Textilindustrie: Ausbeutung bleibt in Mode
Unmenschliche Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne, die kaum zum Leben reichen: Seit Jahren stehen Modekonzerne deswegen in der Kritik. Und seit Jahren bemüht die Branche dieselben Ausreden, gelobt Besserung und verweist auf freiwillige Massnahmen einzelner Unternehmen oder Brancheninitiativen, die für faire Löhne in den Zulieferfabriken sorgen sollen. Nur: In der Praxis sind diese Absichtserklärungen nichts wert. Ausbeutung bleibt in der Textilindustrie der Normalfall. Zu diesem Schluss kommen Public Eye und die Clean Clothes Campaign (CCC) in ihrem neuen Firmencheck 2019: «Existenzlöhne in der globalen Modebranche».
Die Organisation hat 45 internationale Modeunternehmen unter die Lupe genommen. Das Resultat ist ernüchternd: Kein einziges Unternehmen stellt sicher, dass alle Arbeiter in der Lieferkette einen Lohn erhalten, der zum Leben reicht. Nur zwei der befragten Unternehmen (Nile und Gucci) zahlen wenigstens einem Teil der Beschäftigten in der Produktion einen existenzsichernden Lohn (siehe Kasten).
Anteil der Arbeiterinnen in der Lieferkette*, die einen existenzsichernden Lohn erhalten:
0 Prozent: Adidas, Albiro, Aldi, Amazon, C&A, Calida Group, Chicorée, Coop, Decathlon, Esprit, Fruit of the Loom, Gap, G-Star RAW, H&M, Holy Fashion Group, Hugo Boss, Inditex, Intersport, KiK, Levi’s, Lidl, Mammut, Manor, Maus Frères, Migros, Nike, Odlo, Otto Group, Peek & Cloppenburg, PKZ, Primark, Puma, PVH, Remei AG, Sherpa Outdoor, Tally Weijl, Tchibo, Triumph, Under Armour, Uniqlo, Workfashion, Zalando, Zebra Fashion AG
Mindestens 25 Prozent: Gucci (für einige italienische Produktionen)
Mindestens 50 Prozent: Nile
* Mindestens auf Ebene der Konfektionierung
Laut Definition der Clean Clothes Campaign muss der Existenzlohn die Grundbedürfnisse einer Familie mit zwei Kindern abdecken. Und es sollte noch etwas Geld übrigbleiben für unvorhergesehene Ausgaben. Doch die meisten Beschäftigten in der globalen Modeindustrie erhalten gerade mal den lokal geltenden Mindestlohn. Der ist jedoch in den meisten Produktionsländern so niedrig, dass er kaum zum Leben reicht.
Freiwilligkeit reicht nicht
Neun Unternehmen, darunter C&A, H&M, Inditex, Mammut, Nile und Tchibo haben sich – zumindest auf dem Papier – verpflichtet, Existenzlöhne zu zahlen. Allerdings konnte «keine Firma eine messbare, transparente und glaubwürdige Strategie mit einem Aktionsplan vorweisen, um einen existenzsichernden Lohn zu erreichen», stellt der Bericht fest.
Einige Unternehmen (C&A, Esprit, H&M, Inditex, Tchibo, Primark, PVH, Zalando) beteiligen sich am freiwilligen Programm ACT, das die Löhne in der Textilindustrie durch nationale Branchen-Tarifverträge erhöhen will. Allerdings blieben die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Lieferanten bisher ergebnislos.
Coop, Migros, Manor, Calida Group, PKZ, Aldi, Lidl, Chicorée, Tally Weijl und zahlreiche andere Modeanbieter haben sich der freiwilligen Unternehmensinitiative amfori BSCI angeschlossen. Bei amfori BSCI wird der Existenzlohn als «erstrebenswertes Ziel» angesehen und nicht als unmittelbar umzusetzende Verpflichtung.
Die ernüchternde Schlussfolgerung des Firmenchecks 2019: Trotz vieler freiwilliger Einzel- und Brancheninitiativen hat sich in den letzten Jahren die Lohnsituation in den Kleiderfabriken der Billigproduktionsländer kaum verbessert. Dabei seien die Firmen oft eher Teil des Problems als der Lösung, stellen die Verfasser fest – «indem sie im Standortwettbewerb Fabriken und Produktionsländer gegeneinander ausspielen, sich nicht klar und öffentlich für höhere Löhne einsetzen und keine Garantien für faire Einkaufspreise abgeben». «Die Modekonzerne müssen endlich verbindliche Massnahmen hin zu Existenzlöhnen ergreifen», fordern Public Eye und Clean Clothes Campaign. «Ein Aktionsplan mit konkreten Zielsetzungen, rechtsverbindlichen Vereinbarungen und einem ambitionierten Zeitplan ist absolut überfällig.»
Übersicht über die Firmenbefragung 2019. (Quelle: Firmencheck 2019/Public Eye/CCC
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Und was würden diese Leute ohne diese Arbeitgeber machen?
@Alex Schneider
Wenn morgen die Schweizer Arbeitgeber beschliessen würden, den Angestellten in der Schweiz nur 10% ihres bisherigen Lohnes zu zahlen …
Würde sich in Ihren Hirnwindungen dann auch nur dieser Satz herausbilden können: «Können doch froh sein, weiterhin einen Arbeitsplatz zu haben. Besser 10% als gar nichts!"
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie sich soviel Zynismus und Menschenverachtung in einem Menschen herausbilden kann?
Ihr Argument hörte sich vor 200 Jahren – z.B. in den USA – so an: «Die Sklaven können froh sein, dass sie der Sklavenhalter einsetzt. Ohne ihn bliebe ihnen nur (noch mehr) Hunger und Elend.» Die Vorstellung, dass andere Menschen, auch wenn sie einem in ihrer Not und Ohnmacht komplett ausgeliefert sind, nicht ausbeutet bzw. den eigenen Luxus/Reichtum nicht auf deren Kosten weiter anhäuft, ist wohl zu ungeheuerlich als dass sie je den Weg in Ihren Verstand (und Herz) gefunden hat.
Was verlieren wir, wenn diese Menschen einen Lohn erhielten, mit dem sie sich, insbesondere aber auch ihre Kinder und greisen Eltern mit ausreichend Nahrung, sauberem Wasser, Schulbildung, einem Dach und Gesundheit versorgen könnten? Antwort: Ein bisschen unnötiger, blödsinniger und über die Jahre immer weiter gesteigerter Luxuskonsum.
Ein «Westler» kauft jährlich für 1000 Fr. Textilprodukte. Wenn 10 Arbeiter(innen) in der 3. Welt für deren Herstellung – auf Feldern und Fabriken – ca. 100 Stunden aufwenden, erhalten sie – bei einem Stundenlohn von 0.50 Fr. & 10-Stundentag – je 5 Fr (insgesamt 50 Fr., 5% des Verkaufspreises).
Verdreifachen wir den Stundenlohn – auf 1.50 Fr./Std.
Da der «Westler» weiterhin nur 1000 Fr. ausgeben kann, wird er die Menge reduzieren müssen. Ich höre: «Hilfe, Arbeitsplatzvernichtung! Kaufen wir weniger, verlieren sie ihre Arbeit und ihr Einkommen! Noch mehr Elend!"
Falsch!
Neu wird – mengenmässig – 10% weniger hergestellt. Wunderbar! Mehr Felder für Nahrungsmittel, weniger Verschmutzung … Ok, interessiert hier nicht. Wir sorgen uns um die Arbeitsplätze & das Einkommen der «armen Teufel da unten», oder? Rechnen:
10 Arbeiter(innen) müssen 10% weniger lang auf Feldern & in Fabriken arbeiten. Sie gehen – statt nach 10 – nun nach 9 Stunden nach Hause (um sich um Kinder usw. zu kümmern). Und ihr Einkommen:
9 Std. à 1.50 Fr. = 13.50 Fr./Tag! [zuvor 5 Fr.]
Höheres Einkommen bedeutet mehr Geld für Kinder, Pflegebedürftige … für Nahrungsmittel (die nicht mehr zu Spottpreise an uns, für Vieh, verkauft werden muss) … und für die lokale Wirtschaft ("mehr Arbeitsplätze!").
Mehr Arbeitsplätze & wichtiger noch: Weniger unmenschliche/ausbeuterische Arbeitsbedingungen!
Werden wir vor dem totalen planetarischen Kollaps unser makroökonomisch beschränktes Denken über Bord zu werfen?
was würden Sie tun, Herr Schneider, wenn Sie mit Ihrem Lohn Ihre Existenz nicht sichern könnten? Kündigen und woanders arbeiten?! Und weil es diese andere Stelle wohl nicht gibt, ist dieser Rat ziemlich zynisch.
Martin Eberli, Horw