Family first oder Clowns ohne rote Nasen
1. November 2017
Irgendein Anschlag. Diesmal New York. Der gewohnte Ablauf. Abermals mit Auto. Wieder soll einer gerufen haben «Allah ist gross». Oder so. Einmal mehr fordern die Trumpels Einreiseverbote. Wieder wohnt der Attentäter längst auf der inneren Seite der Grenze. Auch wenn sie oder ihre Grosseltern in Jemen oder Kiribati, zum Beispiel, geboren sein sollten, die Attentäter (kaum je Attentäterinnen) werden unter uns zu dem, was sie sind. Die Schlagzeilen nehmen ab oder werden grösser. In Relation zur Häufigkeit, zur Zahl der Toten, zur kulturellen Nähe der Opfer oder der Täter. Wenn immer möglich beansprucht die PR-Abteilung des Islamischen Staates so ein Attentat oder auch einen hundskommunen Amoklauf für sich. Selbst wenn die Opfer weiterredenweitergehenweiterklatschen, die Bedrohten weder zu schreien noch zu rennen beginnen – weil die Bombe nicht explodiert ist.
«Zeichen schierer Verzweiflung», wird der Tagesanzeiger am 11. Januar des neuen Jahres schreiben. «Der Islamische Staat reklamiert Anschläge für sich, mit denen er nichts zu tun hat.» Und verweist auf die Fakten, welche den erklärten Krieg gegen den islamistischen Terror nicht zu beenden vermögen: «Trotz eines unablässigen Stroms von Aufforderungen per Video, Twitter oder über den Chatdienst Telegram an die in Europa oder in den USA lebenden Anhänger geht die Zahl der Attacken im Westen aber zurück. In der gesamten Europäischen Union starben 2015 laut der europäischen Polizeibehörde Europol 150 Menschen durch islamistische Anschläge, 2016 waren es 135. 2017 liegt die Zahl unter 60.» In den USA sterben sehr viel mehr Menschen durch einheimische Kugeln oder rassistische Hände. America first.
14. November 2017
Jetzt sind auch die Maisfelder geschnitten. Störche und Krähen – ich weiss immer noch nicht, woher sie die frohe Botschaft erhalten, das Fressen sei angerichtet – hacken ihre Schnäbel in umgepflügten Boden. Auf BachtelChurfirstenMürtschenstock liegt Schnee. Es ist nicht der erste, der fiel im Oktober. Auch unterhalb des Glärnisch ist alles eingezuckert, vermutlich bis zum Bärentritt. Landschaften, besonders verschneite, haben etwas Beruhigendes. Weil sie der Vergänglichkeit von allem nicht unterworfen scheinen. Weil das weisse Pulver alles glättet und den Lärm, das Geschrei, das Getöse der Welt dämpft. Mit dieser Ruhe kann es allerdings schon in ein paar Tagen vorbei sein.
Wenn die Blätter fallen, werden alte Forderungen eingelöst, die Sicht wird frei, zwar nicht aufs Mittelmeer, aber auf den Greifensee, auf die Wege, die Lampen, den Pavillon im Pärklein vor der unbewohnten Villa und jeden Mittwoch auf den verschwitzten Gärtner, der seit vielen Jahren wuchernde BäumeSträucherGräser zurechtschneidet, zuverlässig jede Woche, obwohl ihn die Herrschaften – die seltener in ihrem HausamSee sind als der Mailänder in seiner Engadiner Ferienwohnung, und der feiert da höchstens WeihnachtenSilvesterOstern – nicht kontrollieren. Aber wer weiss schon, wieviel denunziatorische Energie in den freundlich nickenden Spaziergängerinnen und gwundrigen Joggern steckt. Deshalb kämpft er mit dem Laubbläser und gegen eigene Überzeugung verbissen, aber bezahlt, mit den braungelbroten Blättern, stopft sie in den Grüncontainer, bevor sie sich faulig über die Wiese hermachen. Ordnung muss sein, auch wenn sich keine und keiner an ihr erfreut. Der Tochter, denke ich mir aus, hat er verboten, mit ihren Freunden und Freundinnen im verlassenen Pavillon auf ihr Leben anzustossen, sich verliebt und besoffen über den frisch geschnittenen Rasen zu wälzen.
Nur einmal gibt der Unauffällige – der sich jeglichen Neid verbietet – der während Jahren genährten Wut ob dem brachliegenden Reichtum nach. An einem jener Tage, der eine daran erinnert, was einer schon zugefallen und einem, wenn es gut geht, noch gelingen könnte, führt er seine Frau – die er in den berühmten romantischen fünf Minuten «meine Sonnenblume» nennt – mit verbundenen Augen in das möblierte Haus. Bei Neumond. Nach einer Nacht, die sie nicht verschlafen – er hat das fremde Bett mit vertrauter Wäsche bezogen – serviert er ihr das Morgenessen im Garten. Bevor die ersten Hündeler das Seeufer unsicher machen. «Und wir haben nicht einmal für jedes Kind ein eigenes Zimmer.» Murmelt die Frau, nachdem er ihr alle Räume – die er regelmässig querlüftet – gezeigt hat. «Dabei arbeiten wir beide soviel wir können.» Womit sie nicht das KochenPutzenEinkaufenWaschenBügeln meint.
Es muss ihr trauriger Blick gewesen sein, der seinen gut verborgenen Hang zum Widerständlerischen geweckt hat und ihn nach vielen schlaflosen, aber gut genutzten Nächten in ihrer kleinen Küche verkünden lässt: «Wenn der Hasel blüht, ziehen wir in ein eigenes Haus.» «Da habe ich dann auch noch ein Wörtchen mitzureden.» Stoppt sie seine ungewohnte Bestimmtheit, will wissen, was er sich da ausgedacht. Und während der paar Tage im Jahr, skizziert er ihr seinen Traum vom Eigenheim, würden sie den eigentlichen Besitzern das Schlafzimmer überlassen und ihnen das Frühstück ans Bett bringen, das Abendessen im Salon servieren – wie im Hotel. Nach der ersten Begeisterung kommen der Frau Bedenken. Die Herrschaften, erinnert sie den entschlossenen Besetzer an Realitäten, würden ihn ins Gefängnis bringen. «Nein», beruhigt sie der Mann, «das werden sie nicht, ganz bestimmt nicht.» Und lächelt, wie sie ihn noch nie hat grinsen sehen – hinterhältig.
Vor ein paar Wochen, verrät er der hartnäckigen Sonnenblume, habe er im hinteren Teil des Gartens einen Strauch ausgraben müssen und sei dabei auf High Heels gestossen, wie sie die Frau immer getragen habe, mit Leopardenmuster, wie die englische Premierministerin, und in einem habe noch ein Fuss gesteckt. Da habe er sich daran erinnert, dass ihn das Aussehen der Besitzerin bei ihrem letzten Besuch im vergangenen Frühsommer etwas irritiert habe, im ersten Moment habe er gedacht, der Hausherr habe sich, in seinem Alter, in eine Jüngere verliebt, habe aber den ungehörigen Gedanken wieder verworfen, es sei ja keine Seltenheit, dass Frauen, neuerdings sogar Männer, plötzlich viel jünger und schöner, auf jeden Fall irgendwie anders aussähen. Aber sie habe sich schon sehr geglichen, und so genau habe er die Frau nie angeschaut, er habe ja nur Augen für sie, seine einzige Sonnenblume, schmunzelt er. Er habe dann nicht tiefer gegraben, aber jetzt sei ihm alles klar. «Der Herr wird froh sein, und die neue Frau auch, wenn wir sie jeweils freundlich empfangen und uns unsere Sache denken.» Nach einem «Der Mörder ist eben nicht immer der Gärtner» lasse ich ihn den Möbelwagen bestellen.
23. November 2017
«Der Clown ist nicht gekommen», beschwert sich der Enkel nach der Vorstellung des Zirkus Monti und schaut etwas enttäuscht, während der Direktor sich im Buffetzelt von den Leuten verabschiedet. Ich bin irritiert, ich habe mehrere weibliche und männliche Clowns, habe vor allem Clowns, artistisch geschickte und trainierte, gesehen. «Der mit der Leiter war lustig.» Erinnert er sich doch noch und nickt, als ich sage: «Der mit der Brille, der war doch auch lustig.» Aber Clowns sind für N. nicht aufgetreten. Clown ist nicht einfach nur lustig. S., die Grossmutter, hat ihm vor der Vorstellung angekündigt, vielleicht habe es dann auch einen Clown, so einen mit einer roten Nase. Aber rote Nasen haben die Monti-Clowns nicht, die meisten Artistinnen tragen keine Glitzerkleidchen, wirbeln in (vielleicht etwas eigenwilliger) Strassenkleidung über die runde Bühne und unter dem Zeltdach herum. Wann ist ein Clown ein Clown? Wie lange muss eine Schweizerin Mitglied des Turnvereins Adliswil gewesen sein, bis sie eine richtige Schweizerin ist? Wie verhält sich ein Mann? Wie eine Lesbe? Wie stellen wir uns einen alten Menschen vor? Wie muss ein Gedicht geschrieben sein? Wie sieht der Alltag aus, wenn tatsächlich Krieg ist? Woran merken wir, dass wir im Frieden leben?
14. Dezember 2017
Verliert Christoph Mörgeli den Boden unter den Füssen? Muss ich mir um seine Gesundheit Sorgen machen? «Schwindelerregend» und «beinahe unglaubhaft», schreibt er unter dem Titel «Migranten-Milliarden-Wahnsinn» in der heutigen Ausgabe der Weltwoche, sei die Zahl von 25 Milliarden Dollars, die Einwanderer gemäss Tagesanzeiger «aus der Schweiz im Jahre 2016 in ihre Heimatländer zurückgeschickt haben» sollen. «Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit, sprach unlängst in einer Parlamentskommission immerhin von rund 17 Milliarden.» Bei Leuten, die «problemlos Geld in ihre eritreische, afghanische oder syrische Heimat» zurücksenden könnten (womöglich mit Einzahlungsschein oder E-Banking), sei es, ereifert sich der abgewählte Nationalrat, mit der «angeblichen Gefährdung an Leib und Leben nicht weit her». Diese «angeblichen ‹Flüchtlinge›» sind in den Augen des Weltwoche-Neulings – der die (gemäss seinen Angaben) vor vier Jahren eingebürgerte, aber seit ihrer Kindheit in der Schweiz lebende Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach eine «Neo-Schweizerin» nennt – schuld an der erschreckenden Abnahme eidgenössischer Produktivität. «Vor allem geht es bei 25 Milliarden, die aus unserem Land abfliessen, um einen enormen Aderlass der hiesigen Volkswirtschaft. Es geht um eine Summe, die hier erwirtschaftet, aber nicht in unserem Heimmarkt reinvestiert wird.»
Wie viele Milliarden geben Schweizerinnen und Schweizer in den Ferien im Ausland aus statt in Genf, Heiligenschwendi, Sachseln, Basel oder auf der Bettmeralp? Wie viel beim preisgünstigen Shopping am anderen Ufer von Rhein und Bodensee? Wie viel Vermögen lagern sie auf Offshore-Konten? Wie viele Produktionsabteilungen hat «die Wirtschaft» in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Billiglohnländer verlagert? Wie gross ist der monetäre Landesverrat von traditionellen Schweizer Unternehmen und selbst ernannten Patrioten, hinter denen sich auch Patriotinnen verstecken können? Und ist der migrantische Geldtransfer nicht der verzweifelte Widerstand gegen eine globalisierte Weltordnung, in der die einen im Elend, die anderen im Überfluss geboren werden – Family first.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine