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Viele In-Vitro-Kinder haben schon als Jugendliche einen zu hohen Blutdruck (Bild zur Illustration) © cc

Berner Uni-Spital schützt Interessen der Retortenkinder-Lobby

Urs P. Gasche /  Wird diskret behandelt: Jeder siebte Teenager, der im Reagenzglas gezeugt wurde, leidet an einem «beunruhigend» hohen Blutdruck.

Kardiologie-Professor Urs Scherrer vom Berner Inselspital hat als erster in der Schweiz die Herzkreislauf-Gesundheit von Kindern, die im Reagenzglas gezeugt wurden (IVF), 17 Jahre lang verfolgt und dokumentiert. Seine zweiten Resultate wurde soeben in der Fachzeitschrift «Journal of the American College of Cardiology» veröffentlicht. Vor allem in den USA seien seine Untersuchungsergebnisse «seit Tagen in aller Munde», berichtet die NZZ vom 7. September.
Professor Scherrer selber bezeichnet die Ergebnisse seines Forschungsteams als «sehr beunruhigend». Man müsse die künstliche Befruchtung als Risikofaktor für Schlaganfälle, Hirnschläge und andere kardiovaskuläre Erkrankungen auf die gleiche Stufe stellen wie Rauchen, Übergewicht und zu wenig körperliche Bewegung.

Bedroht das Geschäft mit der künstlichen Befruchtung

Solche Studienresultate sind dem Business der künstlichen Befruchtung abträglich. Das Berner Universitätsspital Insel, das seine medizinischen Leistungen wie andere Spitäler aktiv mit Communiqués und in einem Hochglanz-Magazin der Universität zu verbreiten pflegt, hüllte sich diesmal in Schweigen. Die Kommunikations-Abteilung des Inselspitals hat absichtlich nicht informiert und dies laut Angaben der NZZ schriftlich damit begründet,

    «dass die Forschungsergebnisse direkt einen
    andern Fachbereich der Insel-Gruppe tangieren»
    .

Mit dem «andern Fachbereich» kann nur die Frauenklinik des Unispitals gemeint sein, welche künstliche Befruchtungen anbietet.
Dies lasse vermuten – meint die NZZ zurückhaltend –

    «dass die Klinik möglicherweise ökonomische oder andere betriebliche Überlegungen höher gewichtet als wissenschaftliche Erkenntnisse».

Diesen Zusammenhang hält Studien-Autor Professor Urs Scherrer für plausibel. Denn seine Studienresultate könnten ökonomische Folgen auf das Geschäft mit der künstlichen Befruchtung haben.

In der ganzen Schweiz werden jedes Jahr über 6000 Frauen zum ersten oder zweiten Mal behandelt, um eine künstliche Befruchtung herbeizuführen.

«Der lange Schatten der Zeugung im Glas»
Unter diesem Titel fasste NZZ-Wissenschaftsredaktor Alan Niederer die bisherigen Forschungsresultate zusammen.
2013: Die Forschergruppe von Professor Urs Scherrer untersuchte 65 in der Schweiz geborene IVF-Kinder im durchschnittlichen Alter von 11 Jahren (veröffentlicht in der Fachzeitschrift «Circulation»). Resultate:

  • Die IVF-Kinder hatten vorzeitig gealterte Blutgefässe. Deren Arterien in den Armem waren steifer und die Halsschlagadern dicker als bei vergleichbaren Gleichaltrigen, die natürlich zur Welt kamen.
  • Bei den IVF-Kindern erhöhte sich der Bluthochdruck im Lungenkreislauf, sobald die eingeatmete Luft weniger Sauerstoff enthielt. Ein solcher erhöhter Blutdruck begünstigt bei Bergsteigern Lungenödeme (Ansammlung von Flüssigkeit im Lungengewebe).

2018: Professor Urs Scherrer und seine Forschergruppe konnten 54 der gleichen Kinder nochmals untersuchen. Die 54 waren im Durchschnitt 17 Jahre alt. (veröffentlicht im «Journal of the American College of Cardology»). Resultate:

  • Die fortgeschrittene Alterung der Blutgefässe war immer noch vorhanden.
  • Dazu kamen bei diesen IVF-Kindern erhöhte Blutdruckwerte. Im Durchschnitt massen die Forscher 119/71 Millimeter-Quecksilbersäule (mmHg). Der Wert bei vergleichbaren Nicht-IVF-Kindern war 115/69 mmHg.
  • Bei 8 der 54 IVF-Jugendlichen ergaben die Messungen sogar einen Blutdruck von über 130/80 mmHg. Das erfüllt die Kriterien eines arteriellen Bluthochdrucks. Unter den Nicht-IVF-Jugendlichen erreichte nur ein einziger Jugendlicher diesen Wert.

Kommentar dazu von Professor Urs Scherrer in der NZZ: «Die Arbeit zeigt erstmals, wie bei IVF-Kindern aus Gefässveränderungen innert weniger Jahre ein klinisch relevanter Bluthochdruck entsteht.» Die Ergebnisse seien «sehr beunruhigend». Denn wer bereits in jungen Jahren einen hohen Blutdruck hat, werde später besonders hohe Werte entwickeln.

Realität noch schlimmer?

In einem Kommentar zur Studie befürchtet Bluthochdruck-Spezialist Larry Weinrauch, Professor an der Harvard Medical School in Boston, dass die Scherrer-Studie das Bluthochdruckrisiko als Folge der Reagenzglas-Zeugung wahrscheinlich noch unterschätzt. Denn die Forschergruppe um Professor Urs Scherrer habe die nach einer In-Vitro-Befruchtung häufig vorkommenden Früh- und Zwillingsgeburten ebenso ausgeklammert wie IVF-Kinder von Müttern, die selber schon an Bluthochdruck oder Diabetes litten.

Risiken und Nebenwirkungen werden nicht erfasst

Die kinderlosen Paare und die Öffentlichkeit gehen davon aus oder sollten davon ausgehen können, dass allfällige Risiken und Nebenwirkungen, die nach Einführung von revolutionär neuen medizinischen Methoden auftreten, wissenschaftlich verfolgt, erfasst und veröffentlicht werden.
Nichts davon ist der Fall.
Niemand erfasst zentral und transparent die IVF-Geburten nach gewählter Methode, Arzt und Spital. Das seit 1993 existierende freiwillige Register «Fivnat» enthält die nötigen Details nicht und die IVF-Kinder werden nicht weiter verfolgt.
Das ist bedenklich: Kein Arzt, kein Spital und keine Behörde verfolgt systematisch und transparent, wie es den IVF-Kindern ein, sieben, sechzehn oder dreissig Jahre nach der Geburt geht. Die Folge davon: Mögliche auch gravierende Risiken kommen viel zu spät zum Vorschein. Denn welcher Arzt oder welche Ärztin fragt ihre Patientinnen und Patienten bei Problemen schon, ob sie etwa im Reagenzglas gezeugt worden waren.
Nach Veröffentlichung der neusten Studie des Forscherteams um Professor Urs Scherrer fordern jetzt die Professoren Larry Weinrauch und Urs Scherrer, dass alle IVF-Kinder zentral mit persönlichen Daten registriert werden, damit grosse Studien möglich werden, welche die Gesundheit der IVF-Kinder über einen längeren Zeitraum verfolgen können.
In der Schweiz sollen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte diesem Register Angaben machen müssen über die eingesetzte Technik und das verwendete Material, namentlich die Art des benutzten Kulturmediums im Reagenzglas.
Bisher sei ein solches Register am Widerstand der Reproduktionskliniken gescheitert, erklärte Scherrer.
Das Bundesamt für Gesundheit kann nach eigenen Angaben eine solche Risiko-Überwachung nicht vorschreiben. «Es fehlt hierzu eine gesetzliche Grundlage», erklärt die Medienstelle.
Eine Anfrage bei der Swissmedic, ob diese eine solche Risiko-Überwachung vorschreiben könnte, erreichte Infosperber die gleiche Antwort: «Swissmedic hat keine entsprechenden Kompetenzen».
Man muss daraus schliessen, dass das gewählte Parlament im Bundeshaus eine solche Qualitäts- und Risiko-Überwachung medizinischer Leistungen nicht will.

Ein Geschäft von über 80 Millionen Franken

In der Schweiz stagniert die Zahl der einmal oder mehrmals behandelten Frauen seit zehn Jahren bei jährlich rund 6000 und der IVF-Geburten bei jährlich rund 2000. Laut Bundesamt für Statistik betrug die «Entbindungserfolgsquote» pro Behandlungszyklus im Jahr 2016 bei nur 17 Prozent. Grössere Auflösung dieser Grafik hier.
Ein einziger Behandlungszyklus kostet in der Schweiz nach Angaben von fertility.ch durchschnittlich 8000 Franken. Ein Zyklus beginnt mit einer hormonellen Stimulation der Eierstöcke. Danach werden Eizellen entnommen, im Reagenzglas befruchtet und der Embryo in die Gebärmutter transferiert. Durchschnittlich kommt es zu 1,7 Zyklen pro Frau.
Das Geschäft erreicht damit in der Schweiz einen Jahresumsatz von mehr als 80 Millionen Franken, den sich etwa 25 «Fortpflanzungszentren» und 3 universitäre «Kinderwunschzentren» in Bern, Basel und Zürich untereinander teilen.
Das Publikmachen von Risiken ist diesem Geschäft abträglich.
Fazit
Der vorliegende Fall bestätigt, was namhafte Kritiker schon lange monieren:

  1. Selbst relevante Studien werden den Medien und damit der Öffentlichkeit nicht auf dem Servierbrett serviert, wenn deren Resultate ein gutes Geschäft beeinträchtigen könnten.
  2. Risiken und Nebenwirkungen von neuartigen Behandlungen werden selten systematisch erfasst. Deshalb entdeckt man sie oft erst, nachdem schon zu viele Menschen einen Schaden davontrugen.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

IVF

Befruchtung im Reagenzglas

Die In-vitro-Fertilisation IVF ist medizinisch einfach – bei bescheidenem Erfolg und Risiken für die Frauen

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4 Meinungen

  • am 12.09.2018 um 12:51 Uhr
    Permalink

    Surrogat Marker wie beispielsweise Laborwerte oder in diesem Falle Blutdruckwerte werden häufig herangezogen um eine Medikamentenwirkung zu belegen. Seriös Forschende halten dies für unredlich. Dies gilt auch in diesem Fall. Die angeblich erhöhten Blutdruck Werte liegen immer bei fast allen untersuchten Jugendlichen noch im Normbereich. Für eine abschliessende klinische Beirteilung ist es noch zu früh. Die Zahlen können höchstens als Signal aufgefasst werden. Prof. Scherrer soll weiter dran bleiben und die Beobachtungen fortführen. Das ist auch gut so. Ein Skandal wäre es, wenn seine Arbeit unterbunden würde. Ob aber der Bluthochdruck wirklich ein klinisch relevantes Problem ist, lässt sich derzeit abschliessend nicht beantworten.

  • am 12.09.2018 um 23:43 Uhr
    Permalink

    Die Unterschiede bei den angegebenen Blutdruckwerten sind winzig:
    Angegeben sind oben folgende Werte: 119/71 mmHg für IVF-Kinder, 115/69 mmHg für Nicht-IVF-Kinder.
    Dazu muss man wissen: Im Handel wird jede Ladenwaage, jede Tanksäule, jeder Elektrizitätszähler, usw., regelmässig von einer Eichbehörde geeicht, damit die Geräte innerhalb einer bekannten Messunsicherheit übereinstimmen. Nicht so im Gesundheitswesen: Hier ist es erlaubt, Geräte verschiedener Hersteller zu verwenden, die sehr oft nicht miteinander übereinstimmen. Solange Professor Scherrer keine Angaben macht, was für Blutdruck-Messgeräte er verwendet und wie er sie kalibriert hat und welche Messunsicherheit sie aufweisen, haben seine Messwerte zum Blutdruck keinen wissenschaftlichen Wert.

  • am 13.09.2018 um 11:08 Uhr
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    @Feller. Sie sollten Professor Scherrer nicht vorwerfen, er habe nicht kontrolliert korrekt gemessen, wenn Sie seine Studie offensichtlich nicht gelesen haben. Besorgniserregend sind die Blutdruckwerte über 130/80 bei Jugendlichen.

  • am 15.09.2018 um 07:14 Uhr
    Permalink

    Die Statistik hilft in dieser Frage nicht weiter, denn 8 von 54 Jugendlichen mit erhöhtem Blutdruck ergibt noch keine statistisch harte Aussage. Wie gesagt, es handelt sich um ein klinisches Signal, das weiterverfolgt werden sollte.
    Interessant würde es dann werden, falls sich Prof. Scherrers Vermutung bewahrheiten würde. Dann stellt sich nämlich die Frage, ob es ethisch vertretbr ist, einem bestimmten Prozentsatz der IVF-Kinder einen erhöhten Blutdruck zumuten zu düfen. In Anbetracht der Risiken, die das Leben bietet und auch angesichts der Behandlungsmöglichkeiten wage ich zur Diskussion zu stellen, dass ein erhöhter Blutdruck zumutbar sein könnte. Allerdings: Entscheiden müssen das die Paare, die den Kinderwunsch per IVF hegen. Den Behandelnden bleibt die Aufklärungspflicht.

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