«Ein stiller Tsunami»: UN warnt vor resistenten Keimen
Ende April haben die Vereinten Nationen erneut vor resistenten Keimen gewarnt. Die Ad-Hoc-Koordinierungsgruppe für antimikrobielle Resistenzen (IACG) forderte in einer Studie alle Mitgliedsstaaten auf, den Zugang zu Antimikrobiotika sicherzustellen, Impfungen sowie neue Antimikrobiotika zu entwickeln. Dazu gehören Antibiotika gegen Bakterien sowie Antimykotika gegen Pilze und pathogene Hefen.
Die IACG fordert in erster Linie, keine Antibiotika mehr für die Tiermast zu verwenden. Binnen einer Generation, sagte der Direktor der Gruppe, Haileyesus Getahun, gegenüber der «New York Times» (NYT), könnten Resistenzen sonst katastrophale Folgen haben.
Die IACG weist darauf hin, dass Resistenzbildung ein globaler Notstand ist. Der sorglose Umgang mit Antibiotika sowie Fungiziden und vor allem deren überreichlicher Einsatz in Landwirtschaft und Tierzucht verstärkt eine Krise, die bereits besteht. 700’000 Menschen sterben bereits jetzt jedes Jahr an Infektionen unempfindlicher Erreger, 230’000 davon an resistenten Tuberkuloseformen.
Geschieht weiter nichts, könnten nach Schätzungen von Fachleuten bis 2050 jedes Jahr zehn Millionen Menschen an von resistenten Organismen hervorgerufenen Krankheiten sterben. Zu tun gäbe es also genug: Arme Länder werden zu wenig unterstützt, es kommen zu wenig neue Antimikrobiotika auf den Markt und in der Tierhaltung werden noch immer zu viele Antibiotika verwendet, fasst der Report zusammen.
Es fehlt das Bewusstsein für eine Krise
Zur wachsenden Zahl resistenter Organismen gehören nicht nur die gefürchteten Krankenhausbakterien, die auf Antibiotika nicht mehr reagieren, sondern auch andere Mikroorganismen, die Mensch, Tier und Pflanze befallen («Infosperber» berichtete beispielsweis über den Pilz Candida Auris: «Resistenter Hefepilz verbreitet sich rasant»).
Allerdings fehle das politische Momentum, das in anderen globalen Gesundheitskrisen gegriffen habe, bemängelt Getahun. Dabei gäbe es genügend Gründe, alarmiert zu sein. «Dies ist ein stiller Tsunami», sagt er. «Wenn wir jetzt nicht handeln, werden Antibiotikaresistenzen innerhalb einer Generation verheerende Auswirkungen haben.» Routineangelegenheiten wie Gelenkoperationen oder Geburten könnten so zu riskanten Eingriffen werden.
Vor diesem Hintergrund ist die lange Liste der Vorschläge zu sehen, die die Gruppe macht. Zu ihren Empfehlungen gehören ein weltweites Verbot von Antibiotika zur Wachstumsförderung in der Tiermast, finanzielle Anreize für Arzneimittelhersteller, um schnell neue antimikrobielle Wirkstoffe zu entwickeln, und strengere Vorschriften beim Verkauf von Antibiotika in Ländern, in denen Arzneimittel rezeptfrei erhältlich sind.
Auch bei der Datenbasis seien Verbesserungen nötig. Denn die Art der Verbreitung resistenter Stämme sei noch immer schlecht nachvollziehbar. Von 146 Ländern, die für den Report angefragt worden waren, hatten 39 keine Daten darüber, wieviel Antibiotika an Nutztiere verabreicht werden.
Zu viele Medikamente im Stall
Gerade dort liegt aber die Quelle der meisten Resistenzen. Antibiotika werden teilweise noch immer mit dem einzigen Ziel gegeben, die Tiere schneller wachsen zu lassen. Ein Vorteil am Markt, auf den die auf Menge ausgelegten Tierfabriken nicht verzichten wollen. Und selbst wenn, gäbe es genügend zu beanstanden. Wird ein Tier krank, bekommen alle anderen in Reichweite dasselbe Medikament. «In Reichweite» kann durchaus mehrere hundert oder tausend Tiere umfassen. Die vorbeugende Gabe von Antibiotika ist zwar vielerorts nicht erlaubt, oft jedoch gängige Praxis.
In der Schweiz wurde bisher nur die Menge der für Nutz- und Haustiere verkauften Antibiotika vom Veterinäramt statistisch erfasst. Seit Anfang 2019 gibt es eine Datenbank, mit deren Hilfe auch die von Tierärzten tatsächlich verschriebenen Mengen erfasst werden sollen.
Dank erhöhter Aufmerksamkeit gehen die verkauften Antibiotikamengen zurück, wobei bei der Bewertung von Kilogrammangaben Vorsicht geboten ist. Neuere Antibiotika sind wirksamer als ältere und werden in kleineren Mengen verabreicht. Und auch in der Schweiz wird Colistin verkauft, ein Antibiotikum, das nach Meinung der Weltgesundheitsorganisation WHO als Reserveantibiotikum Menschen vorbehalten sein sollte (siehe auch «Infosperber»: («NDM1, MCR1 und woran wir alle draufgehen könnten»).
Die Menge in der Schweiz für Nutztiere verkaufter Antibiotika nimmt erfreulicherweise ab. Dennoch ist mit den nackten Zahlen Vorsicht geboten, denn neuere Antibiotika sind wirksamer als alte. (BLV, Bericht über den Vertrieb von Antibiotika in der Veterinärmedizin in der Schweiz 2017)
Alle zwei Jahre gibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den «Swiss Antibiotics Resistance Report» heraus. Der letzte stammt von 2018 und stellt fest, dass die Resistenzbildung auf bestimmte Antibiotika wie Ciprofloxacin bei Geflügel und Streptomycin bei Schweinen stark zugenommen hat. Die Anzahl von Infektionen durch resistente Bakterien in der Humanmedizin nimmt ebenfalls zu.
Forschung: wenig Gewinn, wenig Gesundheit
Ein wesentliches Ziel ist die Entwicklung neuer Antimikrobiotika. In den letzten Jahrzehnten kamen immer weniger auf den Markt. Wurden zwischen 1980 und 1984 weltweit noch 19 antimikrobielle Medikamente neu zugelassen, seien es zwischen 2000 und 2014 nur noch sechs gewesen, schreibt die «New York Times».
Grund dafür ist ihre fehlende Vermarktbarkeit. Neue Antimikrobiotika sollen Menschen möglichst sparsam und Tieren überhaupt nicht verordnet werden, damit sich nicht allzu schnell wieder Resistenzen entwickeln. Für ein Pharmaunternehmen, das eine halbe Milliarde Dollar in die Entwicklung eines Antimikrobiotikums steckt, sei es bei vernünftiger Handhabung des Medikaments unmöglich, die Kosten zu decken. Die US-Biotech-Firma Achaogen beispielsweise meldete nur zehn Monate nach Zulassung ihres neuen Antibiotikums Bankrott an, weil sie damit zu wenig Umsatz machte. Das berichtete das «Echo der Zeit» am 2. Mai. Es ist allerdings unklar, weshalb die Behörden nicht höhere Preise bewilligen, wie sie dies bei Medikamenten für seltene Krankheiten tun.
Die Politik müsse jedenfalls eingreifen, fordern Experten schon länger. Nach Berechnungen der Weltbank würde sich das volkswirtschaftlich schnell rechnen, denn der Kampf gegen Resistenzen koste bereits neun Milliarden Dollar pro Jahr, Tendenz steigend.
Resistenzen kennen keine Grenzen
Bisher, findet Lance Price, Direktor des «Antibiotic Resistance Action Center» an der George Washington Universität, fürchteten sich die Menschen einfach nicht genug. Angst, sagte er der NYT, sei der Schlüssel zur Veränderung des Status quo. Man müsse Menschen wissen lassen, dass das Problem näher sei, als sie denken. Selbst wenn man sich nicht um Menschen kümmere, die unsauberes Wasser trinken müssen und Infektionen bekommen, müsse man realisieren, dass Resistenzen keine Grenzen kennen.
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«Zu den Verursachern resistenter Keime gehört ausgerechnet auch Novartis»
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Weiter Informationen im DOSSIER:
«Wenn Antibiotika nicht mehr wirken»
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