SchmitterWelzer

Unterschiedliche Sichtweisen auf die Zukunft, unterschiedliche Buchcover. © -

Wir könnten’s schon schaffen!

Hans Steiger /  Zwischen den Klimademonstrationen und dem 1. Mai empfiehlt sich die Lektüren von zwei Büchern: Theorie plus Praxis für Radikale.

Das schmale, tiefrote Bändchen von Ernst Schmitter belegt theoretisch überzeugend, dass alternative Politik radikaler werden sollte. Das himmelblaue von Harald Welzer zeigt, warum das alarmierende Wissen um eine notwendige Weltwende nicht lähmend sein muss – wenn wir nun mit dem Wandel wirklich beginnen: Praktisch, selbstbestimmt, überall.

Gegen „blinden“ Antikapitalismus

Vor der isolierten Lektüre des Theorietextes wäre zu warnen. Sie könnte entmutigend wirken, obschon Schmitter in der Einleitung zu ‚Sackgasse Wirtschaft’ mit einem Unterton erfreuten Staunens feststellt, dass „sozial und ökologisch engagierte Menschen“ ihre Arbeit jetzt wieder öfters „als aktiven Widerstand gegen den Kapitalismus“ verstehen. Die prägende Präsenz der Parole ‚System Change, not Climate Change’ bei eindrücklichen Demonstrationen der jüngsten Zeit sowie die klare Akzentsetzung auf global geltender Klimagerechtigkeit überraschten und freuten auch mich. Doch der mit Jahrgang 1943 fast gleichaltrige Autor, einst Französischlehrer, „seither als Umweltaktivist, Publizist und Wachstumskritiker tätig“, erwähnt ein bedrückendes Déjà-vu-Gefühl. Allzu häufig verschwanden derartige Bewegungen so rasch wie sie kamen.

Wenn deren Systemkritik blind und nur „eine Chiffre für allerlei unangepasste Denk- und Verhaltensweisen“ bleibe, so die These des Buches, sei das Scheitern einer Bewegung schon beinahe gegeben. Sie stirbt an ihrem Aktivismus. „Dahinter steckt die Vorstellung, Antikapitalismus sei eine Frage der widerständigen Lebenspraxis, eine Theorie brauche es dazu nicht.“ Es ist diese vielfach erlebte Tragik, die den Verfasser umtreibt. Alle paar Jahre in Variationen die gleichen Ideen und Motivationen, dann Anpassung, Resignation; die verhängnisvollen gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch gehen weiter. Sein starkes Bild: „Du setzt dich voll ein, gemeinsam mit anderen gibst du dein Bestes – und erreichst fast nichts! Wie eine Wespe, die sich am geschlossenen Fenster kaputt summt. Offenbar siehst du ein Hindernis nicht. Genau wie die Wespe am Fenster. Aber welches Hindernis?“

Es wäre – so die halbe Antwort – mit Hilfe der bereits bei Marx angelegten „Wertkritik“ zu erkennen. Doch die lässt sich hier nicht mit wenigen Sätzen erklären. Selbst die über 150 gut verständlich geschriebenen Seiten der „Einführung“ sind dafür relativ knapp. Das von Robert Kurz vor nun zwanzig Jahren als „Abgesang auf die Marktwirtschaft“ vorgelegtes „Schwarzbuch Kapitalismus“ benötigte mehr als 800 Seiten. Es wird bei Schmitter als eine zentrale Quelle zusammengefasst und ergänzt mit einem Überblick über die von kleinen wertkritischen Gruppierungen geführten Debatten und Kontroversen. Die hatte ich nach 2012, als Kurz unerwartet – und leider vor dem Kapitalismus – starb, völlig aus den Augen verloren. Zuvor schon tat ich mich manchmal schwer mit dem zwar konsequent kritischen, aber oft unnötig polemisch vorgetragenen Infragestellen von ziemlich allem. Neben dem aktuell dominierenden Wirtschafts- und Herrschaftssystem sowie dem gescheiterten, nicht minder kapitalistisch getrimmten Staatssozialismus gerieten sämtliche Visionen, bis hin zur klassischen Aufklärung ins Visier. Es war ein verbissenes Suchen nach dem Kern allen Übels; gangbare Alternativen und Perspektiven kamen kaum vor.

Eine notwendige Theorie(vor)arbeit

Schmitter sieht und erklärt diese Einseitigkeit, die den – mit Ausnahme der feministisch profilierten Roswitha Scholz tatsächlich vorab männlichen – Analytikern den Vorwurf der „Praxisverweigerung“ eingetragen hat. Doch er würdigt ihren Beitrag als einzigartig und unverzichtbar. Wer eine Befreiungspraxis ohne Theorie umsetzen wolle, schlittere über kurz oder lang ins nächste Debakel. Das ist nicht nur an neue ökologische Bewegungen adressiert, sondern auch an die alte Linke. Sie neigt zu „innerkapitalistischen Alternativen, die es nicht geben kann“. Die wertkritische Annahme einer „absoluten inneren Schranke“, in deren Nähe sich die globale Gesellschaft nun befinde, löse natürlich Angst aus. Dem von Kurz und anderen beschworenen Bild vom bevorstehenden Kollaps wurde darum nicht mit Argumenten, sondern eher „mit Ironie, Spott und Häme“ begegnet. Inzwischen habe die nicht enden wollende Krise seit 2007 zwar nichts „bewiesen“, aber einige der Einschätzungen bestätigt.

Radikal mutete vor allem die grundsätzliche „Kritik an der Warengesellschaft“ an. Sie war von 1990 bis 2010 im Untertitel von ‚Krisis’, der Zeitschrift der Gruppe um Kurz zu finden. 1999 provozierte sie den „Arbeiterbewegungsmarxismus“ zusätzlich mit einem „Manifest gegen die Arbeit“. Doch Rückblenden – „Wie die Menschen zu Arbeitstieren wurden“ – wie Ausblicke auf noch zu erwartende Umbrüche der Arbeitswelt zeigen, dass viele der dort vertretenen Positionen nicht abwegig waren. Die immer umfassendere Konditionierung zur Lohnsklaverei erweist sich als Falle, der mit brutaler Gewalt oder Verführung geebnete kapitalistische Weg als offensichtliche Sackgasse. „Die in ihrem zwanghaften Vorwärts auf eine Katastrophe zusteuernde Wirtschaft ist Motor und Kern einer gesellschaftlichen Lebensgefahr.“ Ihr innerhalb der vorgegebenen Strukturen entrinnen zu wollen, etwa mit dem Ruf nach einer Rückkehr zum „Primat der Politik“, dann via Wahlzettel, Parlament und Verordnung, bleibe ein Traum. Weiter hinten wird aber festgehalten, dass andere Formen des Handelns denkbar wären. „Sobald Menschen gemeinsam über wirklich alles beraten und entscheiden, was sie gemeinsam betrifft, können sie die Grenze dessen überschreiten, was wir unter Politik verstehen.“ Wir müssten uns allerdings der Leistungsmaschine verweigern, auf lokaler Ebene beginnen …

Das radikal positive Zukunftsbuch

Und damit kann ich zu Harald Welzer wechseln, vom dem fast gleichzeitig „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ erschien. Beim ersten Blick das pure Gegenstück. „Denn nie gab es in den westlichen Gesellschaften mehr Gruppen, Initiativen, Genossenschaften, Kollektive, die sich anderen Wirtschafts- und Lebensstilen verschrieben haben als heute.“ Dies „nicht in Gestalt grosser Theoriegebäude, Manifeste und Symbole“, sondern „in praktischer Arbeit vor Ort“. Es will ausdrücklich „ein positives Buch“ sein; was nicht „optimistisch“ meint. Doch zur realistischen Einschätzung der Lage gehört, dass sich Trends oft rasch wenden. Zudem mache aktives Handeln „erheblich bessere Laune, als sich mit apokalyptischem Geraune wechselseitig zu ermuntern, nichts zu tun“, und Labore des künftigen Wirtschaftens hätten den Vorteil der Anschaulichkeit.

Wobei das „plurale Universum konkreter Utopien“ beim „Weiterbau am zivilisatorischen Projekt“ durchaus Theorie braucht und Vorstellungen von der Richtung. Auch hier taucht Marx auf, mehrmals. „Recht hat er, wie fast immer“, was die Fähigkeit und Möglichkeiten des Menschen betrifft, „Geschichte zu machen“. Autonomie setze materielle Sicherheit voraus. Bei den Gemeingütern kommt Elinor Ostrom zum Zug. Beim ernüchternden Blick auf die Digitalisierung hilft Ivan Illich. Die autofreie Stadt – kein Hirngespinst, sondern eine konsequente Korrektur einer Fehlentwicklung – kann den Raum für analoge Begegnungen schaffen, die eine offene Gesellschaft braucht; und sie trägt zu mehr Freundlichkeit und weniger Aggressivität bei. Studierenden der Uni St. Gallen, wo Welzer gelegentlich als Sozialpsychologe lehrt, werden gleich mehrere Seiten überlassen, um ihre Seminararbeit zur „Zukunft der Solidarität“ vorzustellen – „eine sehr kluge konkrete Utopie“, die vom weit verbreiteten ehrenamtlichen Engagement ausgeht und solche Netzwerke stärken möchte. Überhaupt kommt unser Ländchen gut, zu gut weg. Es sei „das eindrucksvollste Beispiel“ dafür, dass die Zivilisierung der Gesellschaft in den Demokratien zunehme, je länger sie bestehen. Sicher, die Schweiz ist auch einfach sehr reich … Aber hier soll ja für einmal Positives im Vordergrund stehen.

Legosteine zur realistischen Utopie

Angelegt ist das Ganze als ein ernstes Game. Wie mit Legosteinen wäre aus meist schon vorhandenen Elementen in immer besseren Kombinationen eine zukunftsfähige Welt zu bauen. Vielleicht sei es kein Zufall, dass ein Tischlermeister das sensationell erfolgreiche Kreativprodukt kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges erfand. „Zerstörung, Sortieren, Aufbauen.“ Zu seinem Namen ist das dänische Original durch das Zusammenfügen von zwei Worten gekommen. Lego bedeute „Spiel gut“. Unterschiedlich sind die Erwartungen, was derzeit real Mitspielende betrifft. Skeptisch eingeschätzt wird die Politik im engeren Sinne. Umso wichtiger, gerade zum Erhalt der Freiheit, sind Institutionen, „von denen wir wissen, dass sie auch idiotische, böswillige oder totalitär gesonnene Politiker in Schach halten können“. Wir brauchen dazu „funktionierende Verwaltungen, loyale Beamtinnen, einsatzbereite Notärzte und mutige Polizistinnen“. Der neoliberale Abbau schwächte den liberalen Rechtsstaat, den Welzer als bedeutende Errungenschaft bewertet. An ihm wäre weiter zu bauen. China mit seiner autokratischen Führung und immer totaleren sozialen Kontrolle bezeichnet er als „das absolute Gegenmodell“ zur Gesellschaftsutopie, welche ihm vorschwebt.

Ein guter Freisinniger also? Manchmal klingt er wie ein Sozialdemokrat, obschon sein Urteil über das Versagen der Arbeiterbewegung nach dem Erklimmen von ersten Stufen zur Gerechtigkeit hart ist. Auch die Grünen bekommen Hiebe. „Ihre Zukunftsbilder sehen aus wie in der Rama-Reklame: gutgelaunter kinderreicher Mittelstand auf grünen Wiesen unter Windrädern. Das, liebe Ökos, reicht nicht.“ Wir müssten endlich beginnen, uns die ganz andere Zukunft vorzustellen; eine nur moderat „nachhaltig“ angepasste Fortsetzung bisheriger Lebensweisen ist gefährlich illusionär. Zwischendurch finden sich hübsche Sprüche. „Wirtschaftsmagazine sind die Pornoheftchen von heute“, zum Beispiel. Auf einem einschlägigen Bildchen der Daimler-Vorstand: „Schlipslos nach Führerbefehl.“ Entscheidungsträger, die sich nicht einmal allein anziehen können! So bitterböse einige Passagen daherkommen: Welzer ist nicht zynisch, nur wütend. Sein leidenschaftliches Engagement wird durch persönliche Erfahrungen erklärt, die er sparsam preisgibt. In gewichtigen Zusammenhängen, ohne unnötiges Pathos.

Hand(lungs)buch zum Klimastreik?

Er treffe jeweils „überaus auflagenfreundlich den Nerv der Zeit“, habe ich kürzlich in einer Würdigung des umtriebigen Aktivisten und Publizisten gelesen. Stimmt. Sein neues Buch lässt sich topaktuell als Begleitpublikation zur aktuellen Klima-Streik-Bewegung lesen, auch wenn diese darin nicht vorkommt: Sie rollte erst nach Redaktionsschluss an. Doch ihre Dynamik wird sozusagen als Möglichkeit skizziert. Ein nüchterner Blick auf die derzeit betriebene – oder eben inexistente Klimapolitik – könnte zur Ressource werden, wenn informierte Menschen das Nichthandeln nicht mehr akzeptierten. Es sind nicht Schüler und Schülerinnen, sondern basisnahe Klimaschutz-Initiativen in den USA, an denen der Autor diese Hoffnung festmacht. Städte animieren lokale Unternehmen. Aktivitäten werden koordiniert. Doch solches geht in vielen Bereichen, überall. „Statt uns im Untergangskitsch zu suhlen, können wir uns besser dem Restaurieren, dem Wiedergutmachen zuwenden.“ Ein nah bei Berlin bereits realisiertes Beispiel, die Renaturierung der Havel, eröffnet das Buch. Stimmungsvoll, berührend. Anders kann sehr viel schöner sein. Die elf Merksätze auf der letzten Seite sind kurz. „Die fetten Jahre sind vorbei“ macht als frohe Botschaft den Anfang. Elftens: „Morgen Mittag beginnt das Neue.“ Erschienen ist diese Ermutigung im Februar; schon im März wurde die 3. Auflage gedruckt. Und das ist gut so.

Aber auch Schmitter wünsche ich Resonanz. Die zwei hier gewürdigten Bücher widersprechen sich punktuell – ergänzen sich also bestens. „Alles weiss keiner“, steht bei Welzer irgendwo. Konträr sind etwa die Einschätzungen beim Grundeinkommen. Schmitter, dem eine Welt ohne Geld lieber wäre, kann da Warner sein. Vor dem Ende des Kapitalismus etwas gegen dessen Verheerungen tätig zu werden, schützt umgekehrt vor Kapitulation aus Klugheit. Bezeichnenderweise stellen beide die Wirtschaft ins Zentrum. Hier wie dort soll sie ganz anders werden. Oft wird bei Welzer konkretisiert, was bei Schmitter zu theoretisch und knapp bleibt.

Künftig lieber einen Tag der Solidarität

Die radikale Kritik am heutigen Verständnis von „Arbeit“ ist ähnlich. „Warum eigentlich immer arbeiten?“ lautet die Frage beim vierten Legostein; ganze Passagen könnten aus dem anderen Buch sein. Um zu mehr Lebenssinn bei geringerem Umweltverbrauch zu gelangen, wären 15- oder 20-Stunden-Wochen vernünftig. Und realistisch! „Vielleicht könnte sich die Sozialdemokratie, die im Moment ja orientierungslos wie ein junges Reh auf der nächtlichen Autobahn ist, dieses Thema vornehmen.“ So wieder Welzer. Aber auch bei der öffentlichen Vernissage des Schmitter-Buches in Zürich, welche am 4. Mai noch im Rahmen der Mai-Feier-Anlässe stattfindet, könnte das Diskussionsstoff sein. Forderungen fast wie früher. Würde jedoch unter jetzt neuen Vorzeichen um viel mehr freie Zeit für das Verändern der Gesellschaft gerungen, könnte der Ruch eines gestrigen Klassenkampfes verschwinden. Weg vom „Tag der Arbeit“ – hin zur Gerechtigkeit, zu globaler Gerechtigkeit, auch Klimagerechtigkeit. Feiern wir den 1. Mai nicht längst als einen Tag der Solidarität?

Literaturhinweise:

Ernst Schmitter: Sackgasse Wirtschaft. Einführung in die Wertkritik. Edition 8, Zürich 2019, 173 Seiten, 22 Franken

Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Fischer, Frankfurt/Main 2019, 320 Seiten, 24 Abbildungen, 22 Euro

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Buchvernissage in zwei Städten: Ernst Schmitter: Sackgasse Wirtschaft. Einführung in die Wertkritik

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Dieser Text erscheint auch als Politeratour-Beitrag im P.S.

Weiterführende Informationen


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2 Meinungen

  • am 18.04.2019 um 09:38 Uhr
    Permalink

    Als zentral für unsere Zukunft erscheint immer mehr Autoren und Mitmenschen die Solidarität zu sein – und sie haben Recht!

    Um ein zerstörerisches Wirtschafts- und Geld-System friedlich und gewaltlos zu überwinden, braucht es einen Konsens und die Erkenntnis, dass wir alle – egal wo auf der Welt – ein gemeinsames Problem haben und dieses Problem kann nur gemeinsam, eben solidarisch und nicht in Konkurrenz zueinander, gelöst werden.

    Genau dies ist auch der Hauptansatz von
    https://www.friedenskraft.ch/

    Schöne Ostern und gute Nachbarschaft!

  • am 18.04.2019 um 13:06 Uhr
    Permalink

    Ob ich nach dieser weiteren langen Analyse von Hans Steiger noch dazu kommen werde, Schmitter und Welzer zu lesen?
    Ich mache es kürzer: Lassen wir endlich Analysen über «Ismen» der Menschheit hinter uns und schauen genau hin, was wir auf unserem Planeten tun: wir Menschen sind die grössten Räuber und Mörder auf Erden (Harari). Erst wenn wir unsere selbstverschuldete Situation begriffen haben, sind die Voraussetzungen für richtiges Handeln erfüllt. Ob Europäer oder Chinese, ob Kapitalist oder Kommunist, ob Moslem oder Christ, völlig belanglos.

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