Anders Reisen: Auf dem Velo nach Rom, Teil II
red. Mit der Serie «Anders Reisen» zeigt Infosperber, wie sich die Konflikte zwischen wachsendem Reisekonsum, Umweltbelastung und Klimawandel entschärfen lassen. Heute mit dem zweiten Teil der Reportage über eine Veloreise nach Rom und einem Nachwort über das, was sich seit 1991 verändert hat.
Der schiefe Turm, der in der Ferne aus der grüne Wiese ragt, bestätigt es: Ich nähere mich Pisa. Doch ich lasse die Stadt links liegen, denn in Pisa war ich schon früher. Pisa kennen Sie wohl auch, ebenso wie die berühmten Städte Florenz, Siena oder Volterra. Aber kennen Sie Castellina Marittima?
In den Hügeln der Toscana
Castellina M. liegt abseits des motorisierten Fremdenverkehrs, im Hinterland der Hafenstadt Livorno. In diesem Ort hat es ein Hotel, wo der Radfahrer als einziger Gast einkehrt, einige hundert EinwohnerInnen und einen vieleckigen Dorfplatz, der nicht auf dem Reissbrett entstanden sein kann, den die Familien wohl willkürlich formten, als sie hier vor vielen Jahren die ersten Häuser aufstellten.
Berühmt ist er nicht, dieser Platz. Aber er stimmt, denke ich, während ich vor der Bar sitze, nach getaner Tretarbeit zufrieden ein Bier trinke, den Frauen zuschaue, die von einem der kleinen Lebensmittel-Läden zum nächsten pendeln, dazwischen einen Schwatz einschalten, bevor sie mit vollen Taschen in alle Richtungen heimwärts streben. Die Männer schwatzen auch, aber sie kaufen nicht ein, stehen nur herum, gestikulieren. Das ganze Leben in diesem Dorf dreht sich jetzt, während es einnachtet, um diesen einen, einzigen Platz.
Einige Stunden vorher, kurz nach Pisa, habe ich die lärmige Lastwagenpiste Via Aurelia auf Nimmerwiedersehen verlassen, bin eingedrungen in die Hügel der Toscana. Die wenig befahrene Route über Fauglia und St.Luce hinauf nach Castellina lässt keinen Gupf und keine Senke aus. Eine Route zum Schauen: Im Südwesten spiegelte das Meer. Sogar die rauchenden Kamine der Industriezone von Rosignano Solvay wirkten idyllisch im orangen Gegenlicht der sinkenden Sonne.
Eile und Weile des Radtouristen
Die Hügel der Toscana bremsen den anfänglichen Drang nach Süden, lassen so etwas wie Ferienstimmung aufkommen. Ferienstimmung? Ist das denn keine Ferienreise? Ist nicht der Weg das Ziel, die Weile die Chance des Radtouristen? Gewiss, im Gegensatz zum schnellen Auto erlaubt mir das Velo als Verkehrsmittel, mich dem fremden Land langsam anzunähern, die Landschaft länger und intensiver zu erfahren. Aber Hektik und Leistungsprinzip, welche das Alltags- und Arbeitsleben prägen, lassen sich auf dem Velo nicht so leicht abschütteln. Zielstrebigkeit treibt mich vorwärts, Rom-wärts. Wer weilen will, muss das Ziel aus den Augen verlieren.
Hektik und Idylle auf der Veloreise nach Rom, gezeichnet von Bruno Dünner.
Immerhin, am vierten Tag begnüge ich mich mit einer Strecke von weniger als 90 Kilometer, radle von Castellina aus durch das Hinterland der Maremma Pisana nach Massa Marittima. Die meisten Reiseführer der Toscana widmen dieser Region nur wenige Zeilen. Offenbar fehlt es an kulturellen Sehenswürdigkeiten. Für Radfahrende aber ist die Gegend ein Paradies. Auf den Nebenstrassen, die sich durch die hügelige Landschaft winden, hat es kaum Verkehr. Die Aufstiege sind selten steil und nie sehr lang. Die Vegetation ist vielfältig; Wälder, Hecken, Felder, Flussauen und verbuschte Wiesen wechseln ab in bunter Folge.
Bald nach Canneto, in den Colline Metallifere, tauchen die ersten beiden Kühltürme auf. Bei Larderello steigen sogar vier Dampffahnen nebeneinander in den Himmel. Nein, hier wird nicht Atomkraft, sondern Erdwärme verstromt. Davon zeugen lange chromglänzende Leitungen, die das Land wie ein Spinngewebe überziehen. Sie transportieren das heisse, dem Boden entweichende Wasser von den Quellen über Berg und Tal zu den Kraftwerkzentralen. Zuweilen hängt ein starker Schwefelgeruch in der Luft.
Die alte Stadt Massa Marittima liegt auf einem Hügel 400 Meter über und 20 Kilometer entfernt vom Meer. Hier kann man den Dom, die wunderschöne Piazza Garibaldi und in der näheren Umgebung velofahrende Schweizerinnen und Schweizer besichtigen. Viele von ihnen wohnen in der Pension von Ernesto Hutmacher. Der ehemalige Schweizer Amateur-Rennfahrer hat sich vor einigen Jahren in die Toscana zurückgezogen und bietet hier, teils in Zusammenarbeit mit einem Luzerner Reisebüro, Veloferien an.
Fahren in der Grauzone
Vor mir liegt jetzt ein Teil Italiens, den ich in meinem Leben noch nie bereist habe, sozusagen der weisse Fleck auf der inneren Landkarte. Oder eine Grauzone, erkenne ich, während ich am Morgen in den wolkenverhangenen Himmel blicke. Auf den ersten Kilometern hinunter in die einst versumpfte Ebene der Maremma hält Petrus sein Wasser noch zurück, doch die Wolken drohen und beschleunigen den Tritt. Kurz vor Grosseto, das ich nordöstlich umfahre, fallen die ersten schweren Tropfen.
Regen ist für den Velofahrer ein Graus, solange er trocken ist. Doch die Trockenheit schwindet schnell, denn die Tropfen verwandeln sich alsbald zu Bindfäden, und die Bindfäden klatschen mir wie kleine Wasserfälle entgegen. Bis ich das nächste Dorf erreiche, sind meine Kleider völlig durchnässt. Zum Rasten ist es jetzt zu spät. Will ich mich nicht erkälten, muss ich weitertrampen, den Körper mit der Abwärme warm halten, die aus dem mechanischen Einsatz der leibeigenen Energie entsteht.
Glücklicherweise steigt die Strasse von Grosseto nach Scansano im Landesinnern kontinuierlich an; die Wärme, die der Körper entwickelt, überwiegt die Kühlung der von aussen eindringenden Nässe. Bald fühle ich mich wie ein Fisch im Thermalbad.
Das Glück bleibt mir treu. Oben in Scansano bricht die Sonne durch die Wolken, taucht die kargen toskanischen Kreten in ein verwunschenes Licht, wärmt und trocknet die Luft. Und die trockene Luft trocknet meine Kleider, während ich als lebende Wäscheleine in eines der vielen Flusstäler hinuntersegle, die das italienische Festland Richtung Meer entwässern. Nach einer letzten Gegensteigung erreiche ich mein Etappenziel Manciano regentrocken, aber schweissnass.
Warmes Naturwasser in atomfreier Zone
Hier, im Grenzgebiet von Toscano und Lazio, bin ich sicher vor Atomgefahr: «Zona denuclearizzata», verspricht mir eine Tafel am Strassenrand, was als politische Anspielung zu verstehen ist. Denn etwa 30 Kilometer südlich, in Montalto di Castro, hat der Staatliche Elektrokonzern ENEL seine grösste «Centrale Nucleare Elettrica» gebaut. Tschernobyl aber brachte 1986 das Aus für die italienischen Kernenergiepläne. Der Atommeiler von Montalto wird nun zu einem Oel- und Gaskraftwerk umgerüstet. Die Sonnenstrom-Erzeugung hingegen fristet im Sonnenland Italien weiterhin ein Schattendasein (heute, 28 Jahre später, gibt es in Italien auf brachliegendem Land viele Freiland-, aber leider nur wenige gebäudeintegrierte Fotovoltaik-Anlagen).
Das Kretenstädtchen Manciano besitzt eine touristische Fussnote. Die heisst «Terme die Saturnia» und befindet sich unten im weitverzweigten Tal der Albegna. Weil mich meine Freunde in Rom erst am siebten Tag erwarten, lege ich hier einen Ruhetag ein. Das schweflige Wasser, das mit einer Temperatur von 37,5 Grad aus dem Boden quillt und das Schwimmbassin eines Kurzentrums füllt, lockert die Muskeln.
Im Wechselbad der Gefühle
Velofahren ist vielfältig, habe ich im ersten Teil meiner Reportage geschrieben. Aber auch einfältig. Die wohl einfältigste Sportart, wenn man den Bewegungsablauf als Massstab nimmt: Trampen. Nur trampen. 90 Umdrehungen pro Minuten mit jedem Bein, 5400 pro Stunde, etwa 130 000 Umdrehungen auf der coupierten Strecke von Chiasso nach Manciano. Immer nur trampen. Ohne Abweichung im Radius. Einzig der Rhythmus wechselt zuweilen, vom Wirbeln zum Würgen, vom runden Drehen zum eckigen Stampfen.
Der simplen Bewegung zum Trotz führt die Velofahrt durch ein Wechselbad der Gefühle. Ich spüre die Lust, wenn die Kraft aus dem Bauch in die Beine fährt. Ich empfinde die Monotonie, wenn der Kopf auf endlosen Strecken jede Pedaldrehung – eins-zwei eins-zwei eins-zwei – stumpfsinnig nachvollzieht. Ich erlebe die Reisen der Gedanken, wenn es dem Geist gelingt, sich von der Bewegung und Umgebung zu lösen. Die Niederlage des körperlichen Einbruchs. Oder die Euphorie, wenn oben auf der Passhöhe, nach einem schnellen Aufstieg ohne Einbruch, der Puls von l50 allmählich auf 80 Schläge zurückfällt. Die Sehn-Sucht, fortzufahren, weiterzufahren, endlos weiter zu fahren, mischt sich immer wieder mit dem ungeduldigen Drang, anzukommen.
Mit Flügel an den Beinen
Die Tafel mit der Aufschrift Rom weist nach Süden, wo sich am frühen Morgen dunkle Wolken ballen. Deshalb verlasse ich Manciano ostwärts. Nach einer halben Stunde Berg- und Talfahrt tauchen am Horizont die Umrisse eines mittelalterlichen Städtchens auf. Noch einen Kilometer, denke ich, da öffnet sich eine tiefe Schlucht. Die Stadt Pitigliano steht auf der andern Seite des Flusses, auf einem Felsen, der senkrecht hundert Meter in die Höhe steigt. Ein märchenhafter Anblick von unten – und ein grandioser Rundblick später von oben.
Von Pitigliano aus steigt die Strasse weiter, überquert die Grenze nach Lazio und dreht dann Richtung Süden. Von der Krete aus fällt der Blick auf den kugelrunden Lago di Bolsena, der sich im Krater eines ehemaligen Vulkans ausbreitet.
Von den Menschen soll ich erzählen denen ich unterwegs begegne, werden mich später die Freunde daheim auffordern. Es gibt darüber wenig zu berichten. Wenn ich mit dem Velo reise, jeden Tag weiter reise, flüchte ich vor Begegnungen, bleiben nur flüchtige Kontakte, und die sind kaum der Rede wert. Das Velo ist ein individuelles, vielleicht sogar ein asoziales Verkehrsmittel. Selbst wenn man zu zweit oder in der Gruppe reist, sind Gespräche während der Fahrt schwierig. Wer die Einsamkeit sucht, kann sie auf dem Velo finden.
In Vetralla erreiche ich die Via Cassia, die Hauptverbindung zwischen Siena und Rom. Der dichte Verkehr treibt mich aber schnell wieder auf Nebenstrassen, hinauf in die stillen Monti Cimini. Hier lädt der kühle Lago di Vico den verschwitzten Radtouristen zum Bade, bevor er seinen Bauch am Mittagstisch mit den obligaten Spaghetti füllt. Essen ist auf Velotouren doppelt schön, weil die Anstrengung erstens Appetit macht und zweitens das angefressene Fett sofort wieder verbrennt.
Erquickt und gestärkt pedale ich am Nachmittag über Campagnano und Sacrofano Rom entgegen. Das Ziel ist in Sicht. Eine unbändige Freude erfasst mich auf den letzten Kilometern. Mit Flügeln an den Beinen schwebe ich in der ewigen Stadt ein.
Rom erreicht, Foto verwackelt: Das Reisegefährt des Autors 1990 vor dem Petersdom, (Bild: hpg.)
Am Ziel ein kleiner Energievergleich
Auf dem Weg von Chiasso nach Rom habe ich 800 Kilometer zurückgelegt und dafür sieben Tage gebraucht. Wer unterwegs länger rasten und mehr besichtigen will, kann sich dafür auch 14 Tage Zeit nehmen. Wer es sehr eilig hat und gut trainiert ist, schafft’s in fünf Tagen. Im Auto lässt sich die Strecke in einem Tag zurücklegen, im Flugzeug noch bequemer in einer Stunde. Allerdings gibt es dabei einen wesentlichen Unterschied:
Für die Strecke von 800 Kilometer braucht ein Durchschnitts-Velofahrer rund 10 000 Kilokalorien Energie in Form von erneuerbaren Nahrungsmitteln. Mit der selben Energie in Form von 1,2 Liter nicht erneuerbarem Benzin käme ein Automobilist bloss etwa 10 bis 20 Kilometer weit, von Chiasso aus also nicht viel weiter als nach Como. Das Flugzeug stünde bereits auf der Startbahn still.
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Einst und jetzt: Ein Nachtrag
hpg. Die hier beschriebene Veloreise nach Rom liegt 29 Jahre zurück. Seither, so zeigten mir spätere Reisen auf dem Fahrrad durch unser südliches Nachbarland, hat sich einiges verändert: Der Gesamtverkehr dürfte sich in Italien seit 1990 etwa verdoppelt haben. Gleichzeitig haben neue Autobahnen bisherige Strassen etwas entlastet, zum Beispiel das besonders verkehrsreiche Teilstück der Via Aurelia zwischen Viareggio und Pisa.
Wer Nebenstrassen wählt, findet heute immer noch verkehrsarme Routen, dies weniger in dicht besiedelten Gegenden wie der Poebene, aber weiterhin im Apennin, in Lazio, den Abruzzen, in Molise oder in Süditalien. In den SBB-Zügen von der Nordschweiz nach Chiasso ist die Velomitnahme teilweise reservationspflichtig, in einigen Zügen nicht möglich.
Schneller als früher gelangen Bahnreisende heute in den Süden Italiens; dank Neat und schnellen Zügen in Italien dauert die Bahnfahrt von Zürich oder Bern nach Neapel weniger als zehn und nach Bari weniger als zwölf Stunden. Eigene Rennvelos kann man in den schnellen Frecciarossa-Zügen mittransportieren, wenn man sie in Transbag-Säcke verpackt und beide Räder separat in den Sack steckt; die so verpackten Velos benötigen in den Gepäckabteilen nicht mehr Platz als grosse Rollkoffer. Als Alternative zur Velomitnahme können Fahrräder im bereisten Land gemietet werden.
Neben- und Hauptstrassen in Italien sind heute etwas holpriger als vor 30 Jahren, weil dem Staat das Geld für die Erhaltung der Infrastruktur fehlt. Bauliche Schönheit und Lokalkolorit, wie ich sie zum Beispiel auf dem Dorfplatz von Castellina Maritimma erlebte und beschrieb, findet man in Italien weiterhin. Noch immer flanieren die Leute am Feierabend auf den – vermehrt autofreien – Strassen und Plätzen. Aber sie schwatzen weniger miteinander, bereden oder streicheln dafür – wie überall – im Gehen ihr Smartphone.
Freie Hotelzimmer, häufig auch Bed-and-Breakfast-Zimmer, gab und gibt es in Italien weiterhin im Überfluss. Wer nicht in der Hauptsaison reist und nicht in den bekanntesten Tourismuszentren übernachten will, muss nicht im Voraus reservieren, bleibt also bei der Wahl der Reiseroute flexibel. Hotels in historischen Zentren und andern Innenstädten können Veloreisende bequemer erreichen als Automobilisten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine