Der Spieler: Hier ist die Schweiz Weltmeisterin
Die Frage nach dem schweizerischen Nationalspiel ist rasch beantwortet: Jassen. Dieser Status kommt nicht von ungefähr. Wer dieses Stichspiel nicht schon in der Familie oder in Klassen-, Ski- und anderen Sportlagern kennen gelernt hatte, machte spätenstens im Militärdienst die Erfahrung, wie langweilig ein Leben ohne diesen wunderbaren Zeitvertreib war und ist. Weil viele, sehr viele, jassen können und deshalb die Regeln verstehen, läuft das Schweizer Fernsehen auch kaum je Gefahr, mit Unterhaltungssendungen rund ums Thema Schiffbruch zu erleiden. Ungebrochen ist die Popularität von „Donnschtig-“ oder „Samschtig-Jass“, dies seit Jahren.
Ist das Nationalspiel Jassen aber gleichzeitig auch das schweizerische Kultspiel? Nein, diese Ehre gebührt „Dog“. Das ist unsere Variante eines alten Spiels, das man weltweit nur in wenigen Ländern kennt – in Kanada als „Tock“ bzw. „Jeu de Tac“, in den Niederlanden als „Keezen“, in der Schweiz und in Deutschland als „Dog“, wobei die Ausgaben in diesen beiden Ländern sich stark voneinander unterscheiden. Kultig wie in der Schweiz ist es jedoch sonst nirgends.
Teil der grossen Pachisi-Familie
Der Kultstatus von „Dog“ hat verschiedene Gründe. Der entscheidende ist vielleicht der, das es zur grossen Pachisi-Familie gehört. Das im Indien des 6. Jahrhunderts entstandene Würfel-Laufspiel hat als Ur-Modell unzählige Spiele beeinflusst und gilt deshalb als eine der wichtigsten Säulen unserer abendländischen Spielkultur. Generationen von Kindern sind mit „Eile mit Weile“ (in der Schweiz) oder mit „Mensch ärgere dich nicht!“ (in Deutschland) aufgewachsen. Diese beiden Pachisi-Abkömmlinge haben die Spielerfahrung von Millionen von Menschen geprägt.
Davon kann „Dog“ nur profitieren. Wer es zum ersten Mal spielt, hat sofort ein Déja-vu: „Das kenne ich doch“. Ja, klar, „Dog“ ist wie „Eile mit Weile“. Das heisst, dass man beim „Dog“-Spielen kein Neuland betreten muss, sondern gleich bei Bekanntem anknüpfen kann. Das Spielgefühl ist vertraut, was mit Blick auf die Popularität von „Dog“ enorm viel wert ist.
Karten statt Würfel
„Dog“ ist zwar wie „Eile mit Weile“. Gleichzeitig ist es aber auch ganz anders. Es fehlt nämlich der Würfel. Stattdessen steuert man mit dem Ausspielen von Karten die Bewegung der Figuren. Je nach Wert der Karten werden die Steine – bei einigen Ausgaben sind es farbige Kugeln, bei anderen Steckfiguren – auf einem Rundkurs gezogen, der von den vier Startfeldern in die Spielbrettmitte führt. So geht es mit einem Ass entweder vom so genannten Nest auf den Start oder 1 bzw. 11 Felder worwärts. Wer einen Buben ausspielt, tauscht den Platz eines eigenen Spielsteins mit einem des Gegners oder des Partners (darauf komme ich gleich zurück). Spiele ich eine Vier, kann ich vier Felder vorwärts oder rückwärts ziehen. Spannend wird es mit der Siebner-Karte, weil ich die sieben Züge auf meine eigenen Spielsteine verteilen darf. So weit einige Zugbeispiele.
Karten statt Würfel: Dies verändert den Charakter des Spiels vollständig. Der Zufall wird reduziert, wegen der zufälligen Kartenverteilung zwar nicht ganz, aber dennoch sehr massiv, mit dem Effekt, dass „Dog“ viel mehr Taktik zulässt als „Eile mit Weile“. Die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten sind um ein Mehrfaches höher, was den Spielverlauf insgesamt variabler, fordernder und gleichzeitig spannender macht. Entsprechend grösser ist auch das emotionale Potenzial, das in „Dog“ steckt.
Nicht jeder gegen jeden
Verstärkt werden diese Elemente durch die Tatsache, dass in „Dog“ nicht jeder gegen jeden spielt wie in „Eile mit Weile“. Zwei Spielerinnen oder Spieler bilden je ein Team. Um das Spiel zu gewinnen, muss ein Team die Steine der beiden Partner als Erste im Ziel haben. Wie gut die Zusammenarbeit in einem Team funktioniert, zeigt sich in den verschiedensten Phasen des Spiels. Weil in „Dog“ wie im „Eile mit Weile“ auch geschlagen und gesperrt werden darf, achten die beiden zusammengehörenden Spieler sehr wohl darauf, dass sie einander immer wieder Vorteile verschaffen. Mitdenken und gegenseitiges Rücksichtnehmen sind deshalb gefragt.
„Dog“ hat meines Erachtens alles, was ein gutes Spiel auszeichnet. „Eine tolle Mischung zwischen Taktik und Glück“, lobt Thorsten Gimmler, wobei das partnerschaftliche Spielen zusätzlich „eine Menge ausmacht“. Weiter betont er den hohen Wiederspielreiz von „Dog“: „Es gibt keine Abnützungserscheinungen.“ Diese Aussage ist interessant: Denn Gimmler ist als Senior Product Manager (Chefredaktor) bei Schmidt Spiele professioneller Spieler. Unter seiner Regie veröffentlichte der heute in Berlin ansässige Verlag, der seit über hundert Jahren das Erfolgsspiel „Mensch ärgere dich nicht!“ herausgibt, 2008 eine eigene „Dog“-Variante. Mittlerweile gibt es im Berliner Verlag eine ganze Familie von „Dog“-Titeln. Mit dem Verkaufserfolg ist Gimmler sehr zufrieden. Die Frage, ob „Dog“ auch in Deutschland Kultstatus besitze, kann Gimmler direkt nicht beantworten. Stattdessen sagt er: „Auf jeden Fall hat es eine grosse Fangemeinde.“
Spannende Entstehungsgeschichte
Die spielerischen Qualitäten allein reichen allerdings nicht aus, um aus „Dog“ ein Kultspiel zu machen. Es braucht dazu noch mehr, vor allem etwas Besonderes, das es über viele andere ebenfalls beliebte und bekannte Spiele hinaushebt. Das ist seine Entstehungsgeschichte.
Diese beginnt 1982, als die junge St. Gallerin Christine Trösch ein Spiel nach Hause bringt, das sie in Kanada kennen gelernt hat. Die Regeln hat sie im Kopf, die Spielfläche auf Papier kopiert. Das erste „Dog“ stellt sie mit ihrem Freund her. Der Name beruht auf einem sprachlichen Missverständnis – aus dem kanadischen „Tock“ wird „Dog“. Das Spiel wird zum Insidertipp unter Freunden. 1987 werden die Regeln erstmals schriftlich festgehalten. Eine thurgauische Werkstätte für Behinderte produziert ab diesem Zeitpunkt „Dog“ in verschiedenen Ausführungen aus Holz. Andere gemeinnützige Institutionen ziehen mit der Zeit nach, unter ihnen die sozialtherapeutische Gemeinschaft Ulmenhof im Kanton Zürich und die Luzerner Stiftung Brändi. Als diese beiden 1994 mit der Produktion beginnen, ist das Terrain vorbereitet: Über Jugendorganisationen hat sich das „Dog“-Virus vor allem in der Ost- und Zentralschweiz ausgebreitet, 1993 findet das erste Schweizer „Dog“-Turnier statt. Zudem hat an Spiel- und Fachmessen ein breiteres Publikum die Möglichkeit, das andere „Eile mit Weile“ kennen zu lernen.
Aus dem Insider- und Geheimtipp war innert kürzester Zeit ein begehrtes Familienspiel geworden, das gegenüber „gewöhnlichen“ Spielen zusätzlich noch einen Sozialbonus aufwies. Wer ein „Dog“ kauft, unterstützt damit eine gemeinnützige Institution, tut gleichsam ein gutes Werk.
Ein soziales Projekt
Die eigentlich kultstiftende „Dog“-Variante in der Schweiz ist das „Brändi Dog“. Der Name verweist auf seine Herkunft, die Siftung Brändi. Dort sieht man das Spiel als soziales Projekt. Roger Aeschlimann, Leiter Fachstelle Marketing und Kommunikation der Stiftung, erklärt dies so: „Das ‚Brändi Dog‘ ist rundum ein soziales Spiel. Es bringt die Leute an den Tisch und es schafft Arbeit für Menschen mit Behinderung. Der soziale Wert des Spiels ist grösser als das wirtschaftliche Einkommen.“ Verkaufszahlen gibt Aeschlimann nicht bekannt. Er bestätigt aber die Vermutung, dass „Dog“ das meistverkaufte Spiel der Stiftung sei, und fügt bei: „Weil es in der ganzen Schweiz bekannt ist, ist es auch ein wichtiger Botschafter für die Stiftung.“ Für Aeschlimann ist „Dog“ insgesamt ein „Spiel mit positiver Ausstrahlung“.
Letztlich machen alle Faktoren – der spielerische Gehalt, die hochwertige Ausstattung, die Entstehungsgeschichte sowie die sozialen Aspekte – die Faszination von „Dog“ aus. Sie kann sogar so weit führen, dass viele Menschen, wenn sie es einmal kennen gelernt haben, nur noch „Dog“ spielen. Für sie ist es „das beste Spiel überhaupt“, wie in diversen Kommentaren nachzulesen ist, ein Spiel, „das richtig süchtig macht“. Ein tolles Spiel versperrt den Blick auf viele andere tolle Spiele – paradoxer könnte es nicht sein.
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Das kooperative Laufspiel Dog gibt es in verschiedenen Versionen. Die in der Schweiz bekannteste ist das Brändi Dog aus der Stiftung Brändi. Es ist in unterschiedlichen Ausstattungen, Grössen und Preisklassen erhältlich. Ein anderer Anbieter ist Die Alternative (Ulmenhof). Auf dem Markt befinden sich schliesslich noch die Brettspiel-Ausgaben von Schmidt Spiele.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.