Nahrung oder: Die Entpolitisierung des Existenziellen
Die Abstimmenden lehnten am Wochenende die beiden Agrarinitiativen «Fair Food» und «Ernährungssouveränität» deutlich ab. Auf Anhieb ist das unverständlich. Denn gegen fair erzeugte Nahrung und eine eigenständige Nahrungsproduktion gibt es keine vernünftigen Einwände.
Trotzdem ist der Anteil von 61 respektive 68 Prozent Nein-Stimmen keine Überraschung. Denn die anfängliche Zustimmung, die erste Umfragen offenbarten, schmolz schneller als die Gletscher im heissen Sommerklima, nachdem die Wirtschaftsverbände und bürgerlichen Parteien ihre Gegenargumente aufgetischt hatten: «Nein zu steigenden Preisen», «Nein zu weniger Auswahl», «Nein zur Bevormundung», lauteten die drei wichtigsten Argumente des Komitees gegen die beiden Initiativen.
Soll jeder und jede selber entscheiden?
Die meisten Medien setzten diese Botschaft folgsam um: Jeder soll selber entscheiden, was er essen will, befanden sie vor dem Urnengang. Und nach erfolgtem Entscheid wiederholte Tamedia-Redaktor Daniel Foppa diesen Meinungsstrom im Newsnet mit fetten Worten: «Schweizer entscheiden lieber im Laden.»* Und in den Läden, so ergänzte er, «boomen Bioprodukte». Von wegen «Boom»: Bioprodukte im Schweizer Lebensmittelhandel haben heute einen Marktanteil von nur neun Prozent; beim Konsum von Fleisch, dessen Produktion besonders viel Energie und Nahrungskalorien verschlingt, beträgt der Bio-Anteil gerade mal 5,6 Prozent.
Gewiss, über den Inhalt der beiden Agrar-Initiativen konnte und kann man geteilter Meinung sein. Auch eine Zustimmung hätte keine Gewähr für eine fairere und eigenständigere Nahrungsversorgung geboten. Denn ökologische und soziale Verbesserungen stossen im globalen, mit viel Marktgeschwafel gestützten und viel Bürokratie gefestigten Lebensmittel-Handel auf starken strukturellen Widerstand.
Politisches Desinteresse an der Nahrungsversorgung
Bemerkenswerter als das deutliche Nein zu den beiden Agrarinitiativen ist die tiefe Stimmbeteiligung: Nur 37 Prozent der berechtigten Schweizer Bevölkerung nahmen an dieser Abstimmung teil. Zum Vergleich: Im Schnitt der Jahre 2010 bis 2017 betrug die Stimmbeteiligung immerhin 46 Prozent.
Das politische Desinteresse ist deshalb bedenklich, weil es hier um ein existenzielles Anliegen geht. Denn von der Nahrungsversorgung hängt ab, wie viele Menschen hungern und an Unter-, Fehlernährung oder Völlerei sterben. Sie beeinflusst die Entwicklung der Biodiversität. Weiter entscheidet die Art der Nahrungserzeugung, wie stark Böden ausgelaugt, Lebensräume zerstört, Tiere und Menschen ausgebeutet werden. Oder ob die Ernährung der Armen Vorrang hat vor der Produktion von Futtermitteln für die Nutztiere der Reichen.
Die Entpolitisierung der Nahrungsfrage gibt den Sachwaltern des sogenannten Freihandels Auftrieb. Bundesrat Johann Schneider-Ammann etwa witterte schon am Abend des Abstimmungssonntags Morgenluft für entsprechende Abkommen mit Indonesien und Malaysia. Doch Freihandelsverträge, die zwischen Wohlstands- und Hungerstaaten abgeschlossen werden, bringen weder freien noch fairen Handel. Und wer die lebenswichtige Versorgung mit Nahrung allein den individuellen Entscheiden am Ladentisch überlässt, handelt politisch und gesellschaftlich verantwortungslos.
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* Nachtrag: Der gleiche Kommentar von Daniel Foppa erschien am Montag auch in den gedruckten Tamedia-Zeitungen. Dabei unterscheiden sie sich im Titel: Der Tages-Anzeiger und die Zürcher Landzeitungen ersetzten das Wort «Schweizer» mit «Die Stimmbürger» und der Berner Bund mit «Die Leute». Unverändert aber blieb: Alle zusammen – Schweizer, Stimmbürger und Leute – «entscheiden lieber im Laden». So funktioniert Medienvielfalt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
ja, es ist noch nicht jedem klar, dass wir alle im selben Raumschiff durch das Weltall düsen.
Leider kann durch diese Abstimmung die Nahrungsfrage nicht entpolitisiert werden, denn Freihandelsverträge sind und bleiben politisch. Werden z.B. Fragen neokolonialer Zustände nicht politisch gelöst, wie das Währungskorsett der 14 westafrikanischen CFA Staaten, dann kann ein freier Handel mit deren Agrargüter gar nicht statt finden. So bestehen zu viele Einschränkungen um freien und fairen Handel zu betreiben. Dies wäre eine wichtige Grundlage um Qualitäts-Konkurrenz aufbauen zu können.
Danke bringt Kernproblem aufn Punkt, danke> Natürlich ist, im Gegenteil was allgemein propagiet wird, Nahrungsversorgung und insb. Tierwohl ein politisches Thema. Genau hierzu übrigens Sentience-Politics Anlass am Abend 27. Sept 2018: https://www.facebook.com/events/2212917695394303/
Sie haben die Misere super zusammengefasst, Herr Guggenbühl. Man kann von den Leuten, die zur Zeit im Bundesrat und im Parlament bestimmen, nichts anderes erwarten, da kurzfristige Profite und ein verschrobener Freiheitsbegriff mehr zählen als Ethik, Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit, schon an den Waffengeschäften ersichtlich. Dem Menschen gelingt es nicht einmal in der reichen, privilegierten Schweiz seinen tierischen Charakter zu bändigen, nicht einmal hoch-bezahlten Entscheidungsträger, nicht einmal solchen mit «C», «E» oder «S».
Ich habe in einer landwirtschaftlichen Begleitgruppe der Gemeinde Steffisburg mitgemacht, die festgestellt hatte, dass die ländlich geprägte Gemeinde sich nur zu einem fünftel selber ernähren kann, und dies noch ohne Berücksichtigung von importierten Dünger- und Futtermitteln. Die Gemeinde ist also noch wesentlich parasitärer als die Schweiz als ganzes. Es ist fast allen völlig egal, und wird so bleiben, bis wieder Hungersnot in der Schweiz herrscht, spätestens wenn eine massive Finanzkrise auch uns erfasst.
vielen Dank für diesen Beitrag. Die Konsequenzen, werden sich wohl schneller zeigen, als vielen Menschen lieb sein wird. Wer selbst wichtige Entschlüsse vermeidet, wird mit der Ent-scheidung Anderer vorlieb nehmen müssen.
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Habe heute nach der Tagesschau Meteo geschaut. Auch dort findet eine «Entpolitisierung» , hier vielleicht besser eine «Nichtpolitisierung» von etwas Existentiellem statt.
Wenn ich aus dem Ausland Meter schauen würde, würde ich annehmen, dass ausser den Hitzerekorden wettermässig alles im grünen Bereich ist.
Dass wir nicht nur hier im Seeland seit Monaten eine extreme Trockenheit haben und der Boden völlig ausgetrocknet ist wird nie erwähnt. Dass man Igeln und Vögeln Trinkgefässe in den Garten stellen sollte, ist keine Meldung wert. In Meteo ist wohl von Hitzerekorden die Rede aber nie von Trockenheitsrekorde oder kaum von Regenmangel.
In einem interview mit Thomas Kleiber, wo er auf die Gründe der Hitzerekorde in den letzten Jahren angesprochen wurde, hat er mit Beharrlichkeit und einigem Einfallsreichtum das Wort «Klimaerwärmung» erfolgreich vermieden.
Gibt es vielleicht Auflagen an Meteo nur ausgewählte Fakten zu bringen und die BürgerInnen nicht nötig zu beunruhigen, oder gar Gott behüte, einen Zusammenhang herzustellen zum Beispiel zu dieser irrwitzigen Autofahrerei welt- und schweizweit ?