Der Spieler: Hier ist die Welt noch in Ordnung
Worin besteht wohl der Unterschied zwischen den angeblich „zehn besten Toren der Welt“ und den „zehn schönsten Toren der Welt“? Die wahren Freunde des Fussballs kümmert’s einen Deut. Hauptsache, ihre Zeitung, ihr Magazin, ihr Sport-Portal sortiert ihre Welt und sagt, was gilt, was gut und was schlecht ist. Fans sehen sich durch die Einschätzung in ihrer Meinung bestätigt. Wenn nicht, geben die Ratings Anlass zu mitunter heftigen Diskussionen, man schimpft über sie („Keine Ahnung von Fussball!“) – und wartet auf „Die zehn besten Fallrückzieher-Tore der Welt“.
Ordnung schafft Sicherheit
Ordnung schafft Sicherheit, die einem urmenschlichen Bedürfnis entspricht: Wer weiss, wo die Dinge hingehören, weiss auch, wo er selber steht und wie er sich in seinem Umfeld zu orientieren hat. Das erklärt auch, weshalb die Geschichte der Menschheit von Auseinandersetzungen um die Orientierungshoheit geprägt ist. Heute tobt dieser Machtkampf mit aller Vehemenz: Die traditionellen historischen Deutungsinstitutionen, wie Kirchen, Parteien, Medien, haben in den vergangenen Jahrzehnten massiv an Einfluss verloren. Andere drängen an ihre Stelle: Selbsternannte Blogger-Propheten, fundamentalistische Ideologen, autoritäre Machthaber, um nur einige zu nennen. Das geschieht ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem die Verhältnisse in den verschiedensten Bereichen immer komplexer, schwieriger und unübersichtlicher werden mit der Folge, dass die allgemeine Verunsicherung zunimmt.
Die Tatsache, dass in den Medien laufend neue Rankings veröffentlicht werden, hängt mit dieser Entwicklung zusammen. Denn solche Ranglisten erwecken den Anschein, dass wir – grosses Chaos hin oder her – immer noch in der Lage sind, wenigstens in einem kleinen Bereich den Überblick zu bewahren. Zufrieden nehmen wir zur Kenntnis, welches die zehn schönsten Weihnachtsmärkte in Nordrhein-Westfalen sind, die zehn hässlichsten Autos oder zehn süssesten Katzen der Welt. Selbst wenn wir Informationen dieser Art konkret nicht nutzen können, sind wir beruhigt: Hier ist die Welt noch in Ordnung!
Ein moderner Spielklassiker
Es würde fast an ein Wunder grenzen, liesse sich das urmenschliche Bedürfnis nach Rangieren, Sortieren und Ordnen nicht auch spielerisch ausleben. Vor genau 20 Jahren hat der Berner Spieleautor Urs Hostettler mit „Anno Domini“ im Verlag Fata Morgana das erste Einschätz- und Ordnungsspiel veröffentlicht. Die ersten fünf Sets waren den Themen „Kirche & Staat“, „Schweiz“, „Sex & Crime“, Lifestyle“ und „Natur“ gewidmet. Über 30 Ausgaben gibt es mittlerweile. Die bislang letzte Ausgabe, in der es um „Kuriositäten“ geht, ist kürzlich erschienen.
„Anno Domini“ hat sich in kürzester Zeit zu einem modernen Spielklassiker entwickelt, das heisst zu einem Spiel, das in jede Spielesammlung gehört, die diesen Namen verdient. Es ist ein Geniestreich von einem Spiel (dazu mein Artikel im „Infosperber“ vom 27. September 2014, siehe Link unten). Allein schon die schier unermessliche Fülle von rund 10’000 Ereignissen, die alle darauf warten, in eine Ordnung gebracht zu werden, fordert allen Respekt vor der gewaltigen Leistung des Autors und seines Teams. Doch nicht darin liegt das Innovative, mit dem „Anno Domini“ die Welt des Spiels bereichert hat. Neu war, dass Hofstettler das Schaffen einer Ordnung zwar vordergründig zum obersten Prinzip erhob, dieses aber gleichzeitig wieder durchbrach. Denn wer in „Anno Domini“ Ereignisse ordnet, kann nie sicher sein, ob diese Ordnung vor den Mitspielenden Bestand hat. Bluffen ist erlaubt, was aber mit gewissen Risiken verbunden ist: Denn wer auch nur den geringsten Zweifel an der Richtigkeit der ausgelegten Ordnung hat, äussert seine Bedenken, worauf die Auslage geprüft wird. Daumen hoch oder Daumen runter? Richtig oder falsch? Dieser Moment der Entscheidung verleiht dem Spiel jene Spannung und Emotionalität, nach denen „Anno Domini“-Spieler immer wieder von neuem suchen. Über das Wechselspiel zwischen Ordnung und Zweifel liesse sich ausgiebig philosophieren. Ich wende mich aber drei Titeln zu, die nach dem „Anno Domini“-Prinzip aufgebaut sind.
Norden und Süden
Einer davon ist „Usgrächnet Bünzen“ (Game Factory), die schweizerische Version von „Ausgerechnet Buxtehude“ (Huch-Spiele). Ortskarten müssen hier „richtig“ platziert werden. Liegt der Säntis östlicher als St. Gallen, Zürich nördlicher als Delémont? Durch die Beschränkung auf die Geografie fehlt „Usgrächnet Bünzen“ allerdings die spielerische und zum Blödeln einladende Leichtigkeit, welche „Anno Domini“ auszeichnet. Spannend und emotional bleibt es trotzdem: Denn regelmässig werde ich dabei ertappt, dass ich Ortskarten falsch gelegt habe. Wo war da der angeblich gute Kenner der Schweizer Geographie? Im Unterschied zu „Anno Domini“, das dank der Breite der Themen und der Menge der Karten für ein breites Zielpublikum geeignet ist, haben in „Usgrächnet Bünzen“ Spielerinnen und Spieler einen Vorteil, die über gute Ortskenntnisse verfügen. Dies sollte man berücksichtigen, bevor man das Spiel auf den Tisch bringt. Schliesslich befinden wir uns nicht in einer Geographieprüfung.
Einen anderen Ansatz verfolgt Wolfgang Warsch mit seiner witzigen „Illusion“: Das Spielmaterial besteht hier aus 98 Karten, auf denen unterschiedliche Farbmuster abgebildet sind. Ist man dran, sortiert man eine Farbkarte in eine stetig wachsende Reihe ein. Richtig platziert ist eine Karte, wenn auf dieser der Anteil der für diese Runde vorgegebenen Farbe höher ist als auf der links angrenzenden Karte. Eine scheinbar einfache Aufgabe, aber eben nur scheinbar: Mit Erstaunen stellen wir nämlich fest, dass wir uns nicht immer hundertprozentig auf das verlassen können, was wir sehen. Man traue seinen eigenen Augen nicht, sagt man oft beiläufig. In „Illusion“ erfährt man, wie leicht man sich täuschen und deshalb Punkte verlieren kann. Im Spiel nehmen wir das überhaupt nicht tragisch und lachen sogar darüber, da man nach einer Niederlage eine neue Runde mit neuer Chance beginnen kann. Im wahren Leben sieht das ein wenig anders aus. Aus diesem Grund könnte man „Illusion“ auch zum Anlass nehmen, über richtige und falsche Wahrnehmung zu reflektieren, was in den Zeiten von Fake-News und -Bildern durchaus sinnvoll wäre.
Vom spielerischen Witz, der „Anno Domini“, „Usgrächnet Bünzen“ und „Illusion“ auszeichnet, ist leider in „Timeline“ (Asmodée), dem dritten „Anno Domini“-Nachfolger, nicht viel zu spüren. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass der Spieler, der eine Karte gelegt hat, selber gleich prüft, ob die Platzierung richtig oder falsch ist. Damit wird im Vergleich zu den drei genannten Titeln keine zeitliche Spannung aufgebaut. Schade ist auch, dass nicht die Mitspielenden die Richtigkeit der Ablage anzweifeln, was immer einem Spielchen im Spiel gleichkommt. „Timeline“ ist daher auch weniger emotional, weniger reizvoll.
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Anno Domini: Schätz- und Bluffspiel von Urs Hostettler für 3 bis 8 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Fata Morgana/Abacus. 32 verschiedene Ausgaben. Fr. 18.-
Usgrächnet Bünzen: Sortier- und Ablegespiel von Bernhard Lach und Uwe Rapp für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Game Factory, Fr. 19.50 (Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel «Ausgerechnet Buxtehude» bei Huch & Friends erschienen)
Illusion: Sortier- und Einschätzspiel von Wolfgang Warsch für 2 bis 5 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Nürnberger Spielkarten (NSV)/Carletto, Fr. 11.-
Timeline: Sortier- und Einschätzspiel von Frédéric Henry für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Asmodée.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.