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Der Spieler: Es lebe das Vorurteil

Synes Ernst. Der Spieler /  Vorurteile haben wir alle. Wie sie wirken, zeigt das Spiel »Die unüblichen Verdächtigen«. Unterhaltung und Nachdenken zugleich.

Red. Unser «Spieler»-Autor Synes Ernst ist verunfallt und kann für einige Zeit keine neuen Spiele-Kritiken verfassen. Deshalb greifen wir ins Archiv und veröffentlichen heute einen älteren Beitrag vom 26.03.2016.

Berner gelten allgemein als langsam. Warum eigentlich? Vielleicht hängt das mit dem Wappentier zusammen, dem Bären, der ebenfalls mit dem »Chumi-hüt-ned-chumi-morn«-Image leben muss. Dabei bringen es Bären auf der Jagd (oder auf der Flucht) bis auf 50 Kilometer in der Stunde. Aber das nützt dem Bären nichts, er ist und bleibt das langsame Tier, das halt zu den Bernern passt.

Vorurteile oder Clichés, auf diesem Feld befinden wir uns, sind nicht auszurotten. Jeder Mensch hat solche. Die meisten Integrationsprozesse beginnen denn auch damit, dass man die gegenseitigen Vorurteile bewusst macht, sie anspricht und vorsichtig abzubauen beginnt. Die Holzhammermethode bringt nichts, weil Vorurteile gegen Aufklärung und Information resistent sind. Deshalb halten sie sich hartnäckig, auch über Jahrhunderte hinweg. Es gibt Vorurteile, die eher harmlos sind, es gibt aber auch solche, die in ihrer Wirkung mörderisch sind, wie die Geschichte des Antisemitismus belegt. Wir müssen nicht einmal so weit gehen: Wenn Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger über Jahrzehnte hinweg generell der »Schmarotzerei« bezichtigt werden, braucht man sich nicht zu wundern, dass der Ruf nach Sozialabbau politisch plötzlich mehrheitsfähig wird.

Alle kommen auf die Welt

Solche und ähnliche Gedanken tauchen unweigerlich auf, nachdem man eine oder mehrere Runden eines Spiels gespielt hat, das seit vergangenem Herbst für Aufsehen sorgt. Denn in »Die unüblichen Verdächtigen« geht es nur um Vorteile, und zwar so intensiv, dass alle, die mitmachen, auf die Welt kommen, selbst die politisch Korrekten, die, was Vorurteile betrifft, von sich sagen: »Ich doch nicht!«.

Irgendjemand hat einen Diebstahl verübt. Zwölf Personen werden verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Abgebildet sind sie auf zwölf Karten, die in einem Rechteck von vier mal drei Karten vor den Teilnehmenden auf dem Tisch liegen. Das Set wird jedesmal nach dem Zufallsprinzip aus einem Stock von insgesamt 53 Verdächtigtenkarten zusammengestellt. Ein Teilnehmer übernimmt die Rolle des Zeugen. Er allein weiss, wer der Schuldige ist. Weil die Gefahr besteht, dass das Ermittlerteam – das sind die übrigen Mitspielenden – aufgrund seiner Augenbewegungen erraten kann, wohin die Spur führt, trägt der Zeuge eine rote Schildmütze. Die Ermittler versuchen nun, mit Hilfe von Fragen herauszufinden, wer von den zwölf Verdächtigten der Täter sein könnte. Die Fragen sind ebenfalls auf Karten vorgegeben. »Spart er/sie Geld?« lautet beispielsweise eine. Der Zeuge kann diese Frage nur mit »Ja« oder »Nein« beantworten. Zusatzerklärungen sind gemäss Spielregeln nicht erlaubt. Handelt es sich beim Täter um einen Typ mit Scheitel und schwarzer Brille, dürfte die Antwort klar sein: »Ja.« Das Ermittlerteam beginnt nun zu diskutieren und zu arbeiten: »Der mit den Rasta-Locken spart sicher kein Geld, kommt also als Täter nicht in Frage.« Alle in der Gruppe sind einverstanden, seine Karte wird ensprechend markiert. »Und die alte weisshaarige Dame?« Sie bleibt weiterhin unter Verdacht, da man von ihr annimmt, dass sie wie der Täter Geld spart. Aber der mit den Tätowierungen am Oberarm?

Nur aufgrund der äusseren Erscheinung

Die Frage hätte aber auch lauten können: »Lebt er/sie noch bei seinen/ihren Eltern?« Oder: »Ist er/sie ein guter Koch?« Oder: »Hat er/sie Angst vor dem Fliegen?« Und: »Hat er/sie eine Pistole« oder: »Stellt er/sie einen Weihnachtsbaum auf?« Die Ermittler müssen höllisch aufpassen, keine leichtfertigen Entscheide zu treffen. Waschen sie nämlich einen Verdächtigen fälschlicherweise rein, ist das Spiel sofort für alle verloren.

Gut, können die auf den Karten abgebildeten Typen nicht hören, was da alles über sie gesprochen wird. Es würde zu Streitereien kommen. »Ist doch sonnenklar, dass die Frau mit dem Kopftuch keinen Weihnachtsbaum aufstellt.« In einer Runde habe ich noch die Zusatzbemerkung gehört: »»Was ja gerade das Problem ist …«. Dem etwas verklemmt in die Welt guckenden Opa traut eine Mehrheit in der Runde zu, dass er eine Pistole in der Schlafzimmerkommode verbirgt. »Warum nur?« frage ich nach. »Ich würde nicht sagen, dass er verklemmt in die Welt guckt«, bekomme ich zur Antwort, »eher misstrauisch und ängstlich, weshalb er sicher seine alte Armeepistole bei sich zu Hause aufbewahrt.« Überprüfen können die Ermittler diese Behauptung nicht, sie treffen sie allein aufgrund der äusseren Erscheinung der Person.

Das Spiel provoziert Diskussionen

Eine Spielanleitung sagt zwar, wie man mit gutem Einschätzen zu Siegpunkten kommen kann, doch wir spielen »Die unüblichen Verdächtigen meistens kooperativ und ohne Siegwertung. Das ergibt sich von selbst. Der Grund dafür ist ganz einfach: Es gibt nur ganz wenige Spiele, bei denen der Übergang vom Spiel zum Alltag bzw. vom Alltag zum Spiel so fliessend ist wie hier. Jedesmal, wenn das Spiel auf den Tisch kommt, gehen nach kurzer Zeit Diskussionen über Vorurteile los. Man bemerkt, wie sich Vorurteile gegenseitig verstärken. Und viele, die von sich gemeint haben, sie seien vernünftig und resistent gegen Clichés, stellen plötzlich fest, dass sie doch nicht davor gefeit sind, Menschen nach ihrem Äusseren vorschnell zu schubladisieren. Das allein bringt sie zum Grübeln. Und noch nachdenklicher werden sie, wenn sie feststellen, dass ihre Vorurteile sich von jenen überhaupt nicht unterscheiden, die man gemeinhin dem Stammtisch zuordnet. In diesem Sinne wirkt das Spiel schonungslos entlarvend.

Weil »Die unüblichen Verdächtigen« Bewusstseins- und damit auch Veränderungsprozesse auslösen, könnte man sie auch als Lernspiel bezeichnen. So liesse es sich sehr gut in einer Unterrichtseinheit über Vorurteile und Integration verwenden. Oder als Einstieg in eine Diskussionsrunde zum Thema »Wie gehen wir mit Fremden um?«

Das Verrückte an den »Unüblichen Verdächtigten«: Das Spiel hat trotz der in ihm steckenden Ernsthaftigkeit Witz, es macht Spass und bietet beste Unterhaltung. Was haben wir nicht schon gelacht bei unseren Ermittlungen und gestaunt über uns selber! »Die unüblichen Verdächtigen« kommen mit einem Minimum an Regulierung und Material aus, auch das ist bemerkenswert. Hier spürt man die Handschrift des Autors Paolo Mori, der über einen Hochschulabschluss als Kommunikationswissenschafter verfügt. Mit diesem Spiel zeigt er uns, wie wir am besten mit Vorurteilen umgehen: Nicht mit Moral und Drohfinger, sondern mit spielerischer Leichtigkeit. Und siehe da, alle steigen auf das Spiel mit den Vorurteilen ein, auch solche, denen das Thema schon längst zum Hals heraus hängt.

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Die unüblichen Verdächtigen: Kooperatives Kartenspiel von Paolo Mori für 3 bis 18 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Cranio Creations / Heidelberger (Vertrieb Schweiz: Fata Morgana, Bern), ca. Fr. 27.–


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

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