Die Falle – und warum China und die USA nicht hineinfallen …
Das Verhältnis der aufstrebenden Grossmacht China zur etablierten Supermacht Amerika wird, je länger das 21. Jahrhundert dauert, immer wortgewaltiger von Leitartiklern, Experten, Diplomaten und Politikern beschworen. Mit gewagten geschichtlichen Vergleichen.
Als am Anfang des Jahres die chinesische Mondsonde Chang’e 4 neben dem Aitken-Krater auf der Rückseite des Mondes landete, wurde das in vielen westlichen Medien als «Machtdemonstration» der chinesischen Regierung kommentiert. Auch die Modernisierung der Armee, der Luftwaffe und der Navy wird stets im gleichen Kontext interpretiert, genauso wie die Wirtschaftsinitiative der «Neuen Seidenstrasse». China hat seit Beginn der Wirtschaftsreform und Öffnung nach Aussen vor vierzig Jahren zwar in einer in der Geschichte nie zuvor beobachteten Geschwindigkeit Wirtschaft und Gesellschaft verändert. Doch expandiert über bestehenden Grenzen hinaus hat das Reich der Mitte nicht. Ganz im Gegensatz zu den Europäischen Kolonialmächten vorab im 19. Jahrhundert und zu den USA und Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. China selbst wurde zur Halbkolonie. Chinesinnen und Chinesen sprechen deshalb noch heute vom «Jahrhundert der Schande», beginnend mit dem ersten Opiumkrieg (1839-42) über die ungleichen Verträge mit den imperialistischen Mächten (zumal Grossbritannien und Japan) bis hin zur Befreiung 1949 durch die Kommunisten nach dem Bürgerkrieg mit den Nationalisten.
Multipolar
Jetzt gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wird der Wettbewerb zwischen der aufstrebenden Grossmacht China und der etablierten Supermacht USA immer öfter thematisiert. Hin und wieder ist gar schon vom «Chinesischen Jahrhundert» die Rede, obwohl – wie in dieser Kolumne schon mehrfach erläutert – in der immer komplexer werdenden, globalisierten Welt alles auf eine multipolare Welt hindeutet mit Amerika und China im Mittelpunkt. Dabei sind Peking und Washington, wie es der Führung beider Mächte wohl bewusst ist, gegenseitig durchaus voneinander abhängig.
Imperiale Überdehnung
Kommentatoren und Politiker greifen bei der Einschätzung der neuen geopolitischen Situation stets auf vermeintlich geschichtliche Parallelen zurück. Anfang dieses Jahrhunderts war der Bezug sehr oft der Untergang des Römischen Reiches. In diesem Zusammenhang wurde meist das 1987 veröffentlichte Buch des britischen Historikers Paul Kennedy «Aufstieg und Fall der grossen Mächte» zitiert. Kennedys These: Aufstieg, Überdehnung, Erschöpfung, Abstieg. Kennedys Ansatz von der imperialen Überdehnung fand natürlich bei oberflächlicher Betrachtung bei fast allen Grossreichen der Weltgeschichte einige zutreffende Punkte. Doch Imperien wie etwa die zwei Perserreiche, das Reich Alexander des Grossen, das Reich der Mongolen, das Spanische Kolonialreich, das Chinesische Kaiserreich, das Britische Weltreich oder das Sowjetreich weisen bei genauer Betrachtung weit mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf.
Neuer Kalter Krieg?
Seit Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden ist, steht – nicht zuletzt auch wegen des Handelskonflikts und der Nordkorea-Frage – wieder die Frage im Raum, ob denn China die Vereinigten Staaten von Amerika als Supermacht ablösen werde und ob ein neuer Kalter Krieg bevorstehe. In den letzten zwei, drei Jahren wurden dabei nicht mehr Paul Kennedys historische Thesen bemüht. Vielmehr schwadronierten Leitartikler, Diplomaten und assortierte Pundits mit dem Begriff «Thukydides-Falle», um zeitgeistig die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Krieges abzuschätzen.
Stratege und Historiker
Thukydides lebte im 5. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung in Athen. Er war Stratege und Historiker. In seinem unvollendeten Werk «Der Peloponnesische Krieg» schildert er den Konflikt zwischen der aufstrebenden Seemacht Athen und dem mächtigen Sparta. Die Grundthese von Thukydides: «Es war der Aufstieg Athens und die Furcht, die das in Sparta auslöste, was Krieg unvermeidlich machte». Die «Falle des Thukydides» besagt also im Kern, dass der Aufstieg einer neuen Macht – etwa China – bei der etablierten Macht – etwa die USA – Ängste auslöst, die schliesslich zu Konflikten und unvermeidlich zu Krieg führen.
Falsche Analogie
Der Politikwissenschafter Graham Allison prägte 2012 den Begriff «Thukydides-Falle» und exemplifizierte ihn an der aufsteigenden europäischen Landmacht Deutschland und der globalen Seemacht Grossbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dem daraus folgenden Ersten Weltkrieg (1914-18). Allison führt für die letzten 500 Jahre 16 Konflikte an, wobei die Thukydides-Falle bei 12 davon zutreffend gewesen sei. Bei näherer Betrachtung freilich zeigt sich bei all diesen Konflikten, den deutsch-britischen eingeschlossen, dass das Bild der Falle nur marginal, wenn überhaupt, zutreffend ist. Es traf weder zu im 15. Jahrhundert beim Konflikt Spanien-Portugal noch in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Holland im 17. Jahrhundert noch bei der Ablösung Grossbritanniens durch die USA im 20. Jahrhundert. Und schon gar nicht beim Konflikt des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit der Thukydides-Falle wird die Geschichte missbraucht. Kurz, es handelt sich um eine falsche Analogie.
Zahl Null
Ist China dabei, Amerika von der Spitze zu verdrängen? Gemach. Die Konfliktmuster haben sich seit Thukydides, also seit zweieinhalbtausend Jahren, grundlegend verändert. Richtig ist, dass China beeindruckend aufgeholt hat. Wirtschaftlich, sozial, in der Erziehung, in der Forschung und vielen weiteren Bereichen. Das Reich der Mitte ist wieder dort, wo es – zwar gegen Aussen abgeschlossen und sich selbst genügend – bis zu Beginn der 19. Jahrhunderts schon einmal war. Bis zu Beginn der europäischen Weltgeltung im ausgehenden 15. Jahrhundert erreichte China viel und hatte Europa einiges voraus. Der Bronze- und Eisenguss, das Papier, der Buchdruck, der Magnetkompass und Porzellan sind chinesische Errungenschaften. Kurz, China hat das Pulver erfunden. Nur die für das digitale Zeitalter entscheidende Zahl Null haben nicht die Chinesen, sondern die Araber kreiert …
Einfache Lösungen
Statistisch ausgedrückt präsentiert sich das moderne, auch durch westliche Technologie erstarkte China so: Vor dreissig Jahren beanspruchten die USA noch 22 Prozent des weltweiten Brutto-Inlandprodukts (BIP), Deutschland 6 Prozent und China 3 Prozent; heute erwirtschaftet China 18 Prozent des weltweiten BIP, die Europäische Union 16 Prozent, die USA 15 Prozent und Deutschland 3 Prozent.
Die Welt ist heute global vernetzt, hoch komplex strukturiert, militärisch und atomar hoch bewaffnet. Dass die These von der «Thukydides-Falle» so beliebt ist, hängt damit zusammen, dass einfache Lösungen für komplexe Probleme bei Politikern stets beliebt sind. Der linke und rechte Populismus – die junge SP und die alte SVP eingeschlossen – profitieren davon.
Dialog und Kooperation
In einem schwierigen internationalen Umfeld hat Peking eine klare langfristige Strategie, erdacht einst vom grossen Reformer und Revolutionär Deng Xiaoping und fortgesetzt mit dem «Chinesischen Traum» des jetzigen Staats-, Partei- und Militärchefs Xi Jinping. Zur «Thukydides-Falle» hat sich Staatsrat und Ausseminister Wang Yi 2017 geäussert: «China hat das Vertrauen, den historischen Präzedenzfall durch einen verbesserten Dialog und Koordination mit der US-Seite zu vermeiden.» In einer komplizierten Welt, so Wang, sei internationale Kooperation die einzig mögliche Wahl. Wang begründet das weiter damit, dass in einer vernetzten Welt die Interessen der aufstrebenden Mächte und der etablierten Mächte zusammenlaufen und damit Konflikte zu nichts als zu einer Verlust-Verlust-Situation führten.
Abenteuerliche Vergleiche
Um falsche historische Analogien zu vermeiden, hülfe nur eines: wieder einmal «Den Peloponnesischen Krieg» von Thukydides zu lesen. Am besten im Original. Doch wer lernt im digitalen Zeitalter noch Altgriechisch, geschweige denn Latein oder gar Deutsch? Übersetzungsprogramme und der Korrektor im Schreibprogramm tun es auch. Also Thukydides einfach in die Internet-Suchmaschine werfen, und schon sind alle Fragen vermeintlich beantwortet. Die Falle schnappt dann tatsächlich zu. Resultat: siehe oben, d.h. schiefe, abenteuerliche Vergleiche jenseits seriöser Geschichtskenntnisse.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Die Analyse erscheint mir weitgehend treffend. Allerdings würde ich die USA schon heute nicht mehr als Supermacht bezeichnen, die multipolare Welt ist bereits Realität. Die nervösen Zuckungen der Trump Administration illustrieren dies klar. Die USA fühlen sich nicht nur von China, sondern auch von der EU und Russland herausgefordert. Was als Wahnvorstellung erscheinen mag, basiert durchaus auf überprüfbaren Fakten.
Kennedy’s Konzept des «imperial overstretch» ist auf die USA absolut anwendbar. Trotz Rüstungsausgaben, die derzeit noch mehr als die Hälfte der globalen Kriegsmittelbudgets ausmachen, sehen sich die USA ausserstande die militärischen Herausforderungen zu meistern, die sie als vermeintlich einzige Supermacht aktiv gesucht hat. Schlechte Voraussetzungen für einen neuen kalten Krieg, geschweige denn einen heissen. Amerikas Eliten werden hartes Brotes essen müssen, wenn der Wandel des globalen Finanzsystems die Tribute aus dem informellen Imperium versiegen lassen.
Ich wage zu prophezeien, dass der Westen zur Entglobalisierung schreiten wird um der Herausforderung durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zu begegnen. Wenn Kriege stattfinden, dürften sie auf die Sicherung von Zugang zu Rohstoffen begrenzt sein. Autarkie ist einem solchen Umfeld ein enormer Vorteil, dies dürfte vor allem Russland begünstigen, welches auf absehbare Zeit militärisch unangreifbar bleiben wird.