Goettinger_Friedenspreis

Andreas Zumach, Vorsitzender der Jury, mit Iris Hefets, Vorsitzende der «Jüdischen Stimme» © GF

«Israels Regierung spricht nicht in unserem Namen»

Christian Müller /  Trotz aller Verhinderungsversuche konnte der «Göttinger Friedenspreis» am Samstag feierlich übergeben werden. Was wurde erreicht?

Infosperber hat darüber berichtet – hier und hier – und hätte fast drei Wochen lang jeden Tag darüber berichten können. Der von der Dr. Roland Röhl Stiftung gestiftete «Göttinger Friedenspreis», der seit 1999 jedes Jahr an eine Organisation oder an eine einzelne Person verliehen wird, sollte in diesem Jahr, so hat es die dafür zuständige Jury der Stiftung beschlossen, an die Vereinigung «Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.» gehen. Das aber sollte verhindert werden, so die Meinung des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, und so die Meinung des Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus Felix Klein. Und dies mit aktiver Unterstützung aus Göttingen selbst: Der Göttinger Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler sperrte alle stadteigenen Lokalitäten für die Preisübergabe, die Georg-August-Universität sperrte ihre Räumlichkeiten für die bisher in ihren Räumen durchgeführten Preisübergaben ebenfalls, die Sparkasse Göttingen annullierte die der Veranstaltung jeweils zugesicherten 2000 Euros. Zum Glück alles vergeblich. Dank eines privaten Spendenaufrufs kamen anstelle der 2000 Euro der Sparkasse 28’000 Euro zusammen. Und dank der Zivilcourage von Gisela Hyllow und Jörg Dreykluft, die ihre Kunstgalerie Alte Feuerwache für die Feierlichkeiten zur Verfügung stellten, konnte am Samstag auch die Preisübergabe zeitgerecht stattfinden – sogar mit deutlich höherer Beachtung als in den vergangenen Jahren.

Einen Widerspruch aushalten müssen

Alle Versuche, die Übergabe des Göttinger Friedenspreises an die «Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost» zu verhindern, basierten auf derselben Argumentation: die Unterstützung der Bewegung BDS sei antisemitisch. Aber können Jüdinnen und Juden, die sich gegen die Besatzungspolitik der israelischen Regierung wehren, antisemitisch sein?

Iris Hefets, die Vorsitzende der «Jüdischen Stimme», ging in ihrer Rede auf diese Frage ein. Schon gleich zu Beginn des Referats sagte sie wörtlich:

«Unsere Organisation, die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, wurde am 9.11.2003 gegründet und 2007 als Verein registriert. Seitdem waren bei uns Professorin Fanny Michaela Reisin, Judith Bernstein, Ruth Fruchtman, Professor Rolf Verleger und Michal Kaiser-Livne Vorsitzende. Schon zum Zeitpunkt der Gründung war uns bewusst, dass wir einen Widerspruch aushalten müssen. Einerseits sind wir nicht besonders dafür qualifiziert, etwas zum Thema Frieden in Nahost zu sagen, nur weil wir Juden sind. Jüdisch sein ist ein Identitätsmerkmal und bedeutet keine Qualifikation für politisches Engagement oder spezielles Wissen. Die große und fundierte Unterstützung, die uns in den letzten Tagen nicht zuletzt von Nichtjuden erreichte, ist ein Beleg dafür. Andererseits nehmen uns die israelischen Regierungen in Geiselhaft, wenn sie behaupten, für alle Juden der Welt zu sprechen. Deshalb sagen wir laut: ‹Nicht in unserem Namen!›.»

Sachkundig, engagiert und überzeugend: Iris Hefets, Vorsitzende der «Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost», anlässlich ihrer Rede als Preisträgerin in Göttingen am 9.3.2019.

Die ganze Rede, in der sich Iris Hefets insbesondere auch mit der Bewegung BDS befasst, kann hier gelesen (und bei Bedarf auch heruntergeladen) werden. Die Rede ist äusserst lesenswert.

Die Laudatio von Nirit Sommerfeld

Nicht minder eindrücklich war die offizielle Laudatio, die die deutsch-israelische Schauspielerin und Sängerin Nirit Sommerfeld hielt. Auch daraus hier ein paar Zeilen:

«Jüdinnen und Juden sind divers – genau wie alle anderen Menschen. Es ist rassistisch zu sagen: „Juden sind ja so …“ egal was. Es ist egal, ob Sie denken: „Juden sind ja so intelligent und sprachbegabt“ oder ob Sie denken: „Juden sind ja so hinterhältig und geldgierig“. Jüdinnen und Juden sind vor allem eines: unterschiedlich. Es eint sie, dass jede*r von ihnen eine jüdische Mutter hat und dass sie die jüngste Geschichte des Judentums kennen. Vor diesem Hintergrund ist es unbegreiflich und unverantwortlich vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster, der Jüdischen Stimme in Zusammenhang mit der Verleihung des Göttinger Friedenspreises Antisemitismus vorzuwerfen – ganz gleich in welcher Form und in welchem Wortlaut er dies getan hat. Er hat nicht darüber zu bestimmen, wer Jude und noch dazu ein guter Jude ist. Das haben schon vor ihm andere getan, aber das werden wir nie wieder zulassen. Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. Punkt. Da haben nicht einmal wir Juden selbst eine Wahl. Die Aussagen des Zentralratspräsidenten haben zur Folge, dass das Ungeheuerliche passiert: Deutsche zeigen mit dem Finger auf Juden und bezichtigen sie des Antisemitismus! Wie absurd, wie anmaßend, im Jahre 2019! Diese Deutschen sind Kinder und Enkel der Täter, und sie sprechen zu Juden, deren Eltern oder Großeltern Naziopfer waren!»

Auch die Laudatio von Nirit Sommerfeld – hier zu ihrer eigenen Website – kann hier in ganzer Länge gelesen und bei Bedarf heruntergeladen werden.

Mit Beispielen, wie Juden und Jüdinnen die Besatzungspolitik Israels erleben – und sie deshalb kritisieren dürfen: Nirit Sommerfeld anlässlich der Laudatio der «Jüdischen Stimme» als Preisträgerin in Göttingen am 9.3.2019.

Was wurde mit dem «Göttinger Friedenspreis 2019» erreicht?

Die Dr. Roland Röhl Stiftung «Göttinger Friedenspreis» und ihre Jury haben mit der Verleihung des Friedenspreises in diesem Jahr an die «Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost» öffentlich machen können, dass insbesondere auch in jüdischen Kreisen die Besatzungspolitik Israels unter Benjamin Netanyahu nicht mehr stillschweigend akzeptiert oder gar bejubelt, sondern oft sogar scharf kritisiert wird – mit guten Argumenten. Sie haben aber auch erreicht, dass Versuche der Israel-Lobby und einiger ihr nahestehenden Organisationen und Persönlichkeiten, Israel-kritische Veranstaltungen in Deutschland (oder auch in der Schweiz) als «antisemitisch» zu diffamieren und zu verhindern, künftig genau beobachtet und öffentlich gemacht werden – und damit hoffentlich, wie im Falle des Göttinger Friedenspreises, letztlich scheitern.

Wenn schon nur ein paar tausend Deutsche, Österreicher, Schweizer und vielleicht auch Interessierte aus anderen Ländern die Reden der beiden scharfsinnig-analytisch denkenden, engagierten und mutigen Frauen Iris Hefets und Nirit Sommerfeld vollumfänglich und aufmerksam lesen, hat die Stiftung Dr. Roland Röhl für ihre politische «Entwicklungshilfe» im eigenen Land einiges erreicht. Deutschland hat zwar seine eigene dunkle Geschichte im 20. Jahrhundert intensiver und besser aufgearbeitet als manch andere Staaten Europas. Das darf trotzdem nicht dazu führen, dass Kritikern der gegenwärtigen Besatzungspolitik Israels – insbesondere auch jüdischen Kritikern wie Gideon Levy, Amira Hass oder Moshe Zuckermann, um nur drei Namen zu nennen – oder gar ganzen jüdischen Organisationen wie der «Jüdischen Stimme» jetzt der Mund gestopft wird.

Ein Wermutstropfen bleibt: Die meisten Medien machen um dieses Thema herum einen Bogen. Gemäss dem schweizerischen Medienarchiv SMD hat zum Beispiel in der Schweiz im letzten Monat keine einzige Zeitung und – mit Ausnahme von Infosperber – auch keine Online-Plattform über die Auseinandersetzungen um die Verleihung des «Göttinger Friedenspreises» an die «Jüdische Stimme» berichtet.

Zum Infosperber-Dossier:

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7 Meinungen

  • am 11.03.2019 um 11:55 Uhr
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    Dem Infosperber gebührt ein grosser Dank für die verlässliche und ausdauernde Berichterstattung zu diesem wichtigen Thema.
    Ich bin sehr froh darum.

  • am 11.03.2019 um 12:09 Uhr
    Permalink

    Die Schweizer Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit jvjp.ch solidarisierte sich mit der Deutschen Jüdischen Stimme mit einer öffentlichen Solidaritätserklärung und einer Geldspende. Sie begrüsste sehr, dass die Verleihung trotzdem kämpferisch und würdig in Göttingen stattfand. Die unterstützende Adresse von jvjp.ch: «Wir als Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, JVJP Schweiz sind darüber entsetzt, dass als Akt der politischen Repression durch die Göttinger Behörden der hochverdiente Göttinger Friedenspreis an Euch als Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost nicht in städtischen oder universitären Räume verliehen werden darf. BDS ist ein palästinensisches, legitimes und zivilgesellschaftliches Widerstandsinstrument, das weltweit als solches anerkannt ist. Die Kampagne gegen UnterstützerInnen von BDS ist international orchestriert, sie hat auch in der Schweiz begonnen. Diese Abwehr-Kampagne will die Kritik an der israelischen Besatzung delegitimieren und den Kampf für die legitimen Rechte der palästinensischen Bevölkerung verhindern. Sie untergräbt zudem grenzübergreifend die demokratischen Rechte. Für Eure Verleihfeier haben wir deshalb als Akt der praktischen Solidarität eine Spende überwiesen und stehen solidarisch hinter Euch. Wir wünschen Euch eine würdige und kraftvolle Verleihfeier in Göttingen. Mit solidarischen Grüssen, Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, JVJP Schweiz."

  • am 11.03.2019 um 12:18 Uhr
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    Ok, Herr Müller, wir haben es jetzt zur Genüge gehört bzw. gelesen, wie ungeheuerlich ungerecht Herr Zumach, Ihr Bruder im Geiste, in Göttingen von gewissen fremdgesteuerten, fehlgeleiteten Kreisen behandelt wurde. Aber jetzt ist ja alles doch noch schön und harmonisch herausgekommen. Lassen Sie es also gut sein. Es gäbe wahrlich noch einige WIRKLICH relevante Themen auf dieser Welt, die da der Bearbeitung durch einen kritischen Journalisten harren.

  • am 11.03.2019 um 13:44 Uhr
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    Ganz grossen Applaus für all die Menschen, die diese Veranstaltung und Preisübergabe möglich gemacht haben.
    Natürlich berichten die Mainstream Medien darüber nichts.
    Die aktuellen Fälle der Verteufelung von Jeremy Corbyn (GB) und Congresswomen Ilhan Omar (USA) als Antisemiten sind die besten Beispiele dafür, wie man eine solche Diffamierung inszeniert.
    Ich begrüsse jede jüdische Stimme, die sich von der Vereinnahmung durch eine selbsternannte Zensurbehörde distanziert.

  • am 11.03.2019 um 14:05 Uhr
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    Der humunistische Geist in Göttingen ist noch nicht ganz ausrrrradiert.
    Von welchem SPD-Ufer ist denn der Oberbürgermeister ?

  • am 11.03.2019 um 14:32 Uhr
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    Danke an Infosperber über diesen Bericht mit den Links. Auch in der Schweiz gibt es diese Versuche mit der Antisemitismus-Keule Kritik an der Politik der israelischen Regierung mundtot zu machen. Ich habe im Laufe meines Lebens aber auch Juden kennen gelernt, mit denen ich mich bestens verstanden habe und die ich keines Falls in die Schublade der erstgenannten stecken will.

  • am 11.03.2019 um 17:52 Uhr
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    Quel courage et quelle belle détermination. Et ce, malgré les pressions de lobbies pro israéliens et d’associations proches La fondation du prix Goettinger pour la paix ne se laisse pas intimider. «Nous ne voulons pas être les otages de la politique israélienne». La fondation refuse que la critique de la politique d’occupation des territoires palestiniens par Israël soit considérée comme de l’antisémitisme. Il faut saluer le courage des personnalités juives qui osent s’engager pour une paix juste au moyen orient. Ils sont les dignes héritiers d’écrivains courageux eux aussi comme Amos Oz et Aaron Appelfeld.

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