die Städte und ins Prekariat.
Die Strände seien privatisiert, draussen auf dem Meer würden europäische Fischereikonzerne die Jagdgründe plündern, sagt mein Vermieter in Oued Laou, einer kleinen Küstenstadt. Die Bevölkerung fühle sich vernachlässigt, übergangen und sich selbst überlassen, «wie die Kurden in Vorderasien». Den Vergleicht übernimmt er, weil am Fernsehen gerade die Berichterstattung über den Einmarsch der türkischen Truppen im Nordosten von Syrien läuft. «Ein Konflikt ohne Lösung», sagt er betrübt.
Den Eindruck einer verlassenen, benachteiligten Region gewinne ich auf der Fahrt zwischen Nador und Tetouan ebenfalls. Es gibt wunderschöne, einsame Strände, die mit den Cinque-Terre-Destinationen problemlos mithalten können, aber es gibt kaum eine Infrastruktur. Kilometerweit Niemandsland. Die Strände und Strandbuchten sind leer, trotz Temperaturen, bei denen man in unseren Breitengraden einen Hitze-Alarm reklamiert.
Auf schmalen Wegen unterwegs mit dem Esel. (Bild: Walter Aeschimann)
Verlassene Gegend: Viele Abschnitte entlang der marokkanischen Mittelmeerküste sind entvölkert. Infrastruktur ist kaum vorhanden. (Bilder Walter Aeschimann)
Ab und zu ist ein Zelt zu sehen, notdürftig aus Plastik- oder Stoffplanen hingestellt. Obdachlose Menschen, die ihr Leben hier verbringen. Tagsüber gehen sie auf den kleinen lokalen Markt im nahegelegenen Örtchen, um Reste zu erbitten. Offenbar muss es oberhalb der Hauptstrasse auch einige verstreute Häuser geben. Am Morgen kommen aus den Hügeln zwischen kümmerlichen Olivenbäumen und Gestrüpp Kinder auf schmalen Pfaden mit dem Schulsack auf den Rücken. Sie warten am Strassenrand auf den Schulbus, der sie ins nächste Dorf bringt. Ein kleiner Bub spielt Fussball auf grobem Sand in defekten Sandalen. Er übt Dribbelkünste und den Schuss aufs Tor.
Ist ein Haus mit «Hotel» angeschrieben, steht es verriegelt und zerfallen da. «Cerrado», geschlossen, sagt der Nachbar. Die Besitzer hätten es vor Jahren schon verlassen. Die Leute seien ausgewandert nach Europa. Es gebe kaum Touristen und keine Arbeit hier, glaube ich aus Sprachbrocken und der Gestik zu verstehen. Im Nu sind zwanzig junge und alte Männer da. Ich bitte den Knaben, der mir aus dem Blechverschlag eine Flasche Mineralwasser und zwei Mars-Riegel verkauft, den Preis auf ein Blatt Papier zu schreiben, bis ich merke, dass er die Zahl nicht zu notieren weiss – und mich beschämt.
Die Strasse Richtung Jebha führt durch zerklüftetes Gebiet: Auf 100 Kilometer sind rund 2000 Höhenmeter zu überwinden. (Bild: Walter Aeschimann)
Blick auf den Küstenort Jebha. (Bild: Walter Aeschimann)
Jebha ist ein kleiner Küstenort und liegt an der Route Al Hoceima nach Tetouan. Die Strasse ist zwar ausgezeichnet asphaltiert, aber recht ungemütlich zu befahren – nicht nur für Velofahrer. Sie windet sich in 15 Steigungsprozenten 400 Höhenmeter in die Berge, und fällt danach immer wieder steil Richtung Meer ab – und der nächste Aufstieg beginnt. Weil so auf 100 Kilometer gute 2000 Höhenmeter zusammenkommen, ist diese Route und der pittoreske Ort nicht besonders frequentiert. Ein anderer Velotourist sei letztes Jahr fünf Tage hiergeblieben, sagt der Mann im Hotel Rif. Der Ort lebt hauptsächlich vom Fischfang. Jeweils im Morgengrauen fahren grössere Fischkutter in den Hafen ein. Die Fischer ziehen die Netze auf den Pier, sondieren ihren Fang und flicken sofort die defekten Netze. Die Händler holen die Fische ab. Viele kaufen direkt vom Boot.
Zurück vom Fischfang: Vater und Sohn flicken im Hafen von Jebha die Netze. (Bild: Walter Aeschimann)
Als ich am späten Nachmittag im Ort ankomme, 120 Kilometer in den Beinen, ist das Cafe Akhato voll von Männern, die am TV-Apparat ein Fussballspiel der ersten spanischen Liga schauen – Real Madrid gegen irgendwen. Der Mann am Tresen bewegt sich kaum, als ich einen Minzentee bestellen will. Er sitzt auf dem Stuhl und schaut mich träumend an. Ein Junge ruft ihm etwas auf Arabisch zu, wahrscheinlich: «Los, bewege dich und bediene den Mann!». Auf jeden Fall quält er sich langsam hoch und bereitet mir den Tee zu. Wie üblich in Marokko mit frischen Minzeblättern und sehr viel Zucker. Wir schauen uns an, als er den Tee langsam über den Tresen schiebt und müssen beide lachen. Der Mann ist total zugekifft.
Einen Tag später schlendere ich über den Hauptplatz von Oued Laou, der Muezzin ruft zum Abendgebet in die Mosquée Pueblo. Ein Mann im FC-Barcelona-Leibchen flüstert mir «welcome good friend» zu. Ob ich rauche, fragt er mich, er habe «sehr guten Kiff aus den Bergen. Für wenig Geld». Ich rauche nicht, gebe ich ihm zu verstehen, würde aber gerne mehr erfahren über den «guten Kiff aus den Bergen». «Good friend» und «welcome» sagt der Mann und geht weiter.
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- 1. Teil des Reiseberichts: «No Fotos!»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.