«Das Gespenst des Kommunismus»
In China war der 200. Geburtstag von Karl Marx ein Anlass zum Jubilieren, denn Marxismus ist in China sowohl in der Partei- als auch in der Staatsverfassung als «wegweisende Ideologie» niedergelegt. Aus Anlass des runden Geburtstages wurden die marxistischen Theorien an Staatsanlässen, wissenschaftlichen Symposien, in Fernseh-Dokumentationen oder in Medienkommentaren überschwänglich gewürdigt. In einer einstündigen Rede in der Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen charakterisierte Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping den Marxismus als eine auf den Mensch bezogene wissenschaftliche Theorie. Die Menschen könnten dadurch die Welt verändern. An einem wissenschaftlichen Symposion mit 230 Experten nannte Xi Karl Marx den «grössten Denker der modernen Zeit» und den «Lehrer der Revolution für das Proletariat auf der ganzen Welt».
Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao, Deng und Xi
Noch bis in die späten 1980er-Jahre waren an nationalen Feiertagen die Porträts von Marx, Engels im Osten und von Lenin und Stalin im Westen des Tiananmen-Platzes angebracht. Maos Konterfei blickte vom Tor des Himmlischen Friedens Richtung Süden, wo ihm am Nationalfeiertag, dem 1. Oktober, der republikanische Revolutionär von 1911 Sun Ya-tsen entgegenblickte. Geblieben ist heute nur noch das jährlich erneuerte Bild von Chinas Staatsgründer Mao Dsedong. In Zehntausenden von Parteibüros freilich, insbesondere auf dem Lande, blicken noch immer ernst und gefasst Marx und Engels, Lenin und Stalin, sowie Mao, Deng und neuerdings Xi auf die Parteimitglieder herunter. Entsprechende vielfarbige Porträts können noch immer in Buchhandlungen wohlfeil käuflich erworben werden.
Maos Utopien
Nach Maos Tod 1976 und mit Beginn des wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs mit den vom grossen Revolutionär Deng Xiaoping entfachten Reformen nach 1978 freilich verloren Chinesinnen und Chinesen zusehends den einst politisch korrekten Glauben an den Marxismus maoistischer Prägung. Seit der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1921 hat die Partei nach eigenem Dafürhalten die Philosophie des Marxismus weiterentwickelt. Maos desaströse Utopien mit Millionen von Toten wie der «Grosse Sprung nach vorn» (1958-61) und der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution» (1966-76) werden heute als «Katastrophe» bezeichnet oder überhaupt nicht mehr erwähnt. Schon gar nicht als Weiterentwicklung des Marxismus mit chinesischen Charakteristiken.
«Sinisierung des Marxismus
Bereits 1938 hat Mao den Begriff der «Sinisierung des Marxismus» geprägt. Dengs Reform-Theorien waren eine weitere Stufe. Eine neue Etappe hat der Marxismus, so die parteiamtliche Einschätzung, mit den «Gedanken Xi Jinpings zum Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten für ein neues Zeitalter» erreicht, eine Theorie, die seit dem 19. Parteitag 2017 neben Maos und Dengs Theorien auch in der Parteiverfassung niedergelegt ist. Xi habe den Marxismus basierend auf den aktuellen Gegebenheiten für ein neues Zeitalter definiert. Wang Huning, Mitglied des allmächtigen, siebenköpfigen Ständigen Ausschusses des Politbüros, bezeichnete Xis Gedanken als «eine neue Entwicklungsstufe des Marxismus im 21. Jahrhundert».
«Geister und Götter»
Die Partei freilich – unterdessen 90 Millionen Mitglieder stark – vertraut trotz allem Lob des Marxismus der Situation nicht so recht. Chen Xi, Chef der mächtigen Organisations-Abteilung der Partei, beklagte im vergangenen November, dass einige in der Partei ihren Glauben in den Kommunismus verloren hätten und den Kommunismus nur noch als eine «durch und durch irreale Illusion» ansähen. Im Sprachrohr der Partei «Renmin Ribao» (Volks-Tageszeitung) schrieb Chen: «Einige glauben nicht mehr an Marx und Lenin, sondern glauben an Geister und Götter.» Jene, so Chen, die den Glauben an den Sozialismus verloren hätten, suchten nun Zuflucht bei «westlichen Konzepten» der Gewaltenteilung und des Vielparteiensystems.
Marx ohne Parteibrille lesen
Parteichef Xi hat die Gefahr frühzeitig erkannt. Nach einem Jahrzehnt relativer Offenheit hat er seit seinem Amtsantritt 2012 die Kontrollschraube nach und nach angezogen. In einem Tweet in Sina Weibo – dem chinesischen Twitter-Pendant – war neulich zu lesen, Marxismus werde an der Uni zwar obligatorisch unterrichtet, doch um den «wirklichen Marx zu kennen», müsse man Karl Marx selbständig und ohne Parteibrille lesen. Angesichts solcher und ähnlicher Äusserungen mag sich Xi gut leninistisch gedacht haben, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Am 95. Gründungstag der KP 2016 schob Xi die Begründung in einer Rede nach: «Marxismus ist die fundamentale Leit-Ideologie unserer Partei und unseres Landes. Wenn wir von diesem Weg abkommen oder den Marxismus ganz aufgeben, wird unsere Partei ihre Seele und ihre Richtung verlieren.»
Nachhilfestunden
Zum 200. Geburtstag von Marx verordnete Xi deshalb Nachhilfestunden, angefangen beim obersten Machtorgan von Staat und Partei, dem 25-köpfigen Politbüro. Intensiv musste dort das 170 Jahre alte Kommunistische Manifest gebüffelt werden. Auf diese Weise Marxismus studieren, so die Überzeugung von Parteichef Xi, verstärke den Glauben an den Marxismus und erweitere die Fähigkeit der Partei, marxistische Prinzipien für die Lösung von Problemen im modernen China zu finden. Die breiten Massen der Parteimitglieder, die Kader und speziell die höheren Chargen – so Xi – müssten das Kommunistische Manifest gut studieren und gut anwenden.
Gegensätze
Leicht abgewandelt zum Manifest könnte man angesichts des modernen, staatskapitalistisch orientierten China auch sagen: «Ein Gespenst geht um in China – das Gespenst des Kommunismus.» Deshalb die zunehmenden Kontrollen der Partei. Zwar geht es China derzeit wirtschaftlich gut. Doch die Gegensätze sind nicht zu übersehen. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit ist enorm, um ein Vielfaches grösser beispielsweise als in den USA oder der Schweiz. In keiner anderen Stadt auf der Welt gibt es so viele Milliardäre wie in Peking. Das Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land, Reich und Arm nimmt stetig zu. Korruption ist weitverbreitet. Die Arbeiter haben auch im kommunistischen China keine Kontrolle über die Produktionsmittel. Shenzhen in Südchina hat, kaum beachtet von den westlichen Medien, längst gleichgezogen mit dem kalifornischen Silicon Valley.
Wie China mit dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels die Zukunft bewältigen wird? Mit Pragmatismus wohl, sowie einem Denken, das ungleich westlicher Entweder-oder-Logik ein Sowohl-als-auch im Alltäglichen wie im Prinzipiellen durchaus zulässt. Der deutsch-amerikanische Marxist Herbert Marcuse – eine Ikone der 1968er-Bewegung – hätte seine helle Freude daran gehabt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Es gibt keine Interessenkollisionen.
Die VR China hat wie alle Staaten, welche mal das Attribut ’sozialistisch› für sich in Anspruch nahmen, weder mit Marx, noch etwas mit Kommunismus am Hut. Mao, Lenin waren so eine Art Diktatoren im Gutsherrenstil, aber weder Marxisten, noch Kommunisten. Marx übrigens auch nicht, der war eher ein Bourgeois.
Marx hatte die Idee, dass man zwischen dem Kapitalismus und dem klassen- und damit auch staatenlosen Kommunismus einen Puffer einsetzen müsse. Die Idee hat sich als falsch heraus gestellt. Heute gehen wir davon aus, dass der Kommunismus unmittelbar auf den Kapitalismus folgt, wenn der sein höchstes Stadium erreicht hat. Also nicht in den nächsten Tagen und sicher nicht in China beginnend.
Richtig bleibt aber , dass Kommunismus eine Gesellschaft ohne Staaten, ohne Wirtschaft, ohne Geld ist. Kommunistische Staaten sind das säkulare Pendant der jungfräulichen Empfängnis. Kann es weder in der Theorie, noch in der Praxis geben.
Deshalb hat man sich in der VR China gar nicht erst der Mühe unterzogen, Marx Schriften in Mandarin zu übersetzen. Liest keiner und muss keiner lesen.
Die VR China ist so wie die Eidgenossenschaft um 1870, nur grösser. Nordkorea ist vergleichbar mit Preussen unter Friedrich dem II, der den Staat nach bürgerlichen Massstäben reformierte.
Geschichte hat eigene Skalen, nicht die des chronologischen Kalenders.