Tauchen live im fernen Thailand
Am 23. Juni regnete es im nördlichen Thailand in Strömen, Monsun-saisonal, durchaus normal. 12 junge Fussballer mit ihrem Trainer machten einen Ausflug in die Tham-Luang-Höhle in der Nähe der Stadt Chiang Rai. Das Wasser in der Höhle stieg. Die Gruppe konnte sich an einer trockenen Stelle vier Kilometer vom Eingang entfernt in Sicherheit bringen. Provinzgouverneur Narongsak Osottanakorn begann an der Spitze eines Krisenstabs, die Rettungsarbeiten zu koordinieren.
So weit, so gut. Medial hätte das im Normalfall einen kleinen Artikel mit Fortsetzungen provoziert, allenfalls auch nur eine Kurzmeldung unter der Rubrik Verschiedenes. Zum Vergleich: Nur kurz wurde anfangs Juli das Kentern zweier Schiffe mit insgesamt 149 Menschen an Bord in Phuket abgehandelt. «21 chinesische Leichen geborgen, 35 werden noch vermisst», hiess es in der Meldung. Wenige Tage später gab es wiederum einen kürzeren Artikel mit dem neuesten Stand.
Drama bis zur Rettung
Das Höhlen-Drama in Thailand jedoch wurde jeden Tag etwas höher gefahren. Online-Redaktionen – allen voran 20 Minuten oder Watson – schalteten sofort Live-Tickers, Live-Blogs oder News-Tickers auf. Das taten selbst solche Medien, die sich als sogenannte Leitmedien verstehen, wie etwa das Blatt von der Züricher Falkenstrasse. Wo allenfalls alle paar Stunden eine Meldung genügt hätte, wurde jetzt quasi im Minutentakt von der Tham-Luang-Höhle berichtet. Die Arbeit von «Dutzenden von Spezialtauchern, vor allem aus dem Ausland» wurde Schritt für Schritt und Tauch für Tauch verfolgt. Mit «schlechten Wetteraussichten» oder «Sauerstoffmangel» heizten die Digital-Redaktoren die Spannung an.
Dann die Rettung, die Erlösung, die zwölf jungen Fussballer und der Trainer sind befreit. Das Happy End war zwar die Krönung, doch selbst bei einem negativen Ausgang hätten sich dank erhöhter Klickzahlen die Live-Tickers gelohnt.
Kriterien: Betroffenheit, Distanz, Opferzahl
Dass in Thailand selbst das Höhlen-Drama ein Medien-Thema von hoher Dringlichkeit war, versteht sich von selbst. Generell gilt in der Medienarbeit das Kriterium der Betroffenheit, also: Je näher ein Drama, umso wichtiger. Bei Katastrophen, Unfällen und dergleichen gilt überdies die Zahl der Opfer als Zusatz-Kriterium.
Anders ausgedrückt: ein Unfall mit sechs Toten in Japan auf einer Autobahn schafft es in Schweizer Medien kaum zu einer Kurzmeldung. Ein gleich schwerer Unfall auf der A1 zwischen Zürich und Bern hingegen wird der Nähe und Betroffenheit wegen viel grösser und ausführlicher behandelt.
«Bad News is good News»
In den näher liegenden Ländern Indien, China oder in Indonesien etwa wurde das thailändische Höhlendrama zwar auch erwähnt, jedoch weit weniger ausführlich als in den fernen westlichen Medien. Abgesehen davon, dass digitale Jung-Redaktoren auf alles gierig sind, was Klicks erzeugt, hatten sie Ende Juni wohl das Gefühl, dass die Zeit der sauren Gurken seligen Angedenkens wieder Einzug hält. Dabei sollten gerade sie wissen, dass es so etwas wie ein News-Sommerloch schon längst nicht mehr gibt, nicht zuletzt dank dem permanenten digitalen News-Rauschen auf allen Kanälen.
Dass das thailändische Drama in den westlichen Medien solches Aufsehen erregte, hat freilich nicht nur mit der vermeintlichen Saure-Gurken-Zeit zu tun. Grundsätzlich gilt im Westen mit der Pressefreiheit ja der Grundsatz «Good News is no News, bad News is good News». Im asiatischen Raum gilt eher die Devise, das «Gute betonen, das Schlechte vernachlässigen».
Offener Ausgang als Spannungsbogen
Die Rettung in der Tham-Luang-Höhle bot nun gleichzeitig gute und schlechte Nachrichten mit offenem Ausgang. So liess sich die Spannung aufrecht erhalten. Besser hätte es für westliches Medienverständnis gar nicht kommen können. Doch ob West oder Ost: Live-Ticker, Live-News, Live-Blogs sind nicht die adäquate Methode, um solche und ähnliche Ereignisse zu spiegeln.
Die Unsitte des Live-Tickers hat mittlerweile selbst in der politischen Berichterstattung überhandgenommen. Pressekonferenzen von Bundesräten etwa werden Minute für Minute nur halbwegs korrekt «live» übertragen, als ob es ein Fussball- oder Tennis-Match wäre.
Doch auch Online-Redaktionen sollten nach dem kräftigen Thailand-Hyperventilieren sich wieder einmal die Grundsatzfrage nach Relevanz stellen. Denn die politische, soziale, wirtschaftliche Welt wird immer komplexer und stellt nicht nur klick-erzeugende Unterhaltung dar.
Spannende Bilder als Sendemotiv
Auch das Fernsehen mischte beim Thailand-Drama munter mit. Schliesslich gab es wunderbare, hochspannende Bilder. Selbst die Schweizer Tagesschau – Schlagzeile «Ein Drama mit Happy End» – hielt sich nicht zurück. Sie berichtete mit Live-Schaltung vor die Tham-Luang-Höhle, begleitet von der üblichen, leicht dümmlichen Moderatoren-Frage, wie die Lage derzeit vor Ort sei. Dabei weiss der Korrespondent wie bei den meisten TV-Direktschaltungen nicht mehr, als bereits im Beitrag vermeldet oder auf jeder Website ersichtlich wurde.
Hauptsache, es wird – wie ganz allgemein bei rund achtzig Prozent der Live-Schaltungen – das Gefühl vermittelt, nahe bei der Sache zu sein. Dass die TV-Korrespondenten vor der Tham-Luang-Höhle nicht in Taucheranzügen auftraten, ist schon fast ein Wunder. SRF-Spardirektor Ruedi Matter – dessen Kernkompetenz von der Karriere her ja Nachrichten-Journalismus ist – sollte neben Sparen sich vielleicht einmal die Zeit nehmen, die Informationsredaktionen wieder auf Relevanz einzuschwören.
Knackig muss es sein, nicht relevant
Im neuen digitalen Medienzeitalter gilt – für Online so gut wie fürs Fernsehen – zynisch ausgedrückt: Hungersnöte (Südsudan), ethnische Säuberungen (Myanmar) oder Flüchtlingskatastrophen (Rohyngias im weltgrössten Flüchtlingslager Kutupanong in Bangladesh) sind fürs ununterbrochene Nachrichtenrauschen eben nicht so knackig wie die Geschichte der zwölf jungen Fussballer und ihrem Trainer in der überfluteten Höhle im Norden Thailands.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Zeigt, wie der kommerzialsierte konsumgesteuerte Journalismus funktionniert und verkommt.