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Die Agrarmärkte beeinflussen die Lebensbedingungen von Millionen © Siegfried Rabanser/flickr/cc

Betrifft 23. September: Weiterlesen lohnt sich

Hans Steiger /  Das ausgewogenere neue «Abstimmungsbüchlein» empfiehlt auf der letzten Seite ein Ja und zwei Nein. Es lohnt sich, weiter zu lesen.

Für die Volksabstimmung vom 23. September 2018 beschert uns der Bundesrat etwas Neues. Das berühmt-berüchtigte Abstimmungsbüchlein für die eidgenössischen Vorlagen ist zwar wie seit Menschengedenken rot, doch gemäss medialer Ankündigung ab sofort frischer, verständlicher und ausgewogener. Ich beschaffte mir das 40-Seiten-Heft darum vorab. Offen gestanden: Wäre die Broschüre dieser Tage einfach so im grauen Couvert gekommen, dann hätte ich den «neuen Look» (NZZ) wohl gar nicht bemerkt. In einem SRF-Bericht wurde aber ein «knalligeres Rot» erkannt, und René Lenzin, stellvertretender Leiter Kommunikation der Bundeskanzlei, erklärte dazu: «Die Idee war, dass es ein bisschen aussieht wie der Schweizerpass.» Im Übrigen gebe es nun «weniger Bleiwüste, mehr Luft». Und kürzere Erklärungen. «So soll die Leserführung besser werden. Die Menschen sollen den Inhalt verstehen und sich damit auseinandersetzen.»

«Leserführung» zur letzten Seite

Machen wir das! Ich selbst hatte bisher bei etwas komplexeren Vorlagen zuweilen den Abstimmungstext konsultiert; so gründlich las ich das Ganze bisher nie. Ein erstes Fazit: Pro und Kontra werden wirklich gerecht aufgeteilt, wie von der Bundeskanzlei, welche als Herausgeberin zeichnet, versprochen: «Den Argumenten des Bundesrates sowie der Initiativ- und Referendumskomitees wird gleich viel Platz eingeräumt.» Doch die letzte Seite – dies wird Teil der Leserführung sein – liefert die Parole von oben: Ja, Nein und nochmals Nein.

Das kann anregen, aber auch verwirren. Mich zum Beispiel machte beim am wenigsten bestrittenen «Bundesbeschluss über die Velowege», bei dem ich sonst unbesehen Ja gestimmt hätte, ausgerechnet ein Pro-Argument stutzig: Es gebe dann «für Autos mehr Platz». Will ich das? Gut, dass in der Folge auch Meinungen der ablehnenden Parlamentsminderheit geliefert werden: «Gerade bei Regen und Kälte würden nur wenige Menschen das Velo nutzen. Es sei darum nicht zu erwarten, dass es durch bessere Velowege mehr Platz für Autos gebe.» Dann kann ich ja dafür sein…

Aber nun ernsthaft: Aus dem wiederholten Wechsel der Ja- und Nein-Argumente resultiert nicht unbedingt Klarheit. «In Kürze», «Im Detail», «Debatte», «Argumente», immer schön auf und ab. Da kommt es im Zweifel gelegen, wenn «Bundesrat und Parlament empfehlen wie folgt zu stimmen»: gegen die Fair-Food-Initiative und den Vorstoss «Für Ernährungssouveränität». Denn hier gab es keine politischen Kompromisse mit Gegenvorschlag. Es geht ja um eine grundsätzlich andere Agrarpolitik. Mit je eigenen Akzenten postulieren die Volksbegehren deutlich mehr Nachhaltigkeit. Das wäre ein Kurswechsel, obwohl der Bundesrat in seinen Zwischenstatements beteuert, selber «eine sozialverträgliche und ökologische Entwicklung der Landwirtschaft» anzustreben, «gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen» und diese Kriterien auch «in den internationalen Handelsbeziehungen» zu beachten. Das sei in geltenden Bestimmungen verankert. «Verfassung genügt», verspricht ein Zwischentitel schlicht. Offensichtlich nicht! Zeigen nicht alle aktuellen Bestandesaufnahmen, dass der Trend in die falsche Richtung geht, dass es an konsequenten Massnahmen mangelt?

Einstimmung in den Schlagwortkrieg

Warum? Weil die dazu notwendigen parlamentarischen Mehrheiten und der politische Druck fehlen. Die ersten Umfragen zu den Initiativen belegen allerdings, dass der breite Wunsch nach einer Wende besteht. Werden die Angstkampagnen agrarindustrieller Interessenverbände das Ja zum Nein machen? Kosten für Kontrollen, mehr Bürokratie, teurere Lebensmittel, Konflikte mit Handelspartnern… In den Argumentationen des Bundesrates klingen die Schlagworte an. Trotzdem könnte das neue Abstimmungsbüchlein der finanziell weniger potenten Ja-Seite helfen, weil es deren Begründungen breiter an ein Publikum trägt, dem sie fremd sind. Es könnte einleuchten, dass nur eine umweltgerechte Landwirtschaft die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten kann. Dass es für gesunde Lebensmittel eigentlich «nicht mehr, sondern bessere Regeln» braucht, Qualitätsstrategie «statt schrankenlosem Freihandel», wie dies das Initiativkomitee aus dem Umfeld der Grünen fordert. Was im Uniterre-Vorstoss an gewerkschaftlich-sozialen, auch an globalen Überlegungen steckt, könnte Linke überzeugen. Und dass Landwirtschaft tatsächlich alle betrifft. Ziel sei es nicht, die Grenzen zu schliessen, sondern sich das Recht zu bewahren, einmal erreichte Standards zu halten. «In dieselbe Richtung zielt das Verbot von staatlichen Subventionen für die Ausfuhr, da dies der Landwirtschaft in anderen Ländern schadet.»

«Ernährungssouveränität» – ein sperriger Begriff mit Geschichte

Erschwerend bei der zweiten Initiative könnte der Titel sein. «Für Ernährungssouveränität» klingt sperriger als «Fair Food». Es ist kein Schlagwort, mit dem am Stammtisch gepoltert werden kann. Das vor allem war der Grund, dass ich mich zum intensiven Weiterlesen entschloss. Was ist unter Ernährungssouveränität zu verstehen? Wer den bei uns kaum geläufigen Begriff «googelt», bekommt als ersten Treffer bezeichnenderweise gleich die Anzeige einer Website geliefert, die mit Grossbuchstaben ein NEIN propagiert. Da lassen sich «alle Gegenargumente lesen‎», frei Haus geliefert von «FDP, SVP, CVP, BDP und Wirtschaftsverbänden im Kampf gegen die Agrar-Initiativen». Gleich beide. An der Spitze der schlagkräftigen Truppe wieder einmal die Economiesuisse.

Hier ein besserer Link: www.zeitschrift-luxemburg.de. Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift für «Gesellschaftsanalyse und linke Praxis» ist diesen Sommer erschienen, hat nichts mit den aktuellen Abstimmungen in der Schweiz zu tun, liefert dazu aber erstklassiges Hintergrundmaterial. Insbesondere die spannende Geschichte der internationalen Agrarbewegung, die sich in vielfältiger Weise, aber mit dem gemeinsamen Ruf nach mehr Selbstbestimmung gegen die Landnahme, Ausbeutung und ökologische Zerstörung in allen Teilen der Welt wehrt. Zum ersten Zusammenschluss kam es 1996, im Umfeld eines UN-Welternährungsgipfels, an dem La Via Campesina – deutsch: «Der bäuerliche Weg» – gegen eine neoliberal gesteuerte Globalisierung im Agrarbereich antrat. Lokalen und regionalen Verhältnissen angepasste Alternativen sollen die verheerenden industriellen Monokulturen stoppen. Politisch gefordert wird «das Recht aller Völker, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitiken selbst zu definieren» – eben Ernährungssouveränität.

Die verschiedenen Beiträge machen die Vielfalt der Bewegung deutlich. So wurde sie früh von feministischen Elementen geprägt. Es gibt indigene Ansätze, grüne, klassisch linke. Nach «der neoliberalen Schwächung der Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften in den 1980er Jahren», schreibt Saturnido Borras, Agrarwissenschaftler und selbst Aktivist, sei da «einer der hoffnungsvollsten Impulse für soziale Gerechtigkeit» entstanden. Trotz interner Widersprüche und unterschiedlicher Interessen, etwa von traditionellen Bauern und migrantischen Landarbeiterinnen, würden gemeinsame Anliegen gesehen, solidarische Wege gesucht. Das allgemeine Gefühl der Vernachlässigung im ländlichen Raum könnte ja nicht nur reaktionäre Strömungen befördern. Mit ihrer Kritik des global kapitalistisch organisierten Ernährungssystems finde die Agraropposition auch Echo im urbanen Raum. «Agrarpopulismus von rechts oder links?» Auch wenn mit diesem Titel eine heikle Ebene angesprochen wird: Linke sollten die Bedeutung der Agrarfrage endlich erkennen.

Teile eines grösseren Ganzen

Uniterre, bereits vor gut einem halben Jahrhundert als Bauerngewerkschaft gegründet, trat bisher vor allem in der Westschweiz hervor, etwa mit Streikaktionen von Milchproduzenten, um Grossverteilern gerechtere Preise abzutrotzen. Mit der Initiative für Ernährungssouveränität zielt sie jetzt aufs grössere Ganze. Dass sie damit nicht naiv oder im politischen Abseits operiert, lässt sich auch durch den Blick in ein Buch zeigen, das – ausgehend von der Klimakrise – als umfassendes Handbuch möglicher Wendekonzepte angelegt ist: «Die sozial-ökologische Transformation der Welt». Der Abschnitt zur Landwirtschaft zeigt, wie zentral dieser Bereich ist. Dort habe die Modernisierung und Globalisierung zu einer gefährlichen Dynamik geführt. Einerseits werden alle Grenzen, nicht nur staatliche oder ökologische, missachtet. Andererseits gibt es ebenso folgenreiche Trennungen, zumal von Stadt und Land, von Produktion und Konsum. Konzerne gewinnen an Macht. Lutz Laschewski, als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Rostock für Agrarökologie und Regionalforschung zuständig, komprimiert in einer Tabelle die heute «konkurrierenden Handlungsperspektiven». Sie lassen sich nicht einfach auf zwei Positionen reduzieren, aber dem dominierenden Trend zur arbeitsteiligen industriellen Produktion stellt er das Konzept einer «Relokalisierung» gegenüber. Dieses werde zwar oft als romantisierend kritisiert, doch seine Logik leuchte nach den Kriterien der Nachhaltigkeit ein. Noch wäre die Basis bäuerlicher Landwirtschaft in weiten Teilen der Erde vorhanden, deren gegen alle Behauptungen hohe Produktivität ist belegt. Mit dem Weltagrarbericht von 2008 gäbe es gar ein globales Rahmenkonzept.

Endlich auch ethische Fragen

Eine weitere passende Publikation erschien kurz nach der letzten Agrarabstimmung, bei der uns unter dem Schlagwort der Ernährungssicherheit ein völlig unverbindlicher Text im Sinne der etablierten Bauernverbände vorgelegt wurde. Der Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung vor einem Jahr: «Kurzfristig wird der Entscheid aber keine Folgen haben. Und was das deutliche Ja auf lange Sicht bedeutet, steht in den Sternen.» Anna Zuber, die ihre philosophische Doktorarbeit an der Uni Zürich zum Finanzmarktbereich vorlegte und jetzt in Bern als Lehrbeauftragte für Wirtschaftsethik wirkt, hat «Nahrungsmittelspekulation und Ernährungssicherheit» ohne Bezug zum damaligen Polit-Geplänkel vorgelegt. Ihr ging es gemäss Untertitel um «eine Diskussion der ethisch relevanten Fragen», die sich stellen, wenn ein für das Leben – im Krisenfall auch für das nackte Überleben – der Menschen zentraler Handelsbereich weltweit von schwer durchschaubaren Dynamiken der Finanzwirtschaft bestimmt wird. Diesen ist denn auch der Hauptteil der Untersuchung gewidmet. Sorgfältig und abwägend, Schritt für Schritt. «Guter Investor, böser Spekulant?» Zu einfach. Auch dem polemischen Begriff «Casino-Kapitalismus» gewinnt sie wenig Sinn ab.

Aber noch vor den entscheidenden Kapiteln erinnert die Autorin an eine alte Leitregel, die dazu führen könnte, «Spekulationen mit Nahrungsmitteln aus moralischer Sicht anders zu beurteilen als beispielsweise Spekulation mit Aktien oder Edelmetallen». Den meisten von uns ist sie aus Kindertagen bekannt: «Mit Essen spielt man nicht.» Damit kommt eine ganz besondere Wertschätzung dieser Basisgüter in den Blick. «Wie kaum ein anderer Markt beeinflussen die Agrarmärkte die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen.» Und nach wie vor ist die Zahl derer enorm hoch, die weltweit von Hunger betroffen sind. Ob die Spekulation in diesem Bereich heute eine Art von Spiel sei und «mit guten Gründen als leichtfertig oder verschwenderisch bezeichnet werden» könne, sei allerdings «von so enormer Komplexität», dass die klassische Erziehungsregel nicht mehr genüge. Kurz vor Schluss kommt sie zum Kern – zum globalen Gerechtigkeitsgebot: «Effiziente Märkte können aus ethischer Sicht absolut unakzeptable Verteilungsresultate erzielen – ja sie tun dies tagtäglich.» Gelöst werden müsste «das Problem der absurden Verteilungskonsequenzen». Subventionen für die Ärmsten? Etwas höhere Preise in den reicheren Ländern? Steuern? Die «politische Durchsetzbarkeit» wäre mehr als fraglich.

Fazit meiner ausschweifenden Zusatzlektüre: Es wird noch viel, sehr viel transformiert werden müssen: lokal, national, global. Aber mit einem dreifachen Ja wäre hierzulande ein praktisch und demokratiepolitisch wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan.

Wunder dank zivilem Widerstand

Wer nach dem Abstimmungsbüchlein kein linkes Politikperiodikum, kein dickes Handbuch, keine philosophische Abhandlung lesen und trotzdem klüger werden will, sollte sich «Das Wunder von Mals» beschaffen. Eine höchst lebendige Reportage; das Buch zum Film von Alexander Schiebel. Propagiert als «Anleitung zum Widerstand» und wirklich von A bis Z spannend und stärkend. Denn das Dorf im Südtirol kam im Kampf gegen agrarindustrielle Monokultur dank einer Volksabstimmung voran. Es gibt darin explizite Bezüge zur direkten Demokratie in der Schweiz, und das ganze Sortiment der guten Argumente, die für Ernährungssouveränität sprechen, lässt sich auch hier finden. Zudem liefert das Bändchen bereits Hintergrundmaterial für zwei bald folgende Agrar-Abstimmungen, bei denen es speziell um Pestizide und den Schutz des Trinkwassers gehen wird.

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Erst kommt das Fressen. Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. Heft 1 / 2018. Hrsg. vom Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Berlin, 132 Seiten. Kostenlos und auch digital abrufbar via www.zeitschrift-luxemburg.de

Die sozial-ökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch. Hrsg. von Karl-Werner Brand. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2017, 464 Seiten, 40 Euro

Anna Zuber: Nahrungsmittelspekulation und Ernährungssicherheit. Eine Diskussion der ethisch relevanten Fragen. Band 19 der Reihe Ethik und Ökonomie. Metropolis-Verlag für Ökonomie, Gesellschaft und Politik, Marburg 2017, 245 Seiten, 35 Euro

Alexander Schiebel: Das Wunder von Mals. Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet. Oekom-Verlag, München 2017, 242 Seiten, 19 Euro

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Dieser Text erscheint auch als «Politeratour»-Beitrag im P.S.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Kuh

Landwirtschaft

Massentierhaltung? Bio? Gentechnisch? Zu teuer? Verarbeitende Industrie? Verbände? Lobbys?

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