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Nestlé expandiert in Brasilien mit aggressiven Strategien, die Gesundheit der Bevölkerung leidet. © tt

Nestlé mit einem Heer ahnungsloser Verkäuferinnen

Tobias Tscherrig /  Nestlé vertreibt Junk-Food und Süssgetränke an brasilianische Unterschichten. Übergewicht, Diabetes und Herzkrankheiten nehmen zu.

Die Internetseite von Nestlé, die sich mit den Konzerntätigkeiten in Brasilien befasst, zeichnet ein ansprechendes Bild. Demnach fördert Nestlé die Bildung junger Menschen, schafft neue Jobs, unterstützt Frauen in den Favelas, bekämpft Mangel- und Unterernährung, setzt sich gegen Übergewicht ein und sorgt für gesundheitliche Aufklärung.

Die dunkle Seite der Wahrheit stand im September in der «New York Times». Die Journalisten Andrew Jacobs und Matt Richtel demontieren mit ihrer Reportage die Hülle des selbsternannten «Ernährungs-, Gesundheits- und Wellness-Unternehmens». Sie zeichnen das Bild eines multinationalen Konzerns, der mit einer aggressiven Strategie expandiert, in die Politik eingreift, mit der Gesundheit der Bevölkerung spielt und eine ganze Essenskultur ausradiert. Infosperber fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen und reichert diese mit weiteren Informationen an.

Experimentierfeld Entwicklungsland

Brasilien ist ein wichtiger Wachstumsmarkt für viele Industriezweige – und ein willkommenes Experimentierfeld. Die Konsumenten verfügen über etwas mehr Einkommen als die Einkommensgruppen in anderen «neuen Märkten». Zudem leben sie vor allem in Städten – und haben eine eigene Tradition mit Massenprodukten. Zahlreiche Unternehmen richteten ihr Geschäftsmodell von Anfang an auf die einkommensschwachen brasilianischen Bevölkerungsschichten aus. Viele internationale Konzerne buhlen um die Gunst der 137 Millionen brasilianischen Haushalte, die ungefähr zwischen hundert und siebenhundert Euro im Monat zur Verfügung haben.

Dabei hilft das Erforschen der brasilianischen Konsumgewohnheiten: Die Erkenntnisse können auf andere Länder übertragen werden, in denen vergleichbare Einkommensgruppen erst heranwachsen.

Ambulante Verkäuferinnen an der Tür

Nach den USA ist Brasilien für Nestlé zum zweitwichtigsten Markt geworden. 2011 verdiente der Konzern in Brasilien rund elf Milliarden Franken. Der Schweizerische Lebensmittelkonzern entsandte erst Marktforscher in die Favelas und erkannte dann bald, dass er seine Produkte in der Peripherie an der Haustüre anbieten muss.

Seit über zehn Jahren beschäftigt Nestlé in Brasilien ein Heer von ambulanten Verkäuferinnen, die nach Konzern-Angaben in jedem Monat rund 700’000 einkommensschwache Kunden mit Nahrungsmittelpaketen beliefern. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Verkäuferinnen verkaufen meist an Verwandte oder Freunde in der Nachbarschaft, ihre Empfehlungen haben Gewicht. Sie wissen, wann ihre Kunden «Bolsa Family» erhalten, eine monatliche, staatliche Subvention für einkommensschwache Haushalte. Zudem gibt Nestlé den Kunden und dem regionalen Verteiler einen Monat Zeit, die Waren zu bezahlen. Eine Geschäftspraxis, die Kunden bindet – und lokalen Einzelhändlern das Genick bricht.

Die Prognosen für das Verkaufsmodell sind gut: «Während der andauernden Wirtschaftskrise wächst das Programm jedes Jahr um 10 Prozent», sagt Nestlé-Abteilungsleiter Felipe Barbosa gegenüber der New York Times.

In der Fettleibigkeits-Falle
Viele der brasilianischen Nestlé-Kunden sind übergewichtig, auch kleine Kinder. Als die New York Times-Journalisten eine Nestlé-Verkäuferin nach Hause begleiten, finden sie ein mit Nestlé-Produkten gefülltes Haus. Im Schlafzimmer stehen Fotografien von ihren zwei Kindern, die vor einer Pyramide aus leeren Dosen von Nestlé-Säuglingsnahrung posieren. Als Kind habe ihr Sohn nicht gegessen, erklärt die Verkäuferin den US-Journalisten. Bis sie ihm Nestlé-Säuglingsnahrung verabreicht habe. Heute wiegt ihr 17-jähriger Sohn mehr als 110 Kilogramm, hat erhöhten Blutdruck und eine hormonelle Störung, die zusammen mit Fettleibigkeit auftritt. Ihre Mutter und zwei ihrer Schwestern leiden unter hohem Blutdruck und Diabetes, ihr Vater starb vor drei Jahren, nachdem er infolge eines Krebsgeschwürs den Fuss verloren hatte. Eine Komplikation infolge seiner Diabetes-Erkrankung.

Allein im letzten Jahrzehnt hat sich die Fettleibigkeitsrate in Brasilien auf fast 20 Prozent verdoppelt. Die Anzahl der Menschen, die übergewichtig sind, hat sich auf 58 Prozent verdreifacht. Jedes Jahr wird bei 300’000 Brasilianerinnen und Brasilianern Diabetes Typ II diagnostiziert.

Trotzdem sind Nestlé-Produkte in Brasilien hoch angesehen. Die Bevölkerung bewundert Nestlé für die Schweizer Herkunft und die empfundene hohe Qualität der Produkte. Kritische Stimmen sind selten zu hören. Die US-Journalisten springen in die Bresche: In ihrer Reportage schreiben sie, dass die Lebensmittelkonzerne in den aufstrebenden Märkten weiterhin Produkte anbieten können, die sie aufgrund des hohen Zucker-, Salz-, oder Fettanteils in den Industrieländern nicht mehr absetzen können.

Gegenüber der New York Times sagt Nestlé, man habe über Jahre knapp 9000 Produkte angepasst, um Salz, Zucker und Fettgehalte zu reduzieren. Ausserdem habe man zahlreiche Portionen mit Vitaminen und Mineralstoffen angereichert.

Doch für eine wachsende Anzahl von Ernährungsspezialisten ist die Fettleibigkeits-Epidemie untrennbar mit dem Verkauf von industriellen Lebensmitteln verbunden. Dieser ist zwischen 2011 und 2016 weltweit um 25 Prozent gewachsen. Auch der Verkauf von kohlensäurehaltigen Soft-Drinks steigt – in Lateinamerika um die Hälfte seit dem Jahr 2000. Derselbe Trend kann bei Fast-Food beobachtet werden. Zwischen 2011 und 2016 nahm der Verkauf weltweit um 30 Prozent zu.

Eine neue Art der Unterernährung

Es gibt gravierende Änderungen darin, wie Nahrungsmittel produziert, verteilt und auf der ganzen Welt beworben werden. Viele der Gesundheitsexperten befürchten, dass diese Umstände zu einer neuen Epidemie von Diabetes und Herzkrankheiten führen werden.

Diese neue Realität wird durch einen einfachen Fakt untermauert: Weltweit sind heute mehr Menschen über- als untergewichtig. Gleichzeitig sagen Wissenschaftler, die wachsende Verfügbarkeit von kalorienreichen und nährstoffarmen Nahrungsmitteln generiere eine neue Art von Unterernährung. Eine, in der immer mehr Menschen gleichzeitig übergewichtig und unterernährt seien.

Auch Kritiker an industriellen Lebensmitteln räumen ein, dass es viele Faktoren für Fettleibigkeit gibt: Genetik, Urbanisierung, höhere Löhne, neue Lebensformen. Nestlé sagt, ihre Produkte würden dabei helfen, den Hunger zu bekämpfen. Man liefere wichtige Nährstoffe und habe den Salz-, Fett- und Zuckeranteil von tausenden Produkten beschränkt. Gemäss der New York Times erklärt Nestlé-Entwicklungsleiter Sean Westcott aber auch, dass Fettleibigkeit ein «unerwarteter» Nebeneffekt des Bemühens sei, industrielle Lebensmittel breiter zugänglich zu machen.

Der zweite Teil: «So torpedierten Nahrungskonzerne eine Regulierung» wird sich mit den Geschäftspraktiken der Nahrungsmittelindustrie auseinandersetzen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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10 Meinungen

  • am 15.10.2017 um 12:10 Uhr
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    Da kann wohl Nestle inskünftig den US Markt nicht mehr bedienen und Mc Donalds & Co. sollten in Europa verboten werden.

  • am 15.10.2017 um 19:53 Uhr
    Permalink

    Auch hier, einmal mehr zu diesem Thema, habe ich nur den einen Kommentar: Pfui Teufel, ich schäme mich für Nestlé. Ich boykottiere sämtliche Nestlé-Produkte seit Jahrzehnten konsequent – eine immer umfangreichere Aufgabe angesichts des Tempos, in dem sie lokale Unternehmen auffressen. Wenn mehr Konsumentinnen das täten, hätten wir die Macht, diesen Wirtschaftskolonialismus zu stoppen.

  • am 16.10.2017 um 10:36 Uhr
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    Die Praktiken von Nestlé sind übel. Diejenigen der anderen Grosskonzerne sind wohl keinen Deut besser.

    Wenn wir als Konsumenten etwas bewirken wollen, sollten wir uns nicht nur auf eine Marke einschiessen, sondern genrell die Produkte der modernen Nahrungsmittelindustrie meiden und lokal produzierte, weniger verarbeitete Lebensmittel kaufen.

    Ausserdem zeigt sich einmal mehr, dass die Welt in der Realität kein «Global Village» ist. Die Verhältnisse in Entwicklungs- und Schwellenländern sind ganz anders als in Industrieländern. Wenn die internationalen Grosskonzerne in armen Ländern nach Belieben ihre Geschäfte machen können, richten sie noch mehr Schaden an als in Industrieländern. Der grenzenlose Freihandel ist kein Segen für alle.

    Der angekündigte zweite Teil wird sich ja wohl mit diesem Aspekt befassen 🙂

  • am 16.10.2017 um 10:51 Uhr
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    Kann man hier nicht auf einen Kommentar antworten oder ihn wenigstens liken?

  • am 16.10.2017 um 10:55 Uhr
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    @Ott. Antworten können Sie mit einem Meinungseintrag, wie ich es hier tue. Liken kann man Meinungseinträge nicht.

  • am 16.10.2017 um 11:07 Uhr
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    Ok, danke. An D. Heierli: Einverstanden, die andern sind natürlich nicht besser – nur ist Nestlé besonders gross, besonders gierig und gilt leider immer noch als «Schweizer Firma», was das Ganze besonders schändlich macht.

  • am 16.10.2017 um 11:15 Uhr
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    @ D. Ott: Da haben Sie natürlich recht, Nestlé ist der grösste von allen.
    Ich boykottiere die Firma vielleicht nicht so bewusst wie Sie, aber viele Produkte von ihr sind in meinem «Warenkorb» auch nicht drin.

    P.S.: Es ist gar nicht so einfach, bei der Palette von Marken, die alle Nestlé gehören (siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Nestl%C3%A9-Marken).

  • am 16.10.2017 um 11:29 Uhr
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    Nein, wie gesagt, einfach ist es nicht. Aber es lohnt sich! Stellen Sie sich vor, wenn alle, die dies lesen, und ihr Umfeld diese Marken gezielt boykottieren und dies auch kommunizieren würden. Das würde Nestlé wehtun und Sorgen machen, und das wiederum hätte Auswirkungen auf andere grosse Konzerne…

  • am 27.11.2017 um 13:43 Uhr
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    Ich kaufe keine Nestlé Produkte. Nur noch frisch, marktgerecht und möglichst Bio. Weniger ist mehr. Das lohnt sich für mich. Grund: meine VorrednerInnen haben schon alles gesagt.

  • am 9.01.2018 um 12:18 Uhr
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    Ich kann hier die Vorträge von Udo Pollmer auf Youtube sehr empfehlen. Als kritischer Nahrungsmittel-Chemiker hat er viel zu erzählen was Grosskonzerne heute so alles anstellen. Nestle scheint als Krankmacher ganz vorne dabei zu sein.

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