Kinderarbeit anstatt Lehrplan 21?
In seinem neuen Buch kritisiert Allan Guggenbühl an der heutigen Erziehung, dass sie nur das Beste für die Kinder wolle – und dies um jeden Preis. Die Familie als Wohlstandsoase tue alles, um für die Kinder da zu sein. Dabei beachte sie jedoch oft nur eine beschönigte Version der Persönlichkeit. Vergessen bleiben die negativen Seiten des menschlichen Lebens, die Guggenbühl als «Schattenmotive» bezeichnet. Diese, wie zum Beispiel Neid, Eifersucht, Herrschsucht, Eitelkeit, Rassismus, Narzissmus oder Schadenfreude, erreichten kaum mehr das Bewusstsein der Eltern.
Daraus kann ein übertriebenes positives Menschen- und Weltbild entstehen. O-Ton Guggenbühl zur Familie: «Aus Überlebens- wurden Erlebnisgemeinschaften. Es geht heute nicht mehr primär um Schutz, Pflege, materielle Sicherheit, Kranken- und Altenpflege, sondern um Erlebnisse. Wir gründen eine Familie, um unserem Leben einen Sinn zu geben, glücklich zu sein und uns zu verwirklichen» (S. 51). Das Problem eines solchen Erziehungsansatzes sei die Abwehr des Schattens. Die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen und Paradoxien des Menschen werde zugunsten einer Scheinwelt verdrängt.
Erziehung dient der Selbstverwirklichung der Eltern
«Kindgerecht Handeln» steht in diesem Rahmen für Guggenbühl als Mittel zur Selbstverwirklichung der Eltern. Und das bedeute, dass die Kinder zu schutzwürdigen Objekten werden, denen wenig Eigenständigkeit zugeschrieben wird. Vielmehr wird ihnen ihr Tun und Lassen Schritt für Schritt vorgeschrieben. Man hat solche Eltern auch schon als Helikoptereltern bezeichnet, deren Rotor sich immer über den Köpfen der Kinder bewegt: Man leitet sie an die Orte, die besonders entwicklungsfähig scheinen, und kontrolliert sie auch noch aus der Ferne. Gerade das Handy und das dauernde Nachfragen über WhatsApp, was die Kinder gerade tun und wo sie sich im Moment befinden, gehört zu dieser Form der subtilen Überwachung. Auch Abenteuerspielplätze geniessen bei Guggenbühl wenig Kredit: «Piratenschiffe» und «Burgen» täuschten lediglich darüber hinweg, dass es sich um «Gefangeneninseln» handle, die unter der Observation der Erwachsenen stehen.
Die Scheinwelten der Kinder
Dahinter steckt der Vorwurf, dass Kinder sich in einer Scheinwelt bewegen, wenn sie sich nur in Schutzzonen bewegen dürfen. Erwachsene suchen ein Leben der Berechenbarkeit durchzusetzen. Sie erwarten reibungslose Abläufe und wollen Überraschungen verhindern. Die Chancen spontaner Erlebnisse und unerwartete Begebenheiten sind der Schreck einer Erziehung, die den Kompass schon früh im Leben der Kinder stellt und alles abzuwehren versucht, was in eine andere Richtung zeigt.
Daraus entsteht ein Generationenkonflikt: So pfeifen Jugendliche auf die starren Umgangsformen der Erwachsenen. Sie sind, so Guggenbühl, für sie ein Gräuel. Da sie noch nicht in das Arbeits- und Erwachsenenleben integriert sind, benehmen sie sich unangepasst und schauen mal, was passiert, indem sie die Umgebung spontan ausprobieren und austesten. Allerdings wird eine solche Ungebundenheit immer schwieriger, je mehr die Erwachsenen das Leben bestimmen. So wird es für Kinder auch immer schwieriger, Experimente durchzuführen und Risiken einzugehen. Guggenbühl sieht dies ähnlich wie der Medienpsychologe Neil Postman, der für Amerika schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Kinder vorwiegend als Projekt für die unerfüllten Wünsche der Eltern beschrieben hatte.
Schule und Lehrplan 21 als Anpassung an unrealistische Normen
Die Folgen dieses behütenden und ehrgeizigen Verhaltens sind an den Schulen zu spüren. Denn für Guggenbühl liegt darin der Schlüssel für die Bewertung der Schule und der neuen Anforderungen des Lehrplans 21, der die Anforderungen der Schule immer stärker dominiert. Die jüngsten Schulreformen wie der Lehrplan 21 erhalten in dieser Sichtweise wenig Kredit. Es gehe um einen unnatürlichen Zwangsakt, indem ein Ideal per Dekret den Schülerinnen und Schülern aufgezwungen werde. Das dazugehörige Losungswort «Accountability» (zu Deutsch: «Rechenschaft ablegen über seine Leistungen» trage das Scheitern in sich. Denn die Jugendlichen werden damit an Normen gemessen, denen kein Mensch in Wirklichkeit je nachlebe.
So seien soziale Kompetenzen sogar promotionsrelevant. Lehrpersonen hätten so ein Mittel, um die Schülerinnen und Schüler nach Belieben zu verurteilen. Schnell würden damit Ausrutscher oder unanständiges Verhalten als soziales Defizit und Problem beachtet.
Schulen als Begegnungstätten und Arbeitsanstalten
Demgegenüber sieht Guggenbühl die Schule in einem Beziehungsgeflecht, das nicht primär vom Erlernen der Schlüsselqualifikationen der Wirtschaft dominiert wird. Sie sollte eine Begegnungsstätte mit Kollegen sein. So sollten Schulen die Möglichkeit bieten, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen, mit ihnen über aktuelle Themen zu debattieren, Freundschaften zu schliessen, zu streiten und zu erzählen. Die von ihm in der Schule vorgesehenen Rollen sind Oberbandenführer, Inspiratorin oder Wissensvermittlerin.
Guggenbühls Kritik an einer Erziehung und Schule, die stark auf Abhängigkeit und Identifikation mit den Zielen der Erwachsenen setzt, ist in vielen Teilen berechtigt. Dennoch wirkt es seltsam, wenn Guggenbühl den Oberbandenführer in seinem Text männlich konnotiert, dagegen in der weiblichen Form von Inspiratorin und Wissensvermittlerin spricht. Auch aus seiner Forderung zur Arbeit von Kindern spricht ein seltsam veraltetes Verständnis von Pädagogik. So hält Guggenbühl ein Plädoyer für Kinderarbeit: Zwar hätten Kinder ein Recht auf Bildung, was im 19. Jahrhundert zum Verbot der Kinderarbeit geführt habe. Doch das Verbot der Kinderarbeit sei heute überholt. Denn es führe nur dazu, Kinder und Jugendliche vom Leben auszuschliessen. Wörtlich fordert Guggenbühl: «Wenn Kinder partiell in den Arbeitsprozess intergiert wären, hätte dies auch einen pädagogischen Nutzen. Sie realisieren, dass Geld nicht vom Himmel fällt oder von den Eltern herangezaubert wird, sondern das Resultat einer Leistung ist. Sie merken, was Geld bedeutet und dass man etwas dafür tun muss. Kinder sollten deswegen schon frühzeitig am Arbeitsprozess beteiligt werden. Sie haben ein Recht auf Arbeit und Verdienst. Sie dürfen nicht aus der Arbeitswelt ausgeschlossen werden» (S. 207).
Allerdings geschah dieser Ausschluss aus der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert gerade zum Schutz der Kinder vor Ausbeutung im Arbeitsprozess. Damals war die Familie vor allen eine Arbeitsgemeinschaft, wo alle mitarbeiten mussten. Kinder verrichteten meist Hilfsarbeiten und wurden seit frühester Jugend ausgebeutet – ohne dass sie je eine Schule von innen sahen. Solche Zustände will niemand zurück – zumal Kinderarbeit in der Dritten Welt oft noch selbstverständlich ist. Das Verbot der Kinderarbeit ermöglichte erst die Bildung aller Kinder in der Schweiz.
Zurück in Arbeitsschulen wie anno dazumal?
Dass Arbeit an sich zu mehr Selbstgefühl als Bildung führte, ist deshalb eine reine Behauptung. Zwar kann es Kindern gut tun, in den Ferien oder unregelmässig einmal zu arbeiten, um das Taschengeld aufzubessern und den Wind zu spüren, der in der Arbeitswelt vorherrscht. Regelmässige Arbeit anstatt Schule – z.B. zwei Tage in der Woche – wie es Guggenbühl vorschlägt, ist dagegen problematisch. Denn die Hilfsarbeiten, die Guggenbühl dafür vorsieht, machen pädagogisch wenig Sinn. So nennt er Lagerarbeiten, Arbeit auf dem Feld oder kleinere kaufmännische Arbeiten, die Mitarbeit in einem Laden beim Nachfüllen der Gestelle, Reinigungsdienste und Beratungen.
Pädagogisch ist dies kein Konzept zur Vorbereitung auf eine komplexe digitale Welt, die den Menschen ganz neue Aufgaben für die Lebensbewältigung stellt. Lagerarbeiten oder Reinigungsdienste geben beruflich höchstens noch Perspektiven für ein eingeschränktes Leben unter prekären Bedingungen ab. Es ist auch zu bezweifeln, ob mit solchen Hilfsdiensten der nach Guggenbühl vertagte Aufbruch ins Erwachsenleben gegeben wäre. Denn wenn sich in dem Aus- und Weiterbildungssystem die Jugendlichen «ducken und nach den Launen der Alten tanzen» (S.112) müssen, so könnte das genauso in jenem Teil des Arbeitslebens passieren, das die Schule ersetzt.
Allan Guggenbühl, Für mein Kind nur das Beste. Wie wir unseren Kindern die Kindheit rauben, Zürich 2018 (Orell Füssli Verlag)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Guggenbühl hat in vielem Recht. Das Schlimmste tun Politik und Gesellschaft den Kindern an: Meine Kindheit war geprägt von der Furcht eines sich entflammenden kalten Krieges. Parallel dazu wurden das Ende der Ölvorkommen und die kommende Eiszeit verkündet. No future. Danach kamen Waldsterben, Ozonloch, Klimawandel, Wasserverknappung, Ozeanversauerung, Insektensterben, Singvögelsterben, Sandkrise, Energiewende, Rentensystem, Kostenexplosion im Gesundheitswesen, Überalterung der Bevölkerung. Hauptsache, der Weltuntergang kann verkündet werden. Parteiprogramme voller sektiererisch anmutender Utopien, Erziehung verkommt zur Umerziehung. Die heutige Jugend läuft nicht mehr mit selbstbepinselten Lederjacken «No future» herum, aber ihre Perspektivenlosigkeit braucht ein Ventil. Alkoholmissbrauch, Computerspiele, das übersexualisierte Internet sind die Angebote. Eine wohlbehütee Kindheit im Elternhaus, Billigware aus China und political correctness im Sprachgebrauch sind das Valium der 2000er-Jahre. Der Realitätsbezug geht verloren, gesundheitlich bedenkliche Ernährungsideologien der Veganer, Fructarier, Flexitarier und die moralische Pflicht, sich von Insekten zu ernähren, bedienen das Bedürfnis des Auserwähltseins, wie einst und heute Sekten und in finsteren Zeiten das Arische. Zu finden bleibt der Weg aus der Wohlstandsdekadenz, hin zu einem Weltverständnis, wonach wirtschaftliches Überleben keine Selbstverständlichkeit, ein gesunder Egoismus Teil jeder Überlebensstrategie ist.
Guggenbühl: «Wenn Kinder partiell in den Arbeitsprozess intergiert wären, hätte dies auch einen pädagogischen Nutzen. Sie realisieren, dass Geld nicht vom Himmel fällt oder von den Eltern herangezaubert wird, sondern das Resultat einer Leistung ist. «
Offensichtlich hat Herr Guggenbühl selber nicht viel Ahnung von Geld. Denn mit dem erbringen von Leistung hat es nichts zu tun. Das Wissen alle, welche z. B. mal auf dem Bau gearbeitet haben. Die Kernfrage dieses Artikels scheint zu sein:» Wie können wir unsere Kinder auf eine entmenschlichte und asoziale Gesellschaft vorbereiten wo sie tun sollen wie geheissen?». Ich mag diese Frage nicht. Mich interessiert vielmehr: Wie können wir eine Gesellschaft bilden, die Menschengerecht ist? Wohl weder mit Kinderarbeit noch mit der Digitalisierung. Wir benötigen ein neues Geldsystem, eine Rückverteilung von Privat- und Staatseigentum zu Allgemeineigentum und ein neues Naturverständnis wo wir mit und nicht gegen sie arbeiten. Dann müssen wir auch keine Kinder zu Arbeits- und Konsumsklaven züchten.