Der Spieler: Von der einfachen Idee zum Spiel in der Schachtel
Wir befinden uns im Dörfchen Düsterwald. Es könnte ein Stück heile Welt verkörpern, wenn da nicht eine unheimliche Bedrohung die Bewohnerinnen und Bewohner von Düsterwald in Angst und Schrecken versetzen würde: Nacht für Nacht fallen zwei als Mitbewohner getarnte Werwölfe ins Dorf ein und töten eine Mitbürgerin oder einen Mitbürger – einen von uns! Denn wir spielen «Die Werwölfe vom Düsterwald», ein Rollenspiel, das sich in den vergangenen 15 Jahren zu einem eigentlichen Kultspiel entwickelt hat. Darin verkörpern wir eine Gruppe von Bewohnern, die sich geschworen hat, die Bösewichte zu entlarven und ihrem üblen Treiben möglichst rasch ein Ende zu setzen. Die Werwölfe hingegen unternehmen alles, um nicht erwischt zu werden.
Ach, jemand hat nicht überlebt
Ein Spieler leitet das Spiel. Er schickt die Dorfbewohner, von denen alle nur ihre eigene Identität kennen, zur Ruhe, und teilt den Schlafenden mit, dass die beiden Werwölfe nun erwacht seien. Diese einigen sich auf die Person, die ihr nächstes Opfer sein soll. Es herrscht Totenstille, verräterische Spuren, Zeichen oder Geräusche müssen vermieden werden. Der Spielleiter kündigt den neuen Tag an, Bürgerinnen und Bürger wachen auf und müssen, ach, feststellen, dass einer der ihren die Nacht nicht überlebt hat. Sofort setzen Diskussionen ein, einige meinen, verdächtige Geräusche in ihrer Nachbarschaft gehört zu haben oder gar Schritte, die auf einen schwerfälligen Gang hinweisen würden. Schwerfällig? Die andern nehmen diesen Hinweis sofort auf. Und einer wagt gar die Behauptung: «Charly ist doch der schwerste hier in der Gruppe, also ist er einer der Werwölfe …» Doch Charly wehrt sich: «Nein, nein, ich habe die ganze Nacht geschlafen.» Glaubt man ihm? Plötzlich richtet sich der Verdacht gegen Fredy, da er die ganze Zeit schweigend hier sitzt und vor sich hin lächelt. «Ich bin unschuldig wie ein neugeborenes Kind,» verteidigt er sich. Doch das nützt nichts. In der Abstimmung, mit der die Diskussion beendet wird, bezeichnet ihn eine Mehrheit der Mitbürger als Hauptverdächtigen. Er muss jetzt seine Identität preisgeben: Pech für ihn, er war ein Werwolf.
So geht es gnadenlos weiter, bis entweder die beiden Werwölfe oder alle Bürger tot sind. Im Zentrum des Spiels steht immer die Diskussion unter den Dorfbewohnern. «Die Werwölfe vom Düsterwald» lebt ausschliesslich davon, wie sich die Mitspielenden in diese Diskussion einbringen. Sind sie bereit, ihre Rolle als Werwolf oder als Dorfbewohner (unter Umständen zusätzlich noch angereichert durch die Fähigkeiten eines Charakters wie etwa der Hexe, der Seherin, des Jägers oder des Liebesgottes Amor) voll auszuleben, ergibt sich ein tolles Spiel fast von selbst. Wenn ich als Spielleiter fungiere, stelle ich auch relativ schnell fest, wer in der Gruppe die Fähigkeit besitzt, andere zu beeinflussen oder so Lügen von sich zu geben, dass sie auf die andern glaubhaft wirken. Sprache, Körpersprache, verdeckte Kommunikation – alles trägt zu einem intensiven Spielerlebnis bei, wie man es sonst selten antrifft. Ein 80-jähriger Mann, der regelmässig an unserem Spielabend teilnahm, sagte einmal zu mir, nachdem er «Die Werwölfe vom Düsterwald» kennen gelernt hatte: «Spielen wir es nächstes Mal wieder? Denn es ist wie vier Spielabende zusammen.»
Spiel gegen Langeweile in der Schule
Als die «Werwölfe» 2003 auf den Markt kamen, hörte ich sehr oft die Bemerkung, das sei ein alter Hut: «Wir spielten das Mörderspiel doch früher an Kindergeburtstagen.» Das trifft zu. Als Konversationsspiel wird «Mord im Dunkeln» seit den 1950er-Jahren beschrieben. Die Autoren von «Die Werwölfe im Düsterwald» haben sich von einer Weiterentwicklung des «Mörderspiels» inspirieren lassen, dem 1986 erfundenen Diskussions- und Ratespiel «Mafia». Der Name des Spiels besagt schon alles: Bürgerinnen und Bürger müssen im Verlauf des Spiels herausfinden, wer die Mafiosi sind, die ihre Stadt terrorisieren. Persönlich ziehe ich die «Werwölfe» vor, weil durch das Thema das Spielgeschehen ausserhalb der Realität ansiedelt wird. Dies ist vor allem der Fall, wenn ich ein Diskussions- oder Rollenspiel verwende, um die Teambildung zu fördern.
Im Unterschied zu seinen Nachfolgern kam das «Mörderspiel» noch praktisch ohne Material aus. Bleistifte und ein wenig Papier genügten. Diese Sparsamkeit zeichnet auch das Spiel aus, das Generationen von Kindern und Jugendlichen langweilige Schulstunden verkürzte, das «Schiffchen versenken». Während die Schüler heute, aus gleichem Grund wie wir damals, eine App auf ihrem Smartphone aufrufen, kreuzten wir vor den Lehreraugen versteckt Häuschen um Häuschen auf karierten Papierbögen an. Und wenn es zur Pause läutete, war die Flotte des Banknachbarn versenkt …
Die einfache Papiervariante lebt heute noch. Sie hat aber Konkurrenz bekommen. Die auffälligste und gleichzeitig aufwändigste ist im vergangenen Jahr erschienen. In «Captain Sonar» sind die Mitspielenden Teil einer Besatzung, die mit ihrem hochmodernen U-Boot ein feindliches U-Boot jagt mit dem Auftrag, dieses zu zerstören. Die Mission kann nur erfüllt werden, wenn Kapitän, Funker, Erster Offizier und Maschinist als Team funktionieren. Das heisst, dass jeder sich darauf verlassen kann, dass die andern in der Mannschaft die ihnen zugeteilten Aufgaben hundertprozentig erfüllen. Wenn «Captain Sonar» in Echtzeit gespielt wird, ist die Herausforderung gewaltig, es bedeutet Stress und Arbeit, keine Spur mehr von kleinem Spielchen zur Ablenkung während langweiliger Schulstunden, wie es das gute alte «Schiffchen versenken» noch war.
Wer es weniger intensiv oder stressig haben will, weicht auf «Flottenmanöver» oder «Stratego» aus, zwei andere seit Jahrzehnten bekannte Weiterentwicklungen des Papier- und Zeichenspiels. «Stratego» gehört weltweit zu den beliebtesten Taktikspielen für zwei Personen.
Spannung und Bombenstimmung
Ein besonders interessantes Beispiel für die Kommerzialisierung eines ursprünglich nicht kommerziellen Spiels ist «Bluff». Als dieses Zock- und Wettspiel 1993 überraschend zum «Spiel des Jahres» gewählt wurde, musste sich die Jury gegen den Vorwurf wehren, sie habe ein Spiel ausgezeichnet, das man hierzulande unter dem Namen «Lügenmäxchen» oder «Meiern» als Kneipenspiel überall bekannt sei. Die Grundidee von «Bluff» erinnert tatsächlich an «Mäxchen». Das Schachtelspiel läuft jedoch anders ab und bietet viel mehr Möglichkeiten für höhere Gebote. Das ehemalige Jurymitglied Jochen Corts schreibt: «’Bluff› sorgt im Nu für prickelnde Spannung und eine Bombenstimmung. Mal zwingt das eigene Würfelergebnis zu verhaltenem Vorgehen, ein andermal erlaubt es forsche Sprünge, und stets besteht die Möglichkeit, nach Herzenslust zu zocken und dem Titel gemäss auch zu bluffen.»
Gleich zwei muntere Sprösslinge hat das Kinderspiel «Stille Post», bei dem ein Mitspieler einem anderen einen Begriff oder einen Satz ins Ohr flüstert, der dann zum nächsten weiter gegeben wird. Der letzte Spieler in der Reihe sagt dann laut, was er gehört hat. Meistens hat es nichts mehr oder nur noch sehr wenig mit den ersten Sätzen oder Begriffen zu tun. Spielend kann man auf diese Weise zeigen, wie Nachrichten durch die Weitergabe verändert oder gar verfälscht werden. Das Schachtelspiel «Stille Post Extrem» variiert die Grundidee, indem es Begriffe vorgibt, die zuerst in eine Zeichnung umgesetzt und dann an die Nachbarn weitergereicht werden müssen. Diese sehen sich nur das Bild an und schreiben einen passenden Begriff auf, den sie wiederum weiterreichen. Der nächste malt, was er gelesen hat, und so geht es einmal im Kreis herum. Hier wird Schluss gemacht, und jetzt wird geguckt, was aus dem ursprünglichen Begriff geworden ist. Für gute Unterhaltung ist in jedem Fall gesorgt.
Über hunderttausend skurrile Geschichten
«Schreiben… zeichnen… schieflachen!» versprechen auch die Macher von «Mutabo». Zum fünften Geburtstag ihres Verlages «Drei Hasen in der Abendsonne» haben sie die Idee von «Stille Post Extrem» als Ausgangspunkt für ein noch überdrehteres Schreib- und Zeichenspiel genommen. Man beginnt hier nicht mit einzelnen Begriffen, sondern mit Sätzen. Aber was für Sätze! Man kombiniert sie aus den 330 Satzanfängen und 330 Satzenden, die, gedruckt auf je 55 Karten, dem Spiel beiliegen. Das ergibt theoretisch insgesamt 108 900 skurrile Geschichten und ebensoviele skurrile Zeichnungen. So, nun zeichnen Sie mal «Eine Kuh mit Satteltaschen weint Krokodilstränen.» Aber zeichnen Sie so, dass Sie ihre Nachbarin nicht zur Verzweiflung treiben. Denn diese muss wiederum in einem Satz festhalten, was sie in Ihrer Zeichnung zu sehen glaubt … Wer einen Horror vor leeren Blättern und Bleistiften hat, wird klugerweise einen grossen Bogen um «Mutabo» machen. Wir andern haben jedoch unsern Spass.
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Werwölfe vom Düsterwald: Diskussionsspiel von Philippe de Phallières und Hervé Marly für 8 bis 18 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Verlag Asmodée, Fr. 14.50
Captain Sonar: Kooperatives Strategiespiel in Echtzeit von Roberto Fraga und Yohan Lemonnier für 4 bis 8 Personen ab 12 Jahren. Pegasus Spiele, Fr. 56.-
Bluff: Zocker- und Wettspiel von Richard Borg für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Verlag Ravensburger (Vertrieb Schweiz: Carlie + Ravensburger), Fr. 41.90
Stille Post Extrem: Papier- und Zeichenspiel für 4 bis 8 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Verlag Goliath, ca. Fr. 35.-
Mutabo: Papier- und Zeichenspiel von Kathi Kappler und Johann Rüttinger für 3 bis 6 (und mehr) Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Verlag Drei Hasen in der Abendsonne (Vertrieb Schweiz: Ludit GmbH, Uster), Fr. 23.50.-
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.