Der Spieler: Wenn Verlierer zu Siegern werden
Red. Unser «Spieler»-Autor Synes Ernst ist verunfallt und kann für einige Zeit keine neuen Spiele-Kritiken verfassen. Deshalb greifen wir ins Archiv und veröffentlichen heute einen älteren Beitrag vom 25.7.2015.
In ihrer Laudatio für «Colt Express» bewegt sich die Jury «Spiel des Jahres» hart an der Schwarmgrenze: «Ein Spiel wie eine Westernparodie! Fast schon in Slapstick-Manier verlieren die Banditen die sicher geglaubte Beute in Schlägereien oder sie ballern einfach ins Nichts. Wer gerade noch darüber feixt, anderen Gaunern die Absichten vermasselt zu haben, tappt schon bald selbst in einen Hinterhalt. Diese Mischung aus Planung und Chaos hat Charme und viel Witz. Lok und Waggons als dreidimensionaler Spielplan machen ‚Colt Express‘ zudem zu einem echten Hingucker.» Hätte nicht dieser «Augenschmaus», wie die «Berliner Zeitung nach der Preisverleihung auf ihrer Frontseite schrieb, das Rennen gemacht, sondern einer der beiden nominierten Mitkonkurrenten, wäre das Loblied wohl kaum anders ausgefallen. Denn sowohl «Machi Koro» als auch «The Game» hatten ähnliches Sieger-Potenzial wie «Colt Express».
Hart umkämpfter Markt
Und vermutlich haben sie auch das Potenzial, im hart umkämpften Spielemarkt zu bestehen. Für den Preisträger ist das keine Frage. Das Label «Spiel des Jahres» verschafft ihm Zugang zu allen Verkaufplattformen, sei es in den Fachgeschäften, in den Waren- und Kaufhäusern oder im Internet. Erfahrungsgemäss erzielt das mit der weltweit wichtigsten Auszeichnung bedachte Spiel im ersten Jahr eine Auflage von 300 000 und mehr Exemplaren. Dazu ein Vergleich: Wenn von einem «gewöhnlichen» Spiel im ersten Jahr 30 000 Stück verkauft werden, gilt das bereits als sehr gutes Ergebnis.
In der Regel zieht der Hauptpreisträger die volle Aufmerksamkeit des Handels auf sich. Dies zum Leidwesen der Verlage, deren Spiele es «nur» auf die Nominierungs- oder die Empfehlungsliste gebracht haben. «Das bringt überhaupt nichts», hört man ihre Vertreter sehr oft klagen.
Nicht immer aber setzen sich die Sieger durch. Es gibt Dutzende von Beispielen, die zeigen, dass sich gerade die vermeintlichen «Verlierer» als Longseller entpuppen. Von nichts kommt allerdings nichts: Die betreffenden Titel müssen sich durch hohe spielerische Qualität vom Durchschnitt abheben. Und ihre Verlage sind bereit, sich für ihre Perlen zu engagieren und entsprechende Markenpflege zu betreiben.
Klassiker aus dem Nichts
Schauen wir uns einmal den Spielejahrgang 1994 an: Das «Spiel des Jahres» hiess «Manhattan». Das Wolkenkratzer-Spiel ist zwar immer noch auf dem Markt. Was Auflage und Bekanntheitsgrad betrifft, liegt es heute weit hinter «6 nimmt!» und «Take it easy», die damals keine Chance hatten, gegen «Manhattan» zu gewinnen. Das kleine «6 nimmt!» ist zudem ein Beispiel dafür, dass man nicht unbedingt die Krönung von «Spiel des Jahres» braucht, um sich zu einem zeitgenössischen Kartenspielklassiker zu entwickeln. Das gilt im Übrigen auch für «Bohnanza», das 1997 sich noch mit einem Platz hinter «Mississippi Queen» bescheiden musste. Während «Bohnanza» seither Neuauflage um Neuauflage erlebt und mit Erweiterungen laufend aufgefrischt wird, ist das Raddampfer-Spiel seit längerem schon vergriffen. Ähnliches gilt für 1992: Vom Hauptpreisträger «Um Reifenbreite» spricht man heute praktisch nur im Zusammenhang von erfolglosen Spielen zum Thema Sport. Dafür hat sich «Tabu», damals auf der Auswahlliste, einen festen Platz unter den Kommunikations- und Ratespielen erobert, ein sicherer Wert auch in der Buchhaltung seines Verlags.
Von den 2002er-Spielen haben sich die beiden nominierten «Puerto Rico» und «Trans America» deutlich besser gehalten als das preisgekrönte «Villa Paletti». Sie kommen heute noch regelmässig auf die Spieltische, während der Sieger praktisch in Vergessenheit geraten ist. Selbst das auf der Empfehlungsliste noch weiter hinten platzierte «Blokus» lief «Villa Paletti» den Rang ab. Diesem hatte von allem Anfang an die Tatsache zu schaffen gemacht, dass viele Menschen Bauspiele gar nicht mögen. Eine Chance haben sie nur, wenn sie als Stimmungsmacher für Parties verkauft werden, wie etwa das Geschicklichkeitsspiel «Jenga», das von der Jury «Spiel des Jahres» nie beachtet worden war.
Millionenauflage als Trost
«Wann war ‚Das verrückte Labyrinth‘ ‚Spiel des Jahres‘?» Viele kommen bei dieser Frage ins Grübeln. Das muss doch 1985 gewesen sein. Nein, 1986. Oder doch erst 1987? Alles falsch. «Das verrückte Labyrinth» hat es nie auf die oberste Treppe geschafft. Mit «Heimlich & Co.» stand ihm 1986 pikanterweise ein Titel im Weg, der ebenfalls aus dem Hause Ravensburger stammte. Und ebenso bemerkenswert ist, dass beide Spiele mit neuartigen Mechanismen aufwarteten, die bis heute ihre Attraktivität nicht verloren haben. Nach den Statuten von «Spiel des Jahres» wäre es möglich gewesen, «Das verrückte Labyrinth» im Folgejahr nochmals zu berücksichtigen. Die Jury setzte jedoch «Auf Achse» an die Spitze, das – Ironie der Geschichte – mit Wolfgang Kramer den gleichen Autor hatte wie «Heimlich & Co.». Die Millionenauflagen aber erzielte gleichsam als Trost für die entgangenen Ehren Max Kobbert mit seinem bis heute jung gebliebenen «Verrückten Labyrinth».
Gemacht haben ihren Weg auch das taktische Zweierspiel «Abalone» und das witzige Kommunikations- und Partyspiel «Ein solches Ding». Auf die Auswahlliste waren sie 1989 gekommen, als «Café International» die höchste Auszeichnung erhielt. Die beiden Titel überzeugen heute noch mit ihrer spielerischen Qualität und ihrer Originalität. Dass sie sich halten konnten, hängt aber nicht nur damit zusammen. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens waren die Bedingungen auf dem Markt längst nicht so hart wie heute. So gab es damals noch einen Fachhandel, in dem Beratung gross geschrieben wurde, während heute, vor allem in Deutschland, alles über den Verkaufspreis läuft. Anspruchsvollere Spiele, wie sie meist auf den Nominierungs- und Empfehlungslisten von «Spiel des Jahres» anzutreffen sind, haben in diesem gnadenlosen Selektionsprozess nicht selten das Nachsehen.
Praktisch verschwunden ist das «Spiel des Jahres» von 1998, «Elfenland». Die Ehre des Jahrgangs retteten «Euphrat & Tigris», heute noch ein Geheimtipp für Liebhaber herausfordernder Strategiespiele, sowie «Caesar & Cleopatra», mit dem der Kosmos-Verlag eine bemerkenswerte Serie von taktischen Zweierspielen begründete.
Aus der Zeit heraus verstehen
Kann man nun von einem Fehlentscheid sprechen, wenn ein Preisträger sich nicht so entwickelt hat, wie man es sich bei der Wahl vorgestellt hatte? Von den bisher insgesamt 37 Entscheidungen der Jury «Spiel des Jahres» habe ich zwischen 1982 («Sagaland») und 2007 («Zooloretto») an deren 27 teilgenommen. Selbst wenn die einzelnen Entscheide immer nach den in den Statuten festgelegten Kriterien erfolgen, sind sie nicht miteinander vergleichbar. Einmal ist das Gesamtangebot, aus dem die Wahl zu treffen ist, extrem reich, ein andermal wieder schwach, durchschnittlich, ohne herausragenden Titel. Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entscheidfindung spielt die Gruppendynamik innerhalb der Jury. Dieser Faktor hat sich im Verlauf der Zeit verstärkt. Einfluss auf die Jury haben schliesslich immer auch Zeitgeist, Veränderungen und Entwicklung im Spielverhalten sowie Trends, derer man sich bei einer schnellen Imnachhinein-Analyse nicht immer bewusst ist. Das heisst: Die Wahl des jeweiligen «Spiels des Jahres» ist letztlich nur aus der Zeit heraus zu verstehen. Das Gremium hat denn auch nicht die Absicht, Ewigkeitsentscheide zu treffen, sondern aus dem gerade aktuellen Angebot heraus jenes Spiel oder jene Spiele zu benennen, die seiner Ansicht nach geeignet sind, möglichst viele Menschen vom Wert und der Schönheit des Spielens zu überzeugen.
Vor diesem Hintergrund kann es eigentlich keine Fehlentscheide geben. Hingegen kann es vorkommen, dass ein gewähltes Spiel nicht die erhoffte Power entwickelt oder gar schlaff macht. Wir haben aber gesehen, dass in einem solchen Fall immer wieder andere Titel in die Lücke springen. 2015 wird dies nicht nötig sein: Mit «Colt Express», «Machi Koro» und «The Game» macht ein starkes Trio Werbung für die Sache des Spiels.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».
Na, da wünsche ich dem «Spieler» von Herzen gute Genesung und dass er genügend Spielerfreunde hat, die ihm das Krankenlager mit ein paar Spielrunden erträglicher machen!