Kleiner Mann fliegt nach Amerika und kommt in den USA an
20. Juli 2018
Wäre Johanna Spyris Alpöhi von seinem Maiensäss herabgestiegen, um nach Zürich zu fahren, weil das Heidi sich in seiner Spätpubertät in eine Unterländer Störsennerin verliebt und ihr in die Stadt gefolgt war – er hätte, vermutlich, weniger Angst gehabt, sich im Untergrund des Zürcher Hauptbahnhofs zu verlieren, als ich vor dieser Reise. In das Land, durch das ich mich mit Karl Mays WinnetouOldShatterhandSamHawkins geprügelt, lange bevor ich vom Völkermord an den First Peoples Nordamerikas erfuhr, der die Geschichte der USA begründet. In den Staat, den ich als Sekundarschüler in einem Aufsatz als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Träume beschrieb. Der mir das Thema für einen meiner ersten Schulvorträge lieferte: Abraham Lincoln. Den ich mit dem Namen von John F. Kennedy verband. Dessen Ermordung das erste war, was ich in unserem Schwarz-Weiss-Fernseher sah. Zu dem Volk, das einerseits acht Millionen Tonnen Bomben auf Vietnam und seine Kinder abwarf, andrerseits zu Hunderttausenden gegen diesen Krieg protestierte. Weil es, wie alle Völker, viele war und ist.
Der Alpöhi soll immerhin schon in jungen Jahren im fernen Neapel gewesen sein. Ich aber wurde sechzig, bis ich erstmals den Atlantik sah – auf Ouessant, der westlichsten Insel Frankreichs, die sich in einem halben Tag zügig umschreiten lässt. Zumal einem dann der Aufstieg auf die grösste Anhöhe von rund sechzig Metern erspart bleibt. Und jetzt habe ich Angst, ich könnte mich in diesem Land jenseits des «grossen Teichs» – eine Formulierung, die mich nicht wirklich tröstet – verirren, für immer in den ausgerichteten Strassenschluchten oder schon auf dem Flughafen Chicagos verloren gehen, nicht mehr ins Hotel, nie mehr nach Hause zurückfinden. S. wird ein halbes, Beruhigung versprechendes Temesta gegen die Angst vor dem Fliegen – mit der Erica Jong 1973 erotische Schlagzeilen und Millionen machte – nehmen und sich beim Landen, trotz geschlossener Seatbelts, an die Armlehnen klammern. Aber gegen die Angst vor dem Verschwinden des kleinen Mannes in dem fernen Land, das ihm so «huge» – das Wort hat er irgendwann mit so einem Englisch-App gelernt – erscheint, das nie Mitglied der Europäischen Union werden könnte, weil es noch immer die Todesstrafe kennt, gegen diese Angst gibt es keine Pillen. Immerhin, die beiden Bundesstaaten – in denen ich in diesen knapp drei Wochen schlafen werde – haben die Todesstrafe, soweit es in ihrer Kompetenz ist, abgeschafft. Wisconsin: 1853. Illinois: 2011.
24. Juli 2018
Mein letzter und weitester Flug – das war vor rund 25 Jahren. Ein Verliebter ignorierte in jenen Tagen den CO2-Ausstoss, flog knapp siebenhundert Kilometer – und retour. Jetzt, aus familiären Gründen, das Zehnfache – bis Chicago O’Hare und, hoffentlich, zurück. Die Zahl der (noch) bevorstehenden Kilometer, 7135, leuchtet auf dem Display auf und verringert sich mit einer Geschwindigkeit von gegen tausend Kilometern pro Stunde. «Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein», sang und singt Reinhard Mey. Die Bewegungsfreiheit in dieser dröhnenden Blechkiste über dem mit Plastik versetzten Meer kann der Liedermacher – der «gern mitgeflogen» wär’ – nicht gemeint haben.
Der kleine Mann aus Fällanden schaut neun Stunden zum Fenster hinaus. Auf den Flügel. Der an diesem Tag nur selten ins Wackeln kommt. Kein Film. Kein Buch. Keine Notizen. Kein Powernap. Ein paar Wortwechsel mit S. Schaut immer hinaus. Schaut auf die wechselnden Wolkenformationen. Auf WasserWasserWasser – und Land. Weit unten. Fotografiert. Als einziger. Im Bähnli nach Zermatt knipsen und knipsen und knipsen sie mit ihren SmartphonesTabletsDigitalkameras, als hätten sie Angst, das Matterhorn könnte irgendwann mit den schmelzenden Gletschern versinken. Im Flug LX8 fotografiert niemand. Ist es verboten? Werden mir die Flight Attendants die Kompaktkamera wegnehmen? Mit dem freundlichen Hinweis «Nach der Landung bekommen Sie sie wieder»? Sie tun es nicht. Oder fliegen all die Leute – die sich neben mir reihenweise Blockbusters reinziehen, irgendetwas lesen, dösen, das in Plastik verpackte Essen verdrücken oder sich vor den Lavatories einreihen – so häufig durch die Stratosphäre, dass es sie gar nicht mehr interessiert, wie es ausserhalb dieser Druckkabine, über den Wolken aussieht? Obwohl Reinhard Mey seit langer Zeit verspricht: «Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen.»
Lesen erschliesst kleinen Leuten grosse Welten. Das wird schon am Flughafen Zürich deutlich – könnten, wie in alten Zeiten, nur PfarrerLehrerÄrzte lesen, die freundlichen Damen und Herren an ihren Informationstischli wären nicht in der Lage, das heillose Durcheinander, das die herumwuselnden Analphabetinnen und Analphabeten veranstalten würden, zu ordnen. Aber so findet selbst der Ungereiste – der ein paar Wochen zuvor den Flughafen mit kundiger Unterstützung rekognosziert hat – den Bag-Drop-Schalter und die Sicherheitskontrolle, legt den Pass richtig unter den Selbstscanner, verteilt seine elektronischen Geräte in Plastikschalen, übergibt dem Sicherheitsbeamten sein Jackett und marschiert ohne GurtUhrTaschenmesserPortemonnaieHausschlüssel durch die Schleuse. Findet das richtige Gate, sodass er nicht ausgerufen werden muss, damit er seinen Flieger nicht verpasst.
Trotz rudimentärem Englisch (lesend kann ich wenigstens die Geschwindigkeit selber bestimmen) stapft er in Chicago, nach vergewisserndem Blick auf Mitreisende, in den Socken zum Security-Check und hält die Hände in die Höhe – als würde ihm Al Capone persönlich die Knarre zwischen die Rippen drücken. Auch hier absolviert er problemlos die automatisierte Passkontrolle und beantwortet gehorsam einen weiteren Fragebogen am Computer. Für die ESTA-Genehmigung hat er schon vor Monaten online beteuert, er plane keinen terroristischen Anschlag auf die USA, und jetzt versichert er per Knopfdruck, auch keine «landwirtschaftlichen Produkte wie Keime, Pflanzen, Saat oder Obst im Gepäck» mitzuführen. Und dann geht es doch noch zwei Stunden, bis die Beamtin den Stempel «Admitted» in seinen leeren Pass hämmert. Mit dem ich bis zum 21. Oktober in «den Staaten» hätte bleiben dürfen.
Die Scanner haben nicht richtig funktioniert. Obwohl Hunderte von Einreisenden brav ihre biometrischen Pässe in Lichtstrahlen gehalten und sich aufrecht vor prüfende Kameras gestellt haben, sind sie nicht erkannt worden. Müssen sich in endlose Schlangen einreihen, die sich in Zeitlupe durch die wenigen Schalter schieben, an denen AugenabstandStirnhöheNasenbiegung nochmals von einem freundlichen oder mürrischen Menschen überprüft werden. Bis sie endlich ihre Koffer suchen können, die seit Stunden auf dem Rollband herumkurven, das längst nicht mehr bedient wird. Es ist schon etwa zwei, drei Uhr Schweizerzeit, als ich auf der Liste der Blue line die Station Grand entdecke. «Da müssen wir hin, das ist ganz nahe bei unserem Hotel.» Sage ich zu S.. Stolz, dass ich mich sogar im fünft- oder sechstgrössten Flughafen der Welt zurecht- und auf Google unser Hotel gefunden habe. Noch ahne ich nicht, dass Allmendingen auch in Amerika liegt.
Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts besuchte ich den Schweizer Schriftsteller Sergius Golowin wegen eines Gesprächs für das Buch «Fünf nach zwölf – na und?» in der Villa Caldwell in Allmendingen. Du musst ins Zentrum fahren (damals hatte ich noch ein Auto), bis zur Kirche, bei der Käserei nach rechts, bei der Garage links hinauf, dann fährst du direkt auf unser Haus zu. So oder ähnlich erklärte er mir den Weg. Ich fuhr ins Zentrum, zur Kirche, bog bei der Käserei rechts ab, bei der Garage nach links und landete irgendwo – nur nicht bei Golowin. Musste zurück ins Dorf fahren, um eine Telefonkabine zu suchen – nicht nur ich, niemand hatte damals ein Handy oder Smartphone. Wo ich denn sei, wollte der «Mythenforscher» (Berner Zeitung) wissen, etwas irritiert, er hatte mir doch alles ganz genau erklärt. Schliesslich fanden wir heraus, dass es auch in Allmendingen bei Thun eine Kirche, eine Käserei und eine Garage gab, aber ich hätte nach Allmendingen zwischen Muri bei Bern und Rubigen fahren müssen. Wo ich dann mit einiger Verspätung freundlich zum vereinbarten Gespräch mit anschliessendem Znacht am grossen Familientisch empfangen wurde.
Mehr als dreissig Jahre später stehen wir in Chicago etwas hilflos an einer Strassenecke, was hierzulande offensichtlich genügt, um angesprochen zu werden. «Can I help you?» Wollen verschiedene wissen. Und alle sind sich einig – unser Hotel, das Loews, das ist down town, wo wir offensichtlich nicht sind. Wir steigen in ein Taxi, der Chauffeur – den ich als Schwarzen registriere – fährt weiter als erwartet, schliesslich über den Chicago River, so dass ich ihm unterstelle, er wolle mit den trotteligen Touristen ein Geschäft machen. Das Hotel, sagt die Karte in meinem Kopf, ist auf derselben Seite des Flusses wie Grand. Aber Hauptsache, er bringt uns zum Hotel, wo ich auf der Red Line auch eine Haltestelle Grand entdecke, und die wäre tatsächlich ganz nahe bei unserem Hotel gewesen.
26. Juli 2018
N. hat, vermutlich, recht, wenn sie spottet, es ziehe einen in die Fremde, und dort hätte man gerne, alles wäre wie zu Hause. Es hat etwas Beruhigendes, wenn das WLAN funktioniert, so dass ich in einem Hotel am Lake Michigan oder in einem University House in Madison, Wisconsin, Zugriff auf meine (US-amerikanische) Dropbox habe, an meinen Texten weiterschreiben, den Tagesanzeiger lesen oder mir 10 vor 10 ansehen, mich in meinen Gewohnheiten einnisten könnte. Im Übrigen zieht es mich nicht wirklich in «die Welt» hinaus. Die überfordert mich schon im heimischen Sessel des Medienkonsumenten. Ich bin nur wegen N. mit ihrer Mutter in einen Airbus gestiegen. Damit wir sie nicht anderthalb Jahre nur per Whatsapp lesen oder geskyped sehen können.
In diesen Tagen in Amerika – wie wir die USA gerne nennen, als gäbe es auf diesem Kontinent nur einen Staat – bin ich häufig damit beschäftigt, mit dem Alltäglichen zurechtzukommen. Einen Bancomaten zu suchen, dem ich mit meiner Postcard Dollars entlocken kann. Zum Beispiel. Einen Weg zum See zu finden. Zwischen den sich gegenseitig spiegelnden und Sonne in unser schattiges Vormittagscafé werfenden Wolkenkratzern. Die sich wie Berge aus Chicagos Strassen erheben und an deren Fassaden die Fensterputzer in denselben Gstältli hängen wie die Alpinistinnen im Hinterstoisser-Quergang in der Eigernordwand. Ich versuche, wenig erfolgreich, zu verstehen, was die Bedienung in Restaurants so alles sagt, wenn sie sich und ihre Dienstleistungen hastig, aber äusserst liebenswürdig vorstellt. Zu Sparklingwater zu kommen. Einen Strand zu finden, an dem mich die Lifeguard nicht stoppt, bevor der Kopf nass wird. Wenn die grüne Fahne im Wind hängt, wirft der Agent der Haftpflichtversicherungen seine Schreie wie ein Lasso nach den Schwimmenden oder hetzt ihnen die Kolleginnen in den Ruderbooten hinterher, um sie zurückzuholen, bevor sie den Boden unter den Füssen verlieren. Was das Schwimmen ja eigentlich erst ausmacht. Am Ohio Street Beach – wo auch Ironmen und Triathletinnen trainieren – kann geschwommen werden, solange ArmeBeineLunge mitmachen. Dem Lakefront Trail entlang. Bis zum Hancock Tower. Oder weiter hinaus. Zum Lincoln Park. Und zurück. Wer rechtzeitig da ist und ein Schloss im Rucksack findet, kann KleiderKreditkartenHandy sogar in einem Fach vor Stranddieben schützen und gehört dann schon richtig dazu.
An der Türe des irischen Pubs um die Ecke, direkt am Chicago River, ein Kleber, der Waffen verbietet. Kleines Zeichen des Widerstands gegen die National Rifle Association NRA. Gegen die noch kein US-Präsident regiert hat. Gegen die eine Woche später ein paar in Madison auf die Strasse gehen werden. Mitten in Near North unübersehbar der Name, der einem in diesen Zeiten, selbst in einem neutralen Land – in dem der von US-Amerikanerinnen und -Amerikanern Gewählte gerne als «der Präsident» bezeichnet wird – beklemmend vertraut geworden ist: Donald Trump. Im unteren Drittel des gleichnamigen Towers. In riesigen Lettern. Als hätte der Mann Angst, sein Name könnte vergessen gehen. Obwohl er alles, wirklich alles dafür tut, dass jeder Alpöhi sich an den Mann mit dem Maul – das immerzu «I’m the greatest» zu schreien scheint – erinnert. Er hat die Macht und das Geld, Spuren zu hinterlassen – tiefe, nachhaltige. Und trotzdem ist seine Angst berechtigt – irgendwann wird es gewesen sein, aber das ist heute kein Trost, als hätte es den Trumpel nie gegeben.
Etwas später als bei uns kleinen Leuten. Die, selbst in Demokratien, nichts zu sagen und zu erzählen haben. Glauben sie. «Was bleibet aber, stiften die Dichter.» Diesen Schlusssatz in Friedrich Hölderlins Poem «Andenken» zitierte ein verstorbener Freund gerne. Und hoffte auf ihn. Sein Name, Manfred Züfle, fürchte ich, ist den wenigsten erinnerlich. Seine gedruckten Bücher – vermutlich längst aus den Gestellen der darbenden Buchhandlungen geräumt. Noch verweist eine Website auf sie. Aber irgendwann wird keine und keiner mehr die Hosting-Gebühren bezahlen. Drei unveröffentlichte Manuskripte stehen, ausgedruckt, bei mir – und einer Handvoll anderer – in einem Ordner auf einem Tablar. Beim nächsten oder übernächsten Umzug werden sie dem schrumpfenden Raum, der mir bleiben wird, zum Opfer fallen.
29. Juli 2018
Chicago in der Bohne gesehen. Am Tag, bevor wir über Harvard nach Madison fahren. Im Zug nach Norden wird sich der Mann vom Greifensee wundern, dass dieser «Sehnsuchtsort für Akademiker» (NZZ, 22.5.2014) – mit dem auch Schweizer Manager gerne Visitenkarte und Lebenslauf schmücken – in so einem Kaff im amerikanischen Hinterland, Illinois, liegt. Bis er sich an Allmendingen erinnert und ihm klar wird – das richtige Harvard, «die vielleicht berühmteste Universität der Welt» (NZZ) liegt in Gross-Boston. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat ihren Sitz schliesslich auch nicht am Lake Geneva, etwas nordöstlich von Harvard B.0., sondern am Lac Léman in der Schweiz.
Die «magische Bohne» (Karla Zimmermann: Chicago, lonely planet) steht im Millenium Park. 110 Tonnen schwer und silbern reflektiert sie «sowohl den Himmel als auch die Skyline» (Zimmermann), posierende Touristen und ambitionierte Hobbyfotografinnen. Ist das Chicago? Diese gekrümmten Wolkenkratzer – ein alternatives Bild der Hauptstadt von Illinois? Gilt im wirklichen Chicago die klassische Geometrie noch? Bleibt die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade? Wer zu lange in den Zerrspiegel des Cloud Gates des indisch-britischen Bildhauers Anish Kapoor starrt, beginnt zu glauben, Chicago – das sind Höchsthäuser, WillisHancockTrump Tower, teure Lofts und edle Hotelsuiten. Vergisst das andere Chicago, in dem Häuser nicht in den Himmel wachsen und Geld eine Rolle spielt.
Wir sind schon im beschaulichen Madison, als am Wochenende vom 4./5. August «zwölf Menschen durch Schüsse getötet» (Tages-Anzeiger, 7.8.2018) und siebzig verletzt werden. Hätte die Bohne gespiegelt, dass eine «Welle der Gewalt» durch die Stadt am Lake Michigan ging? Hätten wir Chicagos anhaltendes «Problem mit illegalen Waffen» mitbekommen? Oder uns nur über die etwas häufiger ins Grundrauschen der Stadt eingestreuten Polizeisirenen gewundert? Wie viele Städte gibt es in einer? Wie viele Leben werden, zum Beispiel in dieser Stadt da, parallel zum eigenen gelebt?
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[Alle Fotos: Jm]
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine