Freispruch für vier hartnäckige Journalisten im Tessin
Ausgangspunkt einer Reihe von Artikeln in sechs Ausgaben der Gratiszeitung «il caffè» war ein fataler Fehler eines Chirurgen in der Privatklinik Sant’Anna in Lugano. Der Chirurg hatte im Sommer 2014 der falschen Patientin beide Brüste entfernt, aber den Fehler lange verheimlicht. Diese Berichte veranlassten die Klinik, nach Erscheinen der Artikelserie im Sommer 2016 gegen die vier beteiligten Journalisten zu klagen.
Alsbald leitete die Staatsanwaltschaft des Kantons Tessin eine Untersuchung ein, und 2017 verurteilte sie die vier Journalisten wegen wiederholter übler Nachrede mit einem Strafbefehl zu Bussen und bedingten Strafen; den Chefredaktor zusätzlich wegen unlauteren Wettbewerbs. Die Journalisten erhoben Einsprache, worauf es zum Prozess kam: Heute Freitag verkündete Strafrichter Siro Quadri das Urteil: Freispruch in allen Punkten.
Zu Recht Fragen gestellt
Der Richter betonte, es gehe darum, die Fakten zu klären. Die Journalisten hätten sich u.a. auf den Bericht der sanitarischen Aufsichtskommission des Kantons gestützt. Der Fehler des Arztes sei in der Klinik sofort bekannt geworden, doch niemand habe die zuständigen Behörden vorschriftsgemäss informiert. Daraus hätten sich Fragen ergeben, welche die Sonntagszeitung legitimerweise gestellt habe, z.B. ob der Arzt von der Klinik begünstigt worden sei, da er schon am Tag nach dem schweren Fehler weiterhin operierte. (Das Strafverfahren gegen den fehlbaren Arzt ist nach über vier Jahren noch nicht abgeschlossen.) Erst viel später hat die Staatsanwaltschaft festgestellt, dass die Klinik keine Verantwortung treffe. Für die Beurteilung der Klagepunkte – so der Richter – dürfe man einzig jene Informationen beiziehen, die im Moment der Drucklegung der beanstandeten Artikel bekannt gewesen seien.
Als Richtschnur für die Beurteilung der Anklagepunkte gelte die Pressefreiheit, wie sie vom Bundesgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschützt werde. Für Angelegenheiten von öffentlichem Interesse, und das treffe besonders für den Gesundheitssektor zu, seien die Medien geradezu in der Pflicht, einen Fall darzustellen, um die Öffentlichkeit zu informieren und die Voraussetzung für eine demokratische Diskussion zu schaffen.
«Nichts Unwahres geschrieben»
Die Journalisten haben das Privileg – so der Richter –, dass sie ihre Quellen nicht enthüllen müssen, doch sie haben die Pflicht, die Informationen zu überprüfen, was sie aufgrund von Berichten und Nachfragen bei verschiedenen Personen auch gemacht hätten. «Sie haben nichts Unwahres geschrieben», betonte der Richter. Die Zeitung habe ihren besonderen Stil in der Bearbeitung der Themen und der Bilder, man könne das mögen oder es könne einem missfallen, doch das zu entscheiden, gehöre nicht zu den Aufgaben des Gerichts. Der Richter hat auch die Funktion der Presse als Wachhund erwähnt in Anlehnung an eine Aussage des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Im vorliegenden Fall – so der Richter – habe er zu Recht gebellt.
Im Unterschied zur Tessiner Staatsanwaltschaft fehlen für Richter Quadri die Voraussetzungen, die Journalisten zu verurteilen. Und die Klage wegen unlauteren Wettbewerbs, die gegen den Chefredaktor erhoben wird? Eigentlich werde dieser Straftatbestand vor allem bei Konkurrenten im Geschäftsleben geltend gemacht. Es gebe seltene Fälle, so der Richter, da dieser Artikel im Strafgesetzbuch auch die Medien betreffen könne. Es müsste dann um offensichtlich falsche und unnötig verletzende Aussagen gehen, und das sei im Falle des Chefredaktors von «il caffè» nicht der Fall. Auch hier ein umfassender Freispruch also. Strafbefehl und Anklageschrift des damaligen Stellvertretenden Generalstaatsanwalts lösten sich infolge der Argumente des Strafrichters in nichts auf. Dagegen sind viele der Argumente des umfassend dokumentierten Verteidigers der Journalisten vom Richter übernommen worden.
Das Urteil des Strafgerichts Bellinzona ist eine gute Nachricht für die Medien und die Journalisten. Ein klares Signal, dass Recherchen – korrekt geführte Recherchen – nicht bloss erlaubt, sondern erwünscht und notwendig sind.
Ob die Klinik gegen das Urteil rekurriert, ist nicht bekannt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Grossartig! Dass dieser Richter die Freiheit der Medien, aber auch die Arbeit der Journalisten anerkennt, ist ein gutes Zeichen. Denn leider üben die Medien in der Schweiz sonst vor allem Selbstzensur und informieren oft gar nicht, unvollständig oder falsch, vor allem bei internationalen Themen, oder auch bei Themen, die in der Schweiz eine starke wirtschaftliche Lobby haben.
"Das Strafverfahren gegen den fehlbaren Arzt ist nach über vier Jahren noch nicht abgeschlossen.» Es mag ja viele Gründe dafür geben. Aber die Frage stellt sich doch: Ist die Staatsanwaltschaft Tessin mit der Klinik oder dem Arzt zu nah verbunden? Man kann ein Strafverfahren speditiv bearbeiten oder auch «auf der langen Bank» lassen.