Zwei Verbände streiten sich
Die Gründung des Schweizerischen Psychotherapeuten-Verbandes (SPV) im Jahr 1979 war ein Novum im psychotherapeutischen Umfeld – und ein ehrgeiziges Projekt. Die Situation war unübersichtlich, die Rivalität unter den einzelnen Schulen und Institutionen gross. Einzelinteressen standen oft über jenen einer gemeinsamen Politik für den Berufsstand. In der Schweiz gab es zwar die Schweizerische Gesellschaft für Psychologie (SGP), die sich als Vertreterin der Psychologen und Psychotherapeuten betrachtete. Sie war in der Öffentlichkeit aber kaum präsent und vertrat vorab die Hochschulen. Ihre Arbeit war auf die akademische Forschung und deren klinische Anwendung ausgerichtet. Für die praktisch tätigen Psychotherapeuten, die Psychologie oder ein anderes sozialwissenschaftliches Grundstudium absolviert hatten, existierte kein eigener Verband.
Hingegen gab es eine Reihe von Gesellschaften, die sich auf ihre Schulen und Lehrmeinungen konzentrierten. Wichtige Institute waren die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse, das Psychoanalytische Seminar Zürich (PSZ), das Szondi-Institut, das C.G. Jung-Institut oder Schulen, die sich an den Theorien von Alfred Adler oder Carl Ransom Rogers orientierten. Sie waren oft in inhaltliche und ideologische Auseinandersetzungen verstrickt oder um die Schärfung der eigenen Konturen bemüht.
Institutionalisierte Standespolitik stösst auf Widerstand
Es zeigte sich, dass die Grundidee, alle psychotherapeutischen Anliegen in einem Dachverband zu ordnen, nicht realisiert werden konnte. Die SGP und ihre Repräsentanten – oft Hochschulprofessoren – sahen einen gesamtschweizerischen Verband als unnötige Konkurrenz. Auch das Psychoanalytische Seminar Zürich stand dem Anliegen skeptisch gegenüber. Damit fehlte jene Standesorganisation der Schweiz, die sich bisher – wenn auch nur am Rande – mit Belangen der Psychotherapie befasste. Und es stand jenes Institut abseits, das in Fachkreisen und in den Medien tonangebend gewesen war. Das PSZ, klassische Psychoanalytiker Freud’scher Prägung mit überwiegend ärztlichen Mitgliedern, hatte wenig Interesse an der Institutionalisierung und an berufspolitischen Aktivitäten. Ihre dominierenden Aktivisten verstanden sich als gesellschaftspolitische Avantgarde, die sich im Widerstand zur institutionalisierten Standespolitik verortete.
Dennoch bemühte sich der SPV in der Anfangszeit um eine Zusammenarbeit mit anderen Standesorganisationen. Als Erstes suchte er das Gespräch mit den Ärzten. Diese lehnten aber «jegliche Regelung der psychologischen Psychotherapie prinzipiell und ohne stichhaltige sachliche Begründung ab», heisst es im SPV-Jahresbericht von 1981. Sie seien nicht einmal bereit gewesen, sich auf fachliche Gespräche mit dem SPV einzulassen. An die Sitzungen hätten sie Juristen geschickt, «deren erstes Ziel es war, keine Veränderungen der Gesetzeslage zuzulassen».
Dominanz der Ärzte
Dass sich ein Verband für die nichtärztlichen Psychotherapeuten engagierte, missfiel dem Ärztestand. Denn wichtige Bestimmungen in den Bundes- und Kantonsverfassungen sind ganz auf die Dominanz der Ärzte ausgerichtet. Das ist historisch zu betrachten. Moderne Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit wurden mit der Entwicklung der Industriegesellschaft immer stärker auf die Arbeitsfähigkeit bezogen. In Verbindung mit der Pflicht zur Arbeit entstand eine Pflicht zur Gesundheit. In diesem Prozess gelang es gewissen Berufsgruppen, vorab den Ärzten, eine dominierende Stellung der Heilenden über die Heilsuchenden zu erlangen. Diese Dominanz nutzten sie, um wichtige Normen im Gesundheitswesen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Davon war auch die Psychotherapie betroffen. In der Schweiz sind Ärzte berechtigt, ohne Spezialbewilligung in allen medizinischen Disziplinen zu praktizieren. Das ist im Eidgenössischen Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Medizinalpersonen von1877 geregelt. Ärzte dürfen auch ohne spezifische Qualifikation psychotherapieren. In der Regel werden sie dafür von den Krankenkassen entschädigt. Psychotherapie war bis weit in die 1960er-Jahre weitgehend als ärztliche Tätigkeit bekannt. Diese Pfründe galt es zu verteidigen.
Einigung auf gegenseitige Akzeptanz
Der SPV suchte nach der missglückten Annäherung an den Ärztestand auch die Kooperation mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychologie (SGP), die sich bisher wenig um die praktisch tätigen Psychotherapeuten und -therapeutinnen gekümmert hatte. Verschiedene Modelle für eine gemeinsame Dachorganisation scheiterten. Schliesslich einigte man sich auf eine gegenseitige Akzeptanz und unterzeichnete am 21. November 1986 ein Papier, das mit «Vereinbarung» überschrieben war. Darin regelten SPV, SGP, der Verband Berner Psychologen und die Schweizerische Vereinigung Klinischer Psychologinnen und Psychologen die entsprechenden Zuständigkeiten. Die Schlüsselpassage lautet:
«Die Initianten der FSP und die SGP betrachten den SPV als den repräsentativen Vertreter der Schweizer Psychotherapeuten. Der SPV anerkennt die FSP, und bis zu deren Gründung die SGP mit ihren Kollektivmitgliedern, als den Repräsentanten der Schweizer Psychologen.»
In der «Vereinbarung» einigten sich Verbände und Gruppierungen von Psychologen und Psychotherapeuten auf gegenseitige Akzeptanz.
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Die «Vereinbarung» scheiterte. Die SGP dachte nicht daran, die Abmachung einzuhalten. Sie wurde vielmehr durch die Aktivitäten des SPV aufgeschreckt. Sie hatte eingesehen, dass ihre Gesellschaft nicht zu retten war, wenn sie sich weiterhin nur mit akademischen und universitären Fragen beschäftigte. Sie sollte sich in den kommenden politischen Debatten – die Zulassung der nichtärztlichen Psychotherapie in die Grundversicherung der Krankenkassen und die Ausgestaltung gesetzlicher Normen in der Bundesverfassung – politisch Gehör verschaffen. Das bedeutete, dass sie sich neu strukturieren und dynamischer werden musste. Am Ende des Prozesses löste sich die SGP auf und gründete 1987 einen neuen Verband. Er nannte sich «Föderation der Schweizer Psychologen» (FSP). Die FSP trat nun als Standesvertretung der Psychologen und Psychotherapeuten auf. Sie hatte die institutionelle Macht auf ihrer Seite und eine grössere Anzahl von Mitgliedern als der SPV. Sie legte jedoch nicht offen, wie viele als Psychotherapeuten tätig waren.
Zwei Verbände und eine unüberbrückbare Differenz
Ab nun gab es zwei Verbände, die für sich in Anspruch nahmen, die nichtärztlichen Psychotherapeuten zu vertreten. Obwohl die beiden Verbände einige gemeinsame Interessen hatten, gab es einen wesentlichen Unterschied:
- Die FSP vertrat neben den Psychologen nur jene Psychotherapeuten, die an einer Universität das Hauptfach Psychologie abgeschlossen hatten. Und sie vertrat weiterhin die Interessen der Akademie.
- Der SPV liess von Anfang an bewusst auch Mitglieder zu, die als Grundausbildung neben Psychologie noch andere human- oder sozialwissenschaftliche Hauptfächer abgeschlossen hatten.
Diese Differenz war nicht auszuräumen, nicht verhandelbar und führte zunehmend zu beidseitigen Verhärtungen. Der Konflikt manifestierte sich vorab in den kommenden politischen Debatten – gesetzliche Normen auf Bundesebene oder die Aufnahme in die Grundversicherung des Krankenversicherungsgesetzes.
Juristische Anerkennung als wissenschaftlicher Beruf
Bis es so weit war, hatte der SPV einige Gerichtsgänge auszufechten. Schon im Gründungsjahr richtete SPV-Präsident Heinrich Balmer ein Schreiben an Bundesrat Hans Hürlimann, den Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern. Er forderte: «Es sei der nichtärztliche Psychotherapeut in selbständiger Stellung in das KUVG aufzunehmen und die Behandlung durch einen Psychotherapeuten als krankenpflegeversicherungspflichtig zu statuieren.» Parallel zur politischen Intervention liess der SPV die Stellung der nichtärztlichen Psychotherapie auch von den Gerichten neu beurteilen.
Insbesondere wurde das Bundesgesetz von 1877 über die Freizügigkeit des Medizinalpersonals hinterfragt. Gemäss diesem Gesetz waren nichtärztliche Psychotherapeuten nicht zur selbständigen Ausübung im Sinne eines universitären Medizinalberufes zugelassen. Im Jahr 1979 verbuchte der SPV einen Teilerfolg. Das Bundesgericht in Lausanne anerkannte die Berufe Psychotherapeut und Psychologe als wissenschaftliche Berufe gemäss Art. 33 der Bundesverfassung – wie Arzt oder Apotheker. Damit hatte Psychotherapie als selbständiger wissenschaftlicher Beruf in der Schweiz eine juristische Legitimation erhalten. Voraussetzung war eine Hochschulbildung, in erster Linie Psychologie, aber auch eine «gleichwertige Vorbildung».
Streit um nichtärztliche Psychotherapie
Es zeigte sich jedoch bald, dass mit diesem Urteil im Grunde nicht viel gewonnen war. Die bundesgerichtliche Anerkennung des Berufsstandes bedeutete nicht automatisch eine Anerkennung durch die Kassen. Die Kassen waren nicht gewillt, die selbständige psychotherapeutische Tätigkeit von Nichtärzten freiwillig in ihren Leistungskatalog aufzunehmen. Das Verdikt des Bundesgerichts bedeutete auch nicht, dass die Kantone nun verpflichtet gewesen wären, entsprechende Gesetze zu erlassen. Der Föderalismus erlaubte ihnen vielmehr, die Psychotherapie nochmals neu zu definieren. So entstand in jedem Kanton ein anderes Gesetz.
Teilweise widersprachen die kantonalen Gesetze sogar den Grundrechten, die in der Bundesverfassung festgeschrieben waren. Der Kanton Waadt etwa hatte 1985 ein Gesetz erlassen, dass nur Ärzte den physischen und psychischen Zustand von Personen beurteilen können. Demnach hätten nichtärztliche Psychotherapeuten ihre Tätigkeit nur auf «Anordnung eines Arztes» – also eines Mediziners oder Psychiaters – ausüben können. Das widersprach der Handels- und Gewerbefreiheit in der Schweiz. Der SPV erhob Beschwerde. Das Bundesgericht gab den Psychotherapeuten in diesem Punkt Recht. Es hielt fest, dass ein nichtärztlicher Psychotherapeut nicht einem Arzt untergeordnet werden dürfe.
Weil die Psychotherapie bis weit in die 1960er-Jahre eher dem Bürgertum vorbehalten war, spielte die fehlende – damals noch nicht obligatorische – Zugehörigkeit zu einer Krankenkasse vorerst keine zentrale Rolle. Diese Klientel konnte und wollte sich eine Psychotherapie leisten. Es bestand auch kein zwingender Bedarf, die nichtärztliche Psychotherapie zu definieren. Man war etwa Psycho- oder Daseinsanalytiker, nicht aber Psychotherapeut. Die Kundschaft suchte sich jeweils eine Richtung aus, die ihrem Bedürfnis entsprach. Mit dem «Psychoboom» nach der 68er-Bewegung, der Popularisierung der Psychotherapie, aber auch mit den gesellschaftlichen Verwerfungen dieser Zeit kamen immer mehr Menschen mit psychischen Problemen hinzu, die sich eine Psychotherapie nicht leisten konnten. Darunter etwa drogenabhängige Jugendliche, politisch Gestrandete oder Flüchtlinge aus den Diktaturen Südamerikas.
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Serie zur Entwicklung der Psychotherapie
In mehreren Folgen beleuchtet Infosperber die Geschichte der Psychotherapie. Alle Beiträge finden Sie im
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann ist Historiker und Publizist. Er hat im Auftrag der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) zu deren 40-jährigem Jubiläum eine historische Schrift zur Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz verfasst. Walter Aeschimann: Psychotherapie in der Schweiz. Vom Ringen um die Anerkennung eines Berufsstandes. Jubiläumsschrift 40 Jahre ASP. Zürich 2019.
Es ist ja logisch: wie es der Autor schreibt: es geht «um Pfründe» . Dass die Ärzte – von denen die Meisten keine seriöse Psychotherapie-Ausbildung haben – ihren «Brocken» nicht leicht fahren lassen, ist verständlich. Aber ihr Widerstand schadet nur den Tausenden, die ihre – Symptom-provozierenden oder nicht – ernsten Lebensprobleme mit Leuten vom Fach durcharbeiten möchten bevor sie «Psychiatrie-reif» werden – und nicht genügend von den KK bezahlten Spezialisten finden .