Unnötige Operationen: Ärzte gehen in die Offensive
Es ist unbestritten, dass es unter Ärztinnen, Ärzten, Chirurgen und Spitalteams sehr gute, gute, durchschnittliche, aber auch ungenügende gibt, wie dies in andern Berufen der Fall ist.
In der Medizin haben Qualitätsunterschiede allerdings gravierende gesundheitliche Folgen: es kommt bei den einen häufiger zu Komplikationen, ungeplanten Rehospitalisationen und sogar zu mehr Todesfällen als bei andern. Besonders nachteilig für Patientinnen und Patienten ist es, wenn Operationen ohne einen zu erwartenden Nutzen durchgeführt werden, weil die Indikation nicht stimmt.
Man könne die Qualität medizinischer Eingriffe nicht oder nur schwer kontrollieren, messen und vergleichen, sagen nicht zuletzt viele Ärzte und Spitäler. Das Bundesamt für Gesundheit, das seit 1996 die Qualität einheitlich erfassen und Vorgaben wie im Flugverkehr machen könnte, hat hier seine Kompetenzen nicht ausgenützt.
«Es wird viel zu viel gemacht»
Jetzt verlangt eine Arbeitsgruppe der Akademie Menschenmedizin («amm»), dass Indikationen von Eingriffen und deren Resultate endlich kontrolliert werden. «Wir sind uns einig, dass in der Medizin viel zu viel gemacht wird und eine Kontrolle der Indikationen dringend nötig ist», erklären die Initianten. Unter ihnen sind die ehemaligen Chefärzte des Spitals Affoltern und des Spitals Männedorf, Christian Hess und Urs Strebel, Professor und Herz-Gefäss-Chirurg Paul R. Vogt von der Zürcher Hirslandenklinik im Park sowie Annina Hess-Cabalzar, Präsidentin der «amm».
Dieser vorwiegend ärztlichen Arbeitsgruppe ist klar, dass Qualitätsmessungen nicht bei allen Operationen gleich gut möglich sind. Als gut geeignet für einen Start halten sie die Herz- und Gefässchirurgie. Es geht um
- die Herzkranzgefässe (Bypass-Operationen oder Stents)
- den Ersatz der Aortenklappe (chirurgischer Aortenklappenersatz; perkutane Implantation einer Aortenklappenprothese = TAVI);
- die arterielle Verschlusskrankheit der hirnversorgenden Halsschlagader, d.h. der Karotiden (offene Operation; Stents);
- den präventiven Ersatz der erweiterten Hauptschlagader im Brustraum oder im Bauchraum (Indikation; offene Operation; Stents)
Für die Zweckmässigkeit von Eingriffen bei diesen vier Krankheitsbildern gibt es international akzeptierte Kriterien für die Indikationen. Sie definieren, wann Operationen mit genügender Wahrscheinlichkeit einen Nutzen bringen und die Patientinnen und Patienten nicht nur die Risiken tragen.
Unabhängige Stichproben
Wer soll kontrollieren, dass Chirurgen und Spitäler Operationen bei den oben aufgeführten vier Krankheitsbildern nur dann vornehmen, wenn sie gemäss Richtlinien zweckmässig sind? Die Arbeitsgruppe hält dafür «erfahrene pensionierte Kardiologen und Gefässchirurgen sowie emeritierte Professoren» am geeignetsten. Solche gäbe es genügend. Die Zahl der Stichproben brauche nicht gross zu sein.
Die Qualität der Indikationen würde allein schon dadurch günstig beeinflusst, wenn Spitäler und Chirurgen mit Stichproben rechnen müssten. Shukri F. Khuri, ehemaliger Herzchirurg aus Boston, habe festgestellt, dass allein das Ankündigen von Kontrollen in einigen US-Spitälern dazu führte, dass signifikant weniger Operationen durchgeführt wurden und es zu weniger Komplikationen kam, noch bevor die erste Kontrolle stattfand.
Die Arbeitsgruppe schlägt vor, dass der Bundesrat der FMH oder dem Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF die Kompetenz erteilt, die Fachgesellschaften zur Schaffung von Kontrollgremien zu verpflichten.
***********************************************
«Vertrauensprinzip»
Laut Gesetz muss die Grundversicherung nur Behandlungen zahlen, die sowohl wirksam, zweckmässig als auch wirtschaftlich sind. Das Erfüllen dieser WZW-Kriterien sollte das Bundesamt für Gesundheit kontrollieren und durchsetzen. Doch in Spitälern vertraut das BAG blind den Ärzten: «Es gilt das sogenannte ‹Vertrauensprinzip›, dass die Ärztinnen und Ärzte wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Leistungen erbringen.» Nur falls jemand Einspruch erhebt, prüft das BAG die WZW-Kriterien. Das hat beispielsweise zur Folge, dass Kassen in Deutschland die unwirksamen und unzweckmässigen Gelenkspiegelungen zur Behandlung von Kniearthrosen nicht zahlen müssen, die Kassen in der Schweiz aber immer noch.
***********************************************
Messung der Behandlungsresultate
Bei den aufgeführten vier Krankheitsbildern wäre das Resultat der herzgefäss-chirurgischen Eingriffe «einfach» zu ermitteln und zu vergleichen, hält die Arbeitsgruppe fest. Denn folgende Befunde könne man schlicht mit «ja» oder «nein» erfassen:
- der Patient überlebt (einen Monat nach der Operation) oder nicht;
- der Patient hat ein relevantes neurologisches Defizit oder nicht;
- der Patient erleidet nach der Operation eine Infektion oder nicht;
- der Patient erleidet perioperativ einen Herzinfarkt oder nicht;
- der Patient benötigt innerhalb von zwei Jahren eine Re-Operation oder nicht.
Die skizzierte Qualitätskontrolle für die genannten Eingriffe der Herz- und Gefäss-Chirurgie sei ein Anfang, erklärte Mit-Initiant Urs Strebel gegenüber Infosperber. Die Fachgesellschaften müssten für alle Indikationsgruppen Qualitätskriterien aufstellen.
Der oben zitierte Vorschlag war bereits im Sommer auch Gesundheitspolitikerinnen und Politikern im Parlament vorgelegen. Eine Reaktion steht bisher aus.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
‹Der oben zitierte Vorschlag war bereits im Sommer auch Gesundheitspolitikerinnen und Politikern im Parlament vorgelegt.›
Wozu, welchen Anteil können Gesundheitspolitiker an die Medizin leisten? Selbstverständlich keinen, Medizin gehört nicht in den Gültigkeitsbereich von Gesundheitspolitik, u.a. weil Medizin sich nur mit Krankheiten, aber nicht mit Gesundheit beschäftigt.
Es gibt in der medizinischen Literatur aber genügend Konzepte und/ oder Vorschläge für qualitätssichernde Massnahmen. Die setzen aber meist eine Daten- und Kontrollbasis im Rahmen einer landesweiten wissenschaftlichen Begleitung der Behandlungsmorbidität voraus. Der Generalmangel der Krankenversorgung in der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist das Fehlen einer bundeseinheitlichen Planung und Berichterstattung. Die Krankenversorgung kann man weder im Rahmen von Kantonen oder diversifizierten Krankenkassen organisieren.
Aber vor allem ist die Organisation der Krankenversorgung keine politische Aufgabe. Es ist eine Fachaufgabe der Medizin.
@Schrader. Als Arzt möchten Sie offensichtlich nicht, dass sich Politiker um die Qualität der Behandlungen kümmern. Das hat die Politik seit 1996 auch nicht gemacht, obwohl das KVG dem Bund damals die Kompetenzen gab, die Qualität von Indikationen und von Behandlungsergebnissen zu erheben. Der Bund schob diese Aufgabe der Ärzteschaft und den Spitälern zu. Doch die FMH und die medizinischen Fachgesellschaften waren nicht in der Lage, die Qualitätsdaten vergleichbar zu erheben und zu veröffentlichen. Zum Schaden vieler Patientinnen und Patienten, die Opfer unzweckmässiger Eingriffe wurden und immer noch werden. Das Parlament scheint mir deshalb für die Akademie Menschenmedizin heute die richtige Adresse zu sein.
Herr Gasche, die Politik hätte die Möglichkeit, die formalen Grundlagen für Indikations- und Qualitätssicherung zu schaffen, indem eine bundesweite wissenschaftliche Begleitung der Betreuungsmorbidität installiert würde, die man dann als Datenbasis nutzen könnte. Dem ist aber nichts so.
Es gibt vielmehr keinen anderen OECD- Staat, in welchem man so wenig über die Morbidität weiss, als die Schweiz. Nationales Krebsregister, Fehlanzeige. Diabetesregister, international seit den 1950’ern Standard, keine Spur. Es fehlen die elementarsten Werkzeuge, um die Qualität der med. Versorgung zu messen, weil die Daten dezentral, von den inkompetenten Strukturen wie den Gesundheitsdirektionen, den Krankenkassen erhoben werden und nirgends zusammen geführt werden.
Die Politik hätte Aufgaben, denen sie sich verweigert und versucht sich statt dessen ab Fragestellungen, für die Politik nicht zuständig ist. Wie man landesweite Qualitätssicherung macht, kann man sich in Dänemark anschauen, das muss man nicht neu erfinden. Aber das passiert nicht, weil nicht einmal die Grundlagen, sprich eine straff geführte zentrale Organisation der Krankenversorgung, existieren.
Die Lösung wäre, die Politik bringt landesweit standardisiert erhobene Daten und die Medizin wird beauftragt, diese auszuwerten. Nicht als Bitte, sondern als Pflichtleistung.