Spielen am sterbenden Berg Cerro Rico
«Vor Kurzem hatte einer der Mineure meine Schwester begrabscht, sie ist drei Jahre älter als ich. Da kam meine Mutter aus der Hütte gestürmt und hat den Mann angeschrien. Verschwinde und lass meine Tochter in Ruhe! Seither hat er nichts mehr gemacht. Aufpassen müssen wir trotzdem. Nicht nur wegen der Männer, die oftmals betrunken sind, sondern auch wegen den Minenwagen, die aus den Stollen geschossen kommen und an unserer Hütte vorbeirattern. Ich nehme dann jeweils den Ball in die Hand, möchte schliesslich nicht, dass er den Berg runterrollt oder gar kaputtgeht. Dann warte ich, bis sie die Steine auf den Lastwagen gekippt haben und zurück in die Mine fahren. Manchmal fällt der Ball doch runter, aber zum Glück kommt nach dem ersten Abhang direkt ein Parkplatz, dann müssen wir nicht so weit gehen.
Meistens spiele ich mit meinen Geschwistern. Wir schauen zum Beispiel, wer länger auf dem Schlauch des Presslufthammers balancieren kann. Manchmal bleibe ich aber auch einfach beim Eingang sitzen und beobachte, was passiert. Ich habe sieben Geschwister und bin die Jüngste von allen. Meine älteste Schwester Maria ist zweiundzwanzig und vor einem Jahr Mutter geworden. Sie lebt ein paar hundert Meter von unserer Hütte entfernt und kommt fast jeden Tag zu Besuch. Dazu muss sie dieselbe Strasse nehmen, auf der die Lastwagen mit den Mineralien vorbeirasen, auch das ist gefährlich. Im Gegensatz zu mir hatte Maria die ersten zwölf Jahre auf dem Land gelebt. Doch irgendwann hatte meine Familie nicht mehr genügend zu essen und zog hierher. Die meisten am Berg waren früher Bauern, einzelne sind es bis heute geblieben. Sie kommen nur dann an den Cerro Rico, wenns auf dem Campo wenig zu tun gibt. Andere haben ihr Land ganz hinter sich gelassen und sind in die Stadt gezogen. Oder an den Berg. Aber ich glaube nicht, dass es hier wirklich besser ist.
An den Wochenenden fahren die Mütter oft runter nach Potosí, um die Einkäufe der Woche zu erledigen. Die Kinder hüten an diesen Tagen die Eingänge zu den Silberminen am Cerro Rico alleine.
Am Cerro Rico nennen sie uns serenas, also Leute, die einen Mineneingang bewachen. Es gibt über dreihundert Minen hier und genausoviele serenas. In der Nacht und am Wochenende kommen Diebe und wollen die Mineralien wild abbauen. Es soll auch solche geben, die sich gleich ganz einrichten und auf eigene Faust die Mine weiter ausbeuten. Allerdings muss man vorsichtig sein, denn gerade bei verlassenen Minen besteht die Gefahr, dass sie einstürzen. Wir bewachen jedoch nicht nur die Mineneingänge, sondern auch die Werkzeuge der Mineure, also Schaufeln, Pickel, Karretten, Presslufthammer oder die Maschine, die Sauerstoff in den Berg pumpt. Und selbst das Dynamit für die Sprengungen lagert hier.
Die meisten der serenas sind alleinstehende Mütter oder Witwen, die sich das Leben in der Stadt nicht leisten können. Die letzte Alternative ist dann der Berg. Das ging auch Maria so. Sie lebte mit ihrem Mann während zwei Jahren in einem barrio ganz weit unten von Potosí und verkaufte Hamburger in der Strasse. Doch im Gegensatz zum Cerro Rico musste sie dort Elektrizität, Wasser und Gas bezahlen. Hier stellen einem die Minenarbeiter eine Hütte zur Verfügung, und man braucht weniger Geld. Meine Schwester ist zwar dankbar, dass sie wieder hier ist, aber richtig gut geht es ihr nicht. Das Geld für die Lebensmittel reicht grad so knapp…
Der Cerro Rico ist, wie sein Name sagt, ein reicher Berg: Silber, Blei, Zinn und Zink wird hier geschürft, und das schon seit langer Zeit. Sie höhlen den Berg Jahr für Jahr ein bisschen mehr aus und bringen die Ware mit dem Lastwagen und danach mit Schiffen in ferne Länder. Dort, so wurde mir gesagt, wird das Ganze in Maschinen, Blechdächern, Batterien, Pistolenkugeln, Kosmetikprodukten, Schmuck und Medallien verbaut. Sogar Instrumente entstehen aus unserem Berg. Am Cerro Rico wurde schon so viel Silber abgebaut, dass man von hier bis auf die andere Seite des Ozeans eine Brücke bauen könnte. Als Schatztruhe der Welt stirbt der Berg Tag für Tag ein bisschen mehr. Vielleicht ist das der Grund, warum immer wieder Touristen zu Besuch kommen und manchmal sogar mit in die Stollen gehen. Wie würde die Welt wohl ohne den Cerro Rico aussehen? Würde meine Familie dann auch in Potosí wohnen?»
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«Kaum sind die Kinder zehn Jahre alt, helfen sie während der Schulferien ihren Vätern in den Minen: die Knaben drinnen, die Mädchen draussen. […] In einem Umfeld, in dem es an Geld mangelt, fühlen sich die Kinder als Last der Eltern und sind deshalb froh, etwas zum Unterhalt beitragen zu können. Für das wenige Geld, das sie dafür erhalten, verfallen sie schon früh der Lotterie der Mine.»
Pascale Absi in Les Ministres du diable. Le travail et ses représentations dans les mines de Potosi, Bolivie. (L’Harmattan, París 2003)
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«Am Wochenende fahren die serenas in die Stadt, um Lebensmittel zu kaufen. Dann bewachen die Kinder die Mineneingänge. Das Gute ist, dass die meisten Geschwister haben und also nie ganz alleine sind. Ein paar der Kinder, vor allem die Knaben, werden irgendwann Teil des Minenbaus: zuerst draussen, um die Gesteine zu sortieren, später gehen sie mit rein in die Dunkelheit. Oftmals tun sie dies, um der Familie über die Runden zu helfen. Aber es geht auch um eine Mutprobe. Denn erst wer in die Mine reingeht, heisst es, wird zum Mann. Jene, die draussen arbeiten, nennen sie Schwuchteln. Auch mein ältester Bruder – er ist vor Kurzem achtzehn geworden – pickelt seit zwei Jahren mit meinem Vater im Stollen. Ich bin nicht sicher, ob er das wirklich gerne macht, aber er ist auf jeden Fall stolz. Allerdings habe ich manchmal Angst, denn wenn er nach einer Stunde nicht rauskommt, dann geht ihm die Luft aus.
Seit ein paar Jahren gibt es am Berg auch eine Schule. Über hundert der Minenkinder sind halbtags dort und bekommen auch ein Mittagessen. Die Schule wurde dank der Stiftung voces libres (freie Stimmen) gegründet. Letzte Woche haben sie dort Geld für einen gleichaltrigen Buben gesammelt, der weiter oben am Berg lebt. Sein Drachen hatte sich beim Spielen in einer der Elektrizitätsleitungen verfangen, und als er ihn befreien wollte, bekam er einen elektrischen Schlag. Ihm mussten die rechte Hand und der rechte Fuss amputiert werden.
Ich selber gehe auch zur Schule, aber nicht am Berg, sondern weiter unten. Die Kinder spielen dort manchmal ziemlich brutal, vor allem die Buben. Mir ist es lieber, wenn’s nicht so hart zu und her geht, deshalb spiele ich mit anderen compañeras. Wenn die Schule zu Ende ist, helfe ich meiner Mutter in der Küche. Sie brät Hamburger und verkauft sie an die Mineure. Diese kauen den ganzen Tag nur Kokablätter und trinken Alkohol. Sie essen erst, wenn sie ihre Schicht beendet haben. Den Abwasch mache ich dann aber gar nicht gerne. Wir müssen das Wasser jeweils an einer Zisterne holen gehen und das Geschirr im Kessel waschen. Lieber wische ich die Hütte mit dem Besen oder räume auf. Und wenn mein Vater in der Mine ist, dann schnappe ich mir manchmal sein Nokia und spiele Spaceball.
Hier leben sie, weil sie sich in der Stadt Potosí keine Wohnung und kein Haus leisten können.
Wenn ich wählen könnte, wo leben, würde ich nach Uyuni gehen. Dort gibt es einen grossen Park, und es riecht gut. Hier haben wir wenig Grün, es ist trocken und ziemlich schmutzig. Der Müll des Minenbaus landet draussen irgendwo im Gestein: Glas- und Plastikflaschen, Nylon, Medikamentschachteln, leere Koka-Säcke, Karton, alte Zeitungen, Kanister, leere Dynamitkisten und alles, was man sonst noch so braucht. Schlafen tue ich selten hier oben. Wir haben drum weiter unten noch eine zweite Hütte mit ein bisschen mehr Platz. Auch haben wir dort einen Fernseher und ein bisschen mehr Ruhe als hier oben. Mir gefällt die Serie Die zehn Gebote von Moses.»
Zum Einkaufen müssen sie ins Tal hinunter … (Alle Bilder: Romano Paganini)
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Dieser Text entstand vor Ort und dank Informationen von Pascale Absi, Paula C. Zagalsky, Donato Ortega Mendoza und der Stiftung Acción Cultural Layola, Bolivien. Autor Romano Paganini verzichtet bewusst darauf, Claudia im Bild zu zeigen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Romano Paganini lebt in Lateinamerika. Dieser Text erschien zuerst auf der Website mutantia.ch.