Geht die Ära der starken Männer in der Türkei zu Ende?
«Ihr habt der ganzen Welt gezeigt, dass die Türkei die Demokratie zu schützen versteht», sagte Ekrem Imamoglu kurz nach seinem Wahlsieg zum Oberbürgermeister Istanbuls vor Journalisten und Anhängern sichtbar bewegt. Und: «Das ist kein Sieg, sondern ein Neuanfang». Von einer «Saga der Demokratie» sprach auch der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kemal Kilicdaroglu. Jene, «die an die Demokratie glauben und für die Demokratie eintreten, sind stolz auf Dich», gratulierte er Ekrem Imamoglu. Der CHP-Kandidat hat am Sonntag bei einer Wahlbeteiligung von rund 85 Prozent 55 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können. Dieses Resultat ist für die türkische Metropole am Bosporus absolut einmalig. Seither feiert die türkische Opposition und ein Grossteil der Zivilgesellschaft wie in Trance den «Sieg der Demokratie» und spricht von einer Zäsur in der Geschichte des Landes.
Herbe Niederlage für Erdogan
Soweit ist eines klar: Das Wahlresultat stellt eine demütigende, eine persönliche Niederlage für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dar. Die Wahlen wurden zu einem Referendum über diesen Politiker, der seine Karriere mit dem Versprechen nach «mehr Demokratie für alle» begonnen und sich allmählich zu einem Autokraten avanciert hatte. Erdogan wähnte sich am Zipfel seiner Macht, als er gegen den ausdrücklichen Willen des Kandidaten seiner Regierungspartei AKP Binali Yildirim die erste Bürgermeisterwahl in Istanbul am 31. März mit fragwürdigen Argumenten annullieren liess und eine Neuwahl für Istanbul verordnete. Noch konnte und wollte er offenbar nicht wahrhaben, dass seine seit 2002 regierende AKP-Partei die wichtigsten urbanen Orte des Landes, etwa die Hauptstadt Ankara und das Tourismuszentrum Antalya oder das industrielle Adana an die Opposition verloren hatte. Noch hoffte er, den Wind in Istanbul, in dem beinahe ein Fünftel der türkischen Gesamtbevölkerung lebt und ein Drittel des türkischen Wohlstands generiert wird, drehen zu können.
Das war wohl die grösste Fehlkalkulation seiner politischen Karriere. Die Istanbuler Wähler haben für den Kandidaten der Opposition Ekrem Imamoglu gestimmt und so den Mythos der Unbesiegbarkeit Erdogans zu Fall gebracht. Erdogan ist heute politisch schwächer und seine AKP gespaltener als je zuvor. Und die Opposition hat nach einer Serie von jahrzehntelangen, bitteren Niederlagen in Ekrem Imamoglu erstmals einen jungen, dynamischen Kandidaten, der mit seiner ruhigen und versöhnlichen Art breite soziale Schichten der Bevölkerung, darunter fromme Muslime und Kurden, anspricht und glaubhaft einen politischen Wandel auf demokratischem Weg verspricht.
Neuer Wind auch bei den Kurden der Türkei
Zu den Verlierern der Istanbuler Wahlen dürfte neben Erdogan aber auch der Kurdenführer Abdullah Öcalan gezählt werden. Der auf der Insel Imrali in Isolation festgehaltene Öcalan galt jahrzehntelang als die unumstrittene Kultfigur der kurdischen Nationalbewegung der Türkei, sein Wort war ihr Befehl. Das scheint nun nicht mehr der Fall zu sein.
Bereits die Wahlen im März hatten der Regierungspartei AKP sowie der Opposition CHP deutlich vor Augen geführt, dass die Stimmen der Kurden nicht mehr nur im «kurdischen» Südosten des Landes, sondern nun auch im türkischen Westen beim Wahlresultat das Zünglein an der Waage sind. Nur dank den kurdischen Wählern konnte die oppositionelle CHP die urbanen Zentren Ankara und Istanbul, Antalya und Adana für sich gewinnen.
Diese Erkenntnis hatte den Präsidenten offenbar zu einer plötzlichen Wende seiner Kurdenpolitik bewegt: um die Seelen der Istanbuler Kurden für sich zu gewinnen, liess Erdogan zunächst seinen Kandidaten Binali Yildirim öffentlich von einem «Kurdistan» sprechen und empfing dann den nordirakischen Kurdenführer Netschirwan Barsani als «Präsidenten» in Ankara. Schliesslich liess er im Einvernehmen mit seinen extrem-nationalistischen Alliierten den Besuch des Kurdenführers Öcalan in Imrali auch für Unbefugte, wie etwa dem eher unbekannten türkischen Soziologen Ali Kemal Özcan, zu.
Zwei Tage vor dem Urnengang erklärte dieser der Öffentlichkeit, dass Öcalan die Kurden zur «Neutralität bei diesen Wahlen» aufgerufen habe. Da regte sich offener Widerstand in den Reihen der kurdischen Politszene: Der Vorsitzende der links-liberalen, pro-kurdischen Partei HDP Selahhatin Demirtas verkündete, dass seine Partei unverändert den Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu unterstütze. Auch Grössen der PKK wie Mustafa Karasu oder der besonders einflussreiche Oberkommandierende der Rebellen Murat Karayilan meldeten sich plötzlich zu Wort und sprachen sich «für einen Sieg der Demokratie» aus. Dass Ekrem Imamoglu rund 730’000 mehr Stimmen als im März erhielt, zeigt, dass die kurdischen Wähler diesmal ihrem alten, starken Mann Öcalan keine Folge leisteten. Nie zuvor war ein Wunsch Öcalans innerhalb der kurdischen Nationalbewegung so offen ignoriert worden wie jetzt.
Abkehr von autoritären Strukturen
Die türkische politische Szene habe sich «unwiderruflich verändert, nichts wird mehr so sein wie zuvor», folgerte am Montag der bekannte türkische Kommentator Serkan Demirtas. Nach dem «Erdbeben vom 23. Juni» stünde Erdogan vor der Wahl, «eine Annäherung mit der oppositionellen CHP und somit wieder eine Demokratisierung zu wagen» oder sich weiterhin an der Allianz mit der rechtsextremen MHP und den dunklen nationalistischen Kräften zu klammern, urteilte das Internet-Portal Ahval in seinem Leitbericht. Im zweiten Fall würde die Kluft zwischen seiner Regierung und den Wählern allerdings nur noch grösser.
Tatsächlich zeugt der Aufstieg Imamoglus in Istanbul davon, dass die türkischen Wähler der Polarisierung der letzten Jahre leid sind und sich nach einer Versöhnung ihrer tief gespaltenen, heterogenen Gesellschaft sehnen. Dasselbe gilt auch für die Kurden der Türkei. Der ebenfalls inhaftierte Selahhatin Demirtas steht nicht für eine Spaltung der Türkei, sondern für ein friedliches Zusammenleben der Türken und Kurden. Der türkische Präsident Erdogan und der Kurdenführer Öcalan verkörperten jahrzehntelang die zwei starken Männer, die das Geschehen in der Türkei allein bestimmen konnten. Sollte Istanbul aber ein Mikrokosmos der Türkei sein, wie es so oft heisst, dann scheint die Wahl vom 23. Juni dieser Ära der starken Männer endgültig ein Ende gesetzt zu haben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Es gibt keine Interessenkollisionen.
Infosperber: «Ihr habt der ganzen Welt gezeigt, dass die Türkei die Demokratie zu schützen versteht», sagte Ekrem Imamoglu kurz nach seinem Wahlsieg…
Klingt das nicht nach Ukraine, Venezuela und überall, wo die USA ihre Marionetten installieren wollen zwecks Endsieg-Weltherrschaft (was sie seit über 150 Jahren, also schon während des Genozids bzw. Raubmords gegen die damaligen Bewohner Nord-/Mittelamerikas als ultimatives Geschäftsmodell erkannten)? Einen Erdogan, der das tut, was das in meinen Augen suizidale Europa maximal gegenteilig tut, nämlich tendenziell gegen die Nato und pro Russland, logischer- vernünftigerweise, müssten wir als Vorbild fördern statt niederhetzen.
Immerhin darf man Erdogan zu gute halten, dass er diese demokratische Entwicklung akzeptiert hat. Wir sollten nicht vergessen, dass der Jahrestag von Gallipoli in der Entwicklung der Beziehungen zw. der modernen Türkei und den ehemaligen Imperialmächten seine Bedeutung noch nicht ganz verloren hat. Ein demokratisches Istanbul ist auch für die Demokratien des christlichen Europas von Bedeutung.
Die Herrschaft gewaltig autoritärer patriarchalischer Machtmenschen, in Wort u. Tat, auch die Nachfrage und letzte Hoffnung von vielen aktiv verwirrten Menschen, feiert wieder fröhliche Urstände nach dem grossen Übervater; allüberall.
Der Wahlausgang in Istanbul war eher eine Singuralität (atypische Erscheinung),
eher eine Ausnahme, die die Regel bestätigt.