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Idlib, letzte Hochburg der syrischen Opposition: Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad © YouTube/n-tv

Vor einer Dreiteilung Syriens?

Amalia van Gent /  Russland, Frankreich, Deutschland und die Türkei wollen über den «Frieden» in Syrien verhandeln. «Idlib» soll als Modell dienen.

Auf einmal wurde es still um «Idlib». Hat der Frieden in dieser syrischen Provinz, die vor einem Monat noch vor einer beispiellosen humanitären Katastrophe bedroht zu sein schien, Einzug gefunden? «Ja», sagen Russland und die Türkei einstimmig. Beide Länder sind Hauptakteure in der Region und bestimmen Idlibs Schicksal massgeblich. Damaskus teilt diesen Optimismus kaum. «Mal sehen», kommentierte betont skeptisch der syrische Aussenminister Walid al-Moualem. Nicht ganz zu Unrecht. In Idlib halten sich noch viele Dschihadisten auf und die fanatischsten unter ihnen, etwa die Kämpfer der extremistisch-islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS), beschwören weiterhin den «heiligen Krieg», den sie nicht aufgeben wollen – und schon gar nicht im Namen eines von Ankara und Moskau ausgearbeiteten «Friedensabkommens». Was ist also los in Idlib?

Hochburg der syrischen Opposition

Nach den grossen Niederlagen der Opposition in Aleppo, Ost-Ghouta, Daraa und anderswo wurden Tausende islamistische Kämpfer mit ihren Familien nach Idlib verlegt. Ihrem Beispiel folgten auch unzählige Zivilisten sunnitischen Glaubens, die aus Angst vor Repressalien der anrückenden pro-syrischen Truppen aus der Heimat flohen. Die Zahl der Menschen, die in Idlib leben, ist massiv gewachsen. Weit über drei Millionen sollen es heute sein, mehr als die Hälfte davon sind Flüchtlinge.
Die Provinz Idlib wurde zur letzten Hochburg der Assad-Gegner. Auf rund 60’000 schätzen türkische Quellen die Zahl der bewaffneten Islamisten, die sich dort verschanzt haben. Sie sind in zwei grosse Gruppen unterteilt:

  • In der Nationalen Befreiungsfront (NBF) sollen sich fast zwei Drittel der islamistischen Rebellen, schätzungsweise um die 40’000 Mann, zusammengeschlossen haben. Die NBF wurde im vergangenen August mit Hilfe Ankaras ins Leben gerufen. Sie wird von der türkischen Armee ausgerüstet und logistisch unterstützt. In Wirklichkeit dürfte sie auch dem Kommando der türkischen Truppen unterstellt sein. Seit ihrer Gründung zählt Ankara die NBF zu den «gemässigten Islamisten».
  • Ihnen gegenüber steht in Idlib die rivalisierende Tahrir al-Sham (HTS). Zur HTS zählen sich Gruppierungen der Al-Kaida-nahen, fanatischen Dschihadisten. Dazu gehören etwa Islamisten aus Tschetschenien sowie radikale Uiguren aus China.

Vor einem Monat rückten die syrischen Truppen gemeinsam mit ihren russischen und iranischen Alliierten entschlossen zum «letzten grossen Schlag» nach Idlib vor. Idlibs Fall schien von geostrategischer Bedeutung. Denn nur nach einer vernichtenden Niederlage der Opposition in Idlib hätte Baschar al Assad seine Macht zementieren und die Souveränität seines Landes wiederherstellen können. Ein Fall Idlibs setzte allerdings grossflächige Bombardements der russischen Flugwaffe voraus – und damit eine beispiellose humanitäre Katastrophe. Doch soweit sollte es nicht kommen.

Erdogans «Mission impossible»

Am 17. September reiste der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu einem ausserordentlichen Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin nach Sotschi. Für Erdogan war Idlibs «Rettung» nun Chefsache: Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 spielte er sich zum Schutzpatron der sunnitischen Opposition auf und stand auch radikal-dschihadistischen Gruppierungen, mal heimlich und dann wieder offen, mit Waffen, Geld und Rat bei. Ihre Niederlagen in Aleppo, Ost-Ghuta und Daraa nahm er im vergangenen Jahr stillschweigend hin. Doch den Fall von Idlib wollte er mit allen Mitteln verhindern. Ein Fall Idlibs hätte dem angeschlagenen Prestige Erdogans unter Sunniten noch weiter geschadet. Ein Fall Idlibs hätte zudem einen neuen Exodus von Abertausenden Flüchtlingen ausgelöst, die einzig in Richtung Türkei hätten fliehen können.
In Sotschi bot Erdogan Putin ein 10-Punkte-Friedensabkommen an, der einer «mission impossible» gleichkam: Das Abkommen sieht als erstes die Errichtung einer 10 bis 15 Kilometer breiten entmilitarisierten Zone rund um die Provinz Idlib vor. Die türkischen Truppen stünden Garant dafür, bis zum 10. Oktober die schweren Waffen aus dieser Zone abzuziehen und bis zum 15. Oktober die «radikalen Terrorgruppen», sprich die Kämpfer der HTS, zu entfernen, versprach Erdogan. Bis spätestens Ende 2018 sollten ferner die zwei wichtigsten Verkehrsachsen der Region, nämlich die Autobahn von Aleppo nach Damaskus sowie jene zwischen Aleppo und Latakia, wieder offen sein. Diese Strassen sind noch immer unter der Kontrolle der HTS. Die Frage, wie der türkischen Armee die Entwaffnung einer der ruchlosesten dschihadistischen Gruppierungen in so kurzer Zeit gelingen soll, liess Erdogan in Sotschi unbeantwortet.

Widersprüchliche Meldungen aus Idlib

Dabei war Putin um nähere Angaben nicht sonderlich bemüht. Er hatte jeden Grund, einfach zufrieden zu sein. Zunächst, weil die von Erdogan vorgeschlagene 10 bis 15 Kilometer breite Pufferzone garantiert, dass die Dschihadisten mit ihren Mörsern und Raketen die russischen Stützpunkte in Latakia nicht angreifen können. Aber auch deshalb, weil Erdogan so viele Verpflichtungen einging, dass «Idlib» mit einem Schlag von einem «russischen» Problem zu einem «türkischen» geworden war.
Beim Ablauf der versprochenen Frist Mitte Oktober kamen aus Idlib widersprüchliche Angaben, die für Aussenstehende kaum zu verifizieren sind. So meldete zum Beispiel die Türkei den Abzug aller schweren Waffen aus der gesamten Pufferzone. Die Tahrir al-Sham (HTS) stritt hingegen in einer öffentlichen Erklärung ab, ihr Ziel, den Dschihad, aufgegeben zu haben. Eine Entwaffnung oder einen Abzug aus ihren Positionen bezeichneten ihre prominentesten Mitglieder als «Verrat an unserer Religion und unseren Märtyrern». Es gebe keine grossen Veränderungen an der Front in Idlib, sagten auch Hilfsorganisationen vor Ort. Doch Moskau zeigte sich nach wie vor zufrieden: Das Abkommen werde umgesetzt, erklärte der Pressesprecher des russischen Präsidenten Dmitry Preskov. «Unsere Armee ist zufrieden mit der Art, wie das die türkische Seite schafft.»

Zementierung der Lage

Seit dem Abschluss des russisch-türkischen Abkommens gibt es in Idlib allerdings eine unbestreitbare grosse Veränderung im Alltag der Bürger: Eine Feuerpause hält seit dem 17. September an, und es scheint, dass keine der Kriegsparteien – nicht die Russen, nicht die Türken und auch nicht die Dschihadisten – diesen fragilen Waffenstillstand verletzen will. «Alle Betroffenen wissen, dass sie bei einem Bruch des Abkommens viel zu verlieren haben», kommentierte Michael Weiss, ein guter Kenner der russischen Aussenpolitik im Nachrichtensender CNN.
Die Angst vor Verlusten hat in Idlib, wenn nicht zu einem Frieden, dann immerhin zu einem Verzicht auf Gewalt geführt. Idlib als «Modell für ganz Syrien» wird am 27. Oktober beim Gipfeltreffen von Russland, der Türkei, Deutschland und Frankreich deshalb im Zentrum stehen. Das «Modell Idlib» könnte allerdings die heutige Situation, die faktische Dreiteilung des Landes, zementieren. Das bedeutet, dass in der ersten, «russisch-syrischen Zone» Baschar al-Assad die politische Unterstützung Russlands und Irans weiterhin geniessen und in Damaskus an der Macht bleiben würde – allerdings ohne die Kontrolle über sein ganzes Land zurückzugewinnen. In der zweiten, «türkischen» Zone im Nordwesten des Landes würde die türkische Armee ihre semi-permanente Präsenz weiter ausbauen können. Unter dem Argusauge Ankaras könnten sich die Islamisten und Dschihadisten ferner in den nordsyrischen Provinzen Afrin und Idlib breitmachen – und damit ein Ende des IS oder seiner Nebenprodukte verunmöglichen. Die Kurden dürften schliesslich den syrischen Nordosten behalten – womit die dritte, die «amerikanische» Zone, zum Entsetzen der Türkei und Syriens, auch künftig nicht wegzudenken wäre.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

BasharalAssad

Der Krieg in Syrien

Das Ausland mischt kräftig mit: Russland, Iran, USA, Türkei, Saudi-Arabien. Waffen liefern noch weitere.

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