So macht Entwicklungszusammenarbeit Sinn. Z. B. Bolivien.
Red. Der ehemalige Gymnasiallehrer und Botschafter Adrian Hadorn war jahrelang in der Entwicklungszusammenarbeit tätig, insbesondere in Bolivien und Mosambik sowie bei der Weltbank. Er war der erste Koordinator der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), dem der Bundesrat gleichzeitig die Leitung der Botschaft in Maputo (Mosambik) anvertraute.
—
Bolivien hat alle Tiefen der Entwicklung und einige Höhen (für einige wenige Privilegierte) erlebt. Heute ist es ein Vorzeigefall, wie die Mehrheit der Bevölkerung zum Träger der Entwicklung wird.
Ich habe mit meiner Familie zehn Jahre (1975-80/1985-89) in Bolivien als «Entwicklungshelfer» gelebt und gearbeitet. Zwanzig Jahre danach habe ich das Land wieder besucht und mich fragen können, was an EZA nachhaltig war, welches die Treiber der Entwicklung waren und welches die fundamentalen Entwicklungs-Hemmer sind.
Bolivien wurde in der Kolonialzeit und danach als «Bettler auf silbernem Thron» genannt. Der Cerro Rico von Potosi lieferte Spanien über Jahrhunderte so viel Silber, dass es in Europa und darüber hinaus seine Vorherrschaft finanzieren konnte. Die Söhne der Aymara-Bauern wurden zwangsrekrutiert, in die Silberminen verschleppt, wo sie nach wenigen Jahren grausamer Sklavenarbeit unter Tage verendeten.
Dazu kam eine kaum zu übertreffende politische Instabilität. Ab 1964 erlebte das Land in 18 Jahren 18 Präsidenten oder Putsch-Regierungen.
1980 übernahm eine Offiziers-Clique die «Regierung» und missbrauchte die Staatsmacht, um ihre führende Rolle im Kokain-Geschäft auszubauen. In knapp zwei Jahren organisierte sie einen wirtschaftlichen, sozialen und politisch-institutionellen Höllenritt. Er endete mit einer Hyperinflation von 25.000%. Bolivien schien definitiv ein hoffnungsloser Unterentwicklungsfall, ein «failed state».
Aufbruch nach tiefer Krise
Dann der radikale Wandel: 1985 wurde das Land zum Vorzeigefall für grundlegende Strukturanpassungen. Tausende entlassene Minenarbeiter marschierten mit Dynamit in den Hosentaschen in Richtung Hauptstadt La Paz. Chaos und Gewalt drohten, rasches Handeln war dringlich. Ein geniales Entwicklungsprojekt wurde zur Brücke zwischen Krise und wirtschaftlicher, sozialer und politischer Stabilität: der FSE/FONDO SOCIAL DE EMERGENCIA (Sozialfonds für Notlage). Bis zur Hälfte seiner Laufzeit von nur drei Jahren waren gegen tausend Projekte in Ausführung, 290‘000 Monate bezahlte Arbeitsstellen geschaffen. Drei Ziele waren massgebend: Sofortige Arbeitsbeschaffung, Einkommen für Arme, Befriedigung der Grundbedürfnisse (u.a. Gesundheit, Erziehung, Behausung, Trinkwasser) für besonders Betroffene.
Die folgenden Faktoren machten den Erfolg dieses Entwicklungs-Gross-Projektes möglich:
– Ein geniales (einheimisches!) Projektmanagement
– 20 brillante bolivianische Berufsleute, allesamt aus dem Ausland heimgekehrt, hochmotiviert und erfahren in modernstem Projekt-Management, Durchschnitts-Alter 32 Jahre
– Der FSE legte bloss präzise Regeln für Projekt-Gesuche, Ausführung und -Kontrolle fest, delegierte aber alle Projekte an lokale Trägerschaften, die wie Pilze aus dem Boden schossen und eine unglaubliche soziale sowie ökonomische Dynamisierung ermöglichten
Und die Rolle der EZA? Ein dreistelliger US$-Millionen Kredit wurde von der Weltbank mit (einmaliger) «standing ovation» bewilligt. Die Schweiz beteiligte sich als erstes Geberland mit 10 Mio. US$. Externe Finanzierung war ein unabdingbarer Faktor.
Noch wichtiger waren unzählige Organisationen oder Personen im ganzen Land, die Projekte formulieren, ausführen und kontrollieren konnten. Auch einige Schweizer Projekte, die nach dem Unterbruch durch den Kokain-Putsch wieder aufgegleist wurden, waren dabei. Eines wurde gar ein Vorzeigebeispiel im wichtigsten Sektor «Infraestructura Económica»: Aufforstung und Wildbachverbauung. Die Minenarbeiter waren besonders begabt, im Departement Cochabamba Steinkörbe an den Steilhängen einzubauen.
Bolivien erlebt bis heute eine Phase der politischen Stabilität, des wirtschaftlichen Wachstums. Viele Faktoren haben das bewirkt. Der FSE war bloss ein Auslöser von Entwicklungsschüben in einer extremen Notlage.
Dezentrale Fiskalpolitik als Schlüsselfaktor
Als ich mit meiner Frau 2007 nach Bolivien zurückkehrte, regierte der Aymara und Coca-Bauer Evo Morales das Land. Er ist bis heute an der Macht und schafft Wirtschaftswachstum, soziale und politische Stabilität. Unser Haupteindruck auf unserer Reise: Überall draussen im Lande, in abgelegenen Aymara-Dörfern des Hochlandes, in tropischen Neusiedlungsgegenden und auch in den Städten war ein Entwicklungsschub offensichtlich. Öffentliche Plätze, die jahrzehntelang vergammelt waren, wurden nun bepflanzt und gepflegt. Schulhäuser, Spitäler, Strassen, Wasserversorgung und Elektrizität waren lokal oft gut unterhalten und für die meisten zugänglich. Ein Schlüsselfaktor für diese Entwicklung? Dezentralisierte Fiskal-Politik, öffentliches Geld wird verteilt, weg von der Zentral-Bürokratie, hinaus in die Gemeinden und Departemente. Aymaras, Quechuas und Mestizos draussen im Land, die noch bis zur Agrarreform Anfang der 50er Jahre bis zu 70% Analphabeten waren, lernen nun öffentliche Mittel vernünftig auszugeben und zu kontrollieren.
Das Leitmotiv der Schweiz über Jahrzehnte der EZA mit Bolivien: Dezentralisierung und Entwicklung muss von unten kommen. Damit hat sie zu den Erfolgen beitragen können.
Und die Zukunft? Für Bolivien schlägt die Stunde des Lithiums: Der Salar de Uyuni ist der grösste Salzsee der Welt, das trendige Leichtmetall gehört im weltweiten Vergleich zu den grössten Vorkommen. Der rasch wachsende Elektroauto-Markt und die weltweit verbreiteten Handys sowie Tablets brauchen den Rohstoff. Nachfrage auf dem Weltmarkt ist gross, der Preis hoch. Evo Morales hat Lithium von Beginn seiner Regierung an als nationale Priorität erklärt und sich standhaft geweigert, eine weitere «Kolonial-Silber-Erfahrung» zuzulassen. Viele Hindernisse sind zu überwinden. Aber es könnte sein, dass Bolivien nun ein Beispiel wird, wie Rohstoffe zum Entwicklungssegen werden.
Das Beispiel Bolivien zeigt, dass die EZA wesentliche Entwicklungsimpulse auslösen und unterstützen kann. Sie wirkt aber subsidiär. Entscheidend sind letztlich die Regierungsführung in einem Land und der Wille, die breite und insbesondere ländliche Bevölkerung aktiv in die Entwicklung einzubeziehen.
—
Dieser Text erschien erstmals als Kolumne bei der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA/ASPE.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ich bin immer sehr skeptisch wenn Entwicklungshilfe und Weltbank (oder IWF) Hand in Hand gehen. Der Terminus Entwicklungshilfe ist ein Euphemismus. Geholfen wird, um ein Schuldverhältnis herzustellen um später grosse Renditen zu generieren. Bezahlt werden diese Renditen durch Privatisierungen, Lohnkürzungen, verkauf von Allgemeingut und Sozialabbau durch das Volk. Das Buch «Die Shockstrategie» von Naomie Klein macht diese Machenschaften sehr sichtbar. Ebenso störend empfinde ich den Subtext, dass Entwicklungsländer auf die Hilfe des Westens angewiesen seien. Historisch betrachtet ist es viel mehr so, dass die Südamerikanischen Staaten wegen dem Westen verelendeten. Morales selber distanziert sich klar von der USA, welche den westlichen Kapitalismus repräsentieren und anführen. Ebenso kritisiert Morales sowohl den IWF als auch die Weltbank und mit ihm zehntausende weitere Südamerikaner ebenso. Die sozialen Errungenschaften sind nicht der westlichen Entwicklungshilfe zu verdanken, sondern den Aufständen aus der Zivilbevölkerung heraus wie dem «Guerra del Agua». Man kann die Geschichte Lateinamerikas der letzten hundert Jahre nicht ohne die Rolle der USA erzählen. Der vorliegende Bericht ist bestenfalls eine verkürzte Sichtweise, schlechtestenfalls neoliberale Propaganda. Die Südamerikaner sind durchaus alleine in der Lage, eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen.
Entwicklungshilfe alla IWF und Weltbank ist nie Bedingungslos! Wahre Hilfe jedoch ist immer Bedingungslos.