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«10vor10» berichtet über die Recherchen von «Tages-Anzeiger», «Süddeutscher Zeitung», BBC und NDR © srf

Implantate-Opfer haben genug von Bundesrat und Swissmedic

Urs P. Gasche /  Künstliche Bandscheiben führten zu extremen Schmerzen. Schuld sind auch die Behörden, die nach früheren Skandalen passiv blieben.

Der neuste Implantat-Skandal, den ein internationales Recherche-Team mit Beteiligung des «Tages-Anzeigers» aufgedeckt hat, ist nur ein Fall von mehreren. Schuld sind Geldgier, Interessenkonflikte und Intransparenz bei der Zulassung der Implantate. Doch Bundesrat, Parlament und die Zulassungsbehörde Swissmedic tun viel zu wenig, um weitere vermeidbare Implantatopfer zu verhindern.

Im Jahr 2012 hatte der Bundesrat auf Antrag von SP-Bundesrat Alain Berset als Gesundheitsminister eine Motion seiner Parteikollegin Bea Heim unter anderem mit dem unfassbaren Argument abgelehnt, eine zusätzliche Qualitätsprüfung von Implantaten «könnte zu vermeidbaren Handelshemmnissen führen». Also lieber Opfer von unzulänglichen Implantaten in Kauf nehmen als ein Handelshemmnis.
Es sei besser, das «bestehende System zu optimieren», zum Beispiel «im Rahmen der laufenden Revision der Medizinalprodukte-Richtlinien» der EU, meinte der Bundesrat. Doch darauf warten Patientinnen und Patienten bis heute vergeblich.

«Auch Schweizer Patienten sind Versuchsobjekte»
Unter diesem Titel hatte Infosperber schon vor fünf Jahren gewarnt, dass «Implantate und künstliche Gelenke medizinisch ungeprüft auf den Markt kommen». Getestet würden sie erst am Patienten. Und wörtlich weiter:
Wer in der Schweiz ein Brustimplantat, eine Hüftprothese oder einen Herzschrittmacher erhält, muss viel Vertrauen haben. Vertrauen darauf, dass die Implantate tatsächlich nützen, einwandfrei funktionieren und sicher sind. Denn bei Medizinprodukten wird nur geprüft, ob sie nach EU-Norm technisch einwandfrei produziert sind (CE-Zertifikat). Ob sie sich am Patienten bewähren, zeigt sich erst, wenn Chirurgen sie eingesetzt haben. Es kommt viel zu häufig vor, dass künstliche Gelenke, Stents oder Herzkatheter nach Warnungen oder gar Todesfällen wieder aus dem Verkehr gezogen werden.

Brustimplantate mit billigem Industrie-Silikon

Bis 2010 konnten in der Schweiz Brustimplantate verwendet werden, die aus billigen Industriesilikon bestanden. Die Zertifizierungsstelle TÜV Rheinland führte beim Hersteller keine unangemeldeten Kontrolle durch und zertifizierte die Implantate jahrelang weiter. So haben Chirurgen Hunderttausenden Frauen auf der ganzen Welt fehlerhafte Brustimplantate eingesetzt, die in vielen Fällen rissen. Der TÜV Rheinland verteidigte sich: Er habe gesetzlich nur die Produktunterlagen sowie das Management der Qualitätssicherung prüfen müssen –nicht aber die Implantate selber. Sogar als diese Implantate in den USA verboten wurden, reagierten die europäischen Zulassungsbehörden nicht, sondern liessen sie noch zehn weitere Jahre zu. Die Hersteller benutzen die Patientinnen und Patienten in Europa als Versuchskaninchen, weil die Haftungsrisiken in den USA viel grösser sind.

Zertifizierung eines künstlichen Hüftgelenks
Hersteller können unter rund fünfzig meist privaten Zertifizierungsstellen eine beliebige aussuchen. Falls eine zögert, können die Firmen eine andere wählen, welche dann die Kosten für die CE-Zertifizierung kassieren kann.
Wie einfach es ist, für ein CE-Zertifikat beispielsweise ein Hüftgelenk zu erhalten, hatten vor sechs Jahren Reporter des «British Medical Journal» und des «Daily Telegraph» bewiesen: Es war ihnen ohne weiteres gelungen, die europäische Marktzulassung für ein Hüftgelenk zu erhalten, das gar nicht existiert. Die fiktiven Unterlagen reichten sie gleichzeitig bei 14 Zertifizierungsstellen ein. Aus den Unterlagen ging hervor, dass das Hüftgelenk giftige Stoffe absondert und aufgrund von Konstruktionsmängeln wohl bald brechen würde. Das Design der Prothese war eine Beschreibung einer früheren fehlerhaften Prothese. Die Reporter gaben sich als Vertreter der ebenfalls fiktiven Firma «Change Medical» aus.

  • All dies hinderte EU-Zertifizierungsstellen nicht daran, das CE-Gütesiegel zu verleihen und von den Firmen Gebühren zu kassieren.

«Schlechter geprüft als Haushaltgeräte»
Wie gravierend die Mängel dieses Zulassungssystems sind, hatte auch ein Beitrag des ARD-Wirtschaftsmagazins «Plusminus» gezeigt. Herzschrittmacher und künstliche Gelenke würden für eine CE-Kennzeichen teilweise schlechter geprüft als Haushaltsgeräte. Trotzdem kommen sie europaweit in Spitälern zum Einsatz. Kommt es bei Patientinnen und Patienten später zu Komplikationen, sprechen Hersteller von «bedauerlichen Einzelfällen». Wie viele Betroffene es tatsächlich gibt, darüber schweigt die Branche – aus Rücksicht aufs Geschäft. Auch die Behörden beschaffen sich keinen Überblick. Das «Geschäftsgeheimnis» der Firmen geht vor.

Swissmedic verlangt nicht einmal, dass registriert werden muss, wer welche Implantate eingesetzt hat. Diese Informationen wären für Warnungen an Betroffene sowie für Qualitätsstudien wichtig. Der «Tages-Anzeiger» kommentierte: «In der Schweiz kennen die Behörden jedes Auto oder Motorrad, bis zum Halter und zur Lackfarbe. Aber bei vielen lebenswichtigen Medizinprodukten haben die Behörden keine Ahnung, wie viele dieser Geräte ud welche Gerätemodelle im Umlauf sind.»
Swissmedic akzeptiert sogar, dass die beiden Zertifizierungsstellen in der Schweiz, die von der EU anerkannt sind, mit den Herstellern Geheimhaltungsklauseln abschliessen. Deshalb gelten Zahlen über zertifiziert oder abgelehnte Implantate als «Geschäftsgeheimnis».
Eigentlich erwartet die Bevölkerung, dass die Behörden Skandale wie den bei den Bandscheiben-Implantaten aufklären, öffentlich machen und sanktionieren. Das Vertrauen in sie wird ziemlich angekratzt, wenn es ein recherchierendes Journalisten-Team braucht, um das Ausmass der Interessenkonflikte, Intransparenz ud Verantwortlichkeiten aufzudecken.

Der neuste Skandal in Kürze
Zwei Schweizer Professoren berieten gegen gute Entschädigungen die britische Firma Ranier, die ein neues Kunststoff-Implantat namens Cadisc-L für die Bandscheibe entwickelte.


Zwei Test-Versuche an Pavian-Affen verliefen katastrophal. Doch Ranier wählte im Jahr 2010 eine der kulantesten der 50 europäischen Zulassungsstellen aus und bezahlte sie für eine CE-Zertifizierung. Dabei verheimlichte die Herstellerin die Resultate der Tierversuche. Die Zertifizierungsstelle fragte offenbar nicht, ob Tierversuche vorliegen.
Die CE-Zertifizierung erlaubt den Verkauf in ganz Europa einschliesslich der Schweiz. Drei bis vier Jahre später erlitten siebzig Patienten in Deutschland Höllenschmerzen und mussten sich die künstlichen Bandscheiben herausoperieren lassen. Der Potsdamer Orthopäde Karsten Ritter-Lang, der eine solche fehlerhafte Bandscheibe entfernte, spricht von einem «Super-GAU».

In der Schweiz setzte einer der Professoren, der Orthopäde Max Aebi, als Belegarzt der Berner Hirslanden-Klinik Salem, sieben Patienten das Implantat ein.

Bis heute haben sich weder Aebi noch das Spital dafür interessiert, wie es diesen sieben Patienten geht. Sie warnten sie auch nicht vor den massiven Problemen, mit denen sie konfrontiert werden könnten.
Im Jahr 2014 wurde der Verkauf des Implantats gestoppt. Schadensforderungen an die Herstellerin Ranier laufen ins Leere, weil die Firma den Konkurs angemeldet hat.


Orthopäde Thomas Steffen im «10vor10»
Professor Thomas Steffen nahm ebenfalls Geld von der Herstellerfirma und befürwortete die Markteinführung des Implantats Cadisc-L. Im «10vor10 erklärte er: «Wir hatten das Gefühl, es könnte klappen … Man muss etwas wagen.»

Wischiwaschi des Bundesrats

Die Haltung der Behörden war bei der Ablehnung der Motion Heim vor sechs Jahren deutlich geworden. Nach Rücksprache mit Swissmedic erklärte der Bundesrat zwar einerseits, es sei «unbestritten, dass Handlungsbedarf besteht». Doch andrerseits behauptete er wenige Abschnitte später, die «Versorgung mit qualitativ hochstehenden Medizinprodukten» sei «sichergestellt». Deshalb seien die «laufenden Bemühungen für eine gezielte, europaweit geltende Verbesserung zielführender» als die Vorschläge der Motionärin Bea Heim.
Der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen schlug etwas später vor, für alle Medizinprodukte eine europaweite, unabhängige Zulassung vorzuschreiben.
Passiert ist nichts.

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Swissmedic hält sich bedeckt

Direkt zuständig für «qualitativ hochstehende Medizinprodukte» ist in der Schweiz Swissmedic. Infosperber hat der Aufsichtsbehörde folgende Fragen gestellt:

  1. Wann und wie hat sich Swissmedic seit dem Brustimplantat-Skandal [2010] für die PatientInnen eingesetzt und öffentlich verlangt, dass die CE-Zertifizierung wesentlich verbessert wird?
  2. Antwort Swissmedic:
    «Swissmedic hat sich dafür eingesetzt, dass die Regeln für die CE-Markierung konsequent umgesetzt werden im Rahmen der Bewilligungen von klinischen Versuchen für Medizinprodukte, im Rahmen der Beteiligungen an Joint-Assessments und in EU-Arbeitsgruppen, bei der Durchführung von Inspektionen bei Herstellern, Spitälern, Konformitätsbewertungsstellen, bei der Marktüberwachung, Durchsetzen von Massnahmen bei Herstellern, Konformitätsbewertungsstellen; führen von Verwaltungsmassnahme- und Verwaltungsstrafverfahren.
    Entsprechende Publikationen über diese Tätigkeiten sind z.B. in den Unterlagen zu den jährlich stattfindenden Kontaktpersonen-Tagungen der Materiovigilance, im Swissmedic Journal oder in den Swissmedic Geschäftsberichten (vor allem nach 2012 in Zusammenhang mit der Aufarbeitung des PIP-Skandals in Europa, Stichwort „Dalli-Plan“) zu finden, siehe etwa Folien Kontaktpersonen-Tagung 2012; GB 2013, Seite 14 ff, GB 2014, GB 2015 usf.»

    Im Klartext: Swissmedic hat sich für die Patientinnen und Patienten nie öffentlich eingesetzt und zu Wort gemeldet, um eine wesentliche Verbesserung der Zertifizierung zu verlangen. Swissmedic macht geltend, ein «Vollzugsorgan» und «kein Gesetzgebungsorgan» zu sein. Doch kein Politiker kann besser wissen, was zu tun wäre, als die Swissmedic.

    Swissmedic informiert nicht darüber, dass der neuen Medizinalprodukteverordung der EU fast alle Zähne gezogen wurden. In einem Interview mit der BBC erklärte die deutsche EU-Abgeorndete Dagmar Roth Behrendt, welche an der Erarbeitung der EU-Verordnung bis 2014 beteiligt war, dass griffige Paragraphen schrittweise verändert oder gestrichen wurden: «Das Lobbying der europäischen Hersteller war etwas vom Dunkelsten, was ich in meiner Zeit in Brüssel erlebt habe.» (zitiert im «Tages-Anzeiger» vom 29.11.2018)
    Als «Vollzugsorgan» klärt Swissmedic nicht darüber auf.

  3. Unterstützt Swissmedic die Forderung, dass die Firmen die Zertifizierungsstellen nicht mehr direkt für ihre einzelnen Zertifizierungen zahlen?
  4. Antwort Swissmedic:
    Die neue Regulierung (MDR und IVDR), welche in der EU verabschiedet wurde, beinhaltet privatrechtliche Prüfstellen (NB’s = notified bodies oder Deutsch „benannte Stellen“). Wichtiger als die gestellte Systemfrage – über die allenfalls Gesetzgeber entscheiden – ist der Vollzug. Es muss sichergestellt werden, dass die in der Regulierung zugeteilten Kontrollaufgaben mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen übereinstimmen.

    Im Klartext: Swissmedic lehnt die Forderung ab, dass die Prüfstellen künftig nicht mehr für die einzelnen CE-Zertifikate von den Firmen direkt bezahlt werden und damit von ihnen abhängig sind. Sie schlägt dem Gesetzgeber «allenfalls» keine Änderung vor.

  5. Untersützt Swissmedic die Forderung, dass sämtliche Unterlagen zur Zertifizierung öffentlich zugänglich sein müssen?
  6. Antwort Swissmedic:
    «Dazu nehmen wir keine Stellung.»

    Kommentar: Es ist nicht bekannt, dass Swissmedic je die Offenlegung dieser Unterlagen gewünscht hätte.

  7. Welche Sanktionen gegen Unternehmen und deren Verantwortliche würde Swissmedic begrüssen, wenn diese den Zertifizierungsstellen wichtige Unterlagen vorenthalten?
  8. Antwort Swissmedic:
    Als für die Heilmittelpolizei zuständige Bundesbehörde begrüsst Swissmedic, dass der Gesetzgeber in den jüngst erfolgten oder noch bevorstehenden Gesetzesrevisionen im Heilmittelbereich (Ordentliche Revision Heilmittelgesetz (2. Etappe) & Ausführungsrecht, Medicrime-Konvention, europäische Richtlinie «Falsified Medicines Directive» und Ausführungsrecht, Totalrevision Medizinprodukteverordnung usw.) der strafrechtlichen Verfolgung von Verstössen mehr Gewicht einräumt.

    Im Klartext: Swissmedic schlägt keine neuen Sanktionsmöglichkeiten und keinen konkreten Sanktionsrahmen vor.

  9. Welche Sanktionen gegen eine Zertifizierungsstelle würde Swissmedic begrüssen, welche eine Zertifzierung fahrlässig erteilt?
  10. Antwort Swissmedic:
    «Die zukünftigen Regelungen bieten genug Handhabe für Verwaltungsmassnahme-/Verwaltungsstrafverfahren. Und: Mit der Revision des Medizinprodukterechts erhalten Zertifizierungsstellen ihre Bezeichnung nur noch nach vorgängiger Inspektion und Prüfung der Qualifikation durch internationale Inspektorenteams. – Bezüglich „Sanktionen“ noch dies: Massnahmen und allfälliges Strafmass richten sich nach jedem einzelnen Fall, letzteres ist im Übrigen auch von Gerichten abhängig.»

    Im Klartext: Swissmedic schlägt keine neuen Sanktionsmöglichkeiten und keinen konkreten Sanktionsrahmen vor.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Swissmedic

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Diese BAG-Behörde erlaubt alle Medikamente, deren Nutzen grösser ist als der Schaden. Zu viel läuft geheim.

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2 Meinungen

  • am 30.11.2018 um 12:08 Uhr
    Permalink

    Ob da vielleicht nicht der Ausdruck ‹Korruption› angebracht ist? Einfach schlimm!

  • am 6.12.2018 um 11:48 Uhr
    Permalink

    Es ist weit mehr als Korruption! Zu all dem lesen wir heute im TA, dass Primaten erfolgreich Schweineherzen implantiert worden seien. Gepriesen als wissenschaftlicher Durchbruch. Für den Menschen nur noch eine Frage der Zeit bis er mit Schweineherzen unsterblich wird? Andere Kreatur als der Homo Sapiens ist nur noch Futtertrog oder Werkzeugkiste. Mir wäre lieber, diese «Forscher» würden etwa das Problem von Resistenzbakterien lösen, bevor sie uns Schweineherzen implantieren. Aber eben: Bundesrat und Swissmedic werden den Frevel zu rechtfertigen wissen, wenn es gewissen Kreisen rentiert.

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