«Lebend wollen wir ihn wieder!»
0800er-Nummern sind auch in Argentinien kostenlos und werden wie anderswo auf der Welt bei Überschwemmungen oder Erdbeben verbreitet. Seit vergangener Woche zirkuliert nun wieder so eine Nummer, allerdings aus einem anderen Grund: Eltern von Schulkindern sollen jene LehrerInnen denunzieren, die im Unterricht über Santiago Maldonado sprechen, also jenen Mann, der sich in Patagonien für die Rechte Indigener einsetzte und seit seiner Festnahme durch die Gendarmerie am 1. August als verschwunden gilt. «Wir erlauben nicht», heisst es auf dem Flyer, «dass sich die Schulen in politische Gruppen verwandeln.»
Man kann diese Forderung drehen und wenden wie man will: Es tönt ein bisschen wie vor vierzig Jahren, als heikle Themen unter dem Tisch gehalten und Regimekritiker von den Militärs der damaligen Diktatur mundtot gemacht wurden. Lieber sprach man über die gewonnene Fussballweltmeisterschaft als über die 30’000 Personen, die zwischen 1976 und 1982 verschwanden. Es waren Menschen wie Santiago Maldonado, die nicht schwiegen, sondern die staatliche Politik in Frage stellten. Und genau darum geht es in Argentinien auch heute wieder.
Die Nerven liegen blank
Seit Multimillionär Mauricio Macri im Dezember 2015 an die Macht kam, sind die Lebensbedingungen und der Umgangston in Argentinien rauer geworden. Steigende Arbeitslosigkeit, ständig teurer werdende Lebensmittel und die latente Geldentwertung (das war unter Vorgängerin Cristina Kirchner nicht anders) machen den Alltag zum Spiessrutenlauf.
Wie angespannt die Situation in Argentinien ist, zeigen die Ereignisse der vergangenen Monate. Etwa jenes des Lebensmittellieferanten, der in einem Vorort von Buenos Aires wie gewohnt seine Ware ablieferte, als ihm ein Polizeiauto beim Wegfahren den Weg versperrte. Aus dem anfänglichen Wortgefecht zwischen Lieferant und Polizei kam es zur Schlägerei, die mit einer Platzwunde am Kopf und einem gebrochenen Bein des Lieferanten endete. Oder der Suizid eines 91-jährigen Rentners in Mar del Plata. Er sei es müde, so prekär leben zu müssen, schrie er im Inneren des Gebäudes für Altersvorsorge, bevor er sich in den Kopf schoss. Oder die Geschichte des 25-jährigen Mannes aus einem barrio der Hauptstadt, der nach einem Streit mit einem Polizisten und der anschliessenden Verfolgungsjagd im Auto erschossen wurde. Laut den Richtern des inzwischen inhaftierten Polizisten, verfügte dieser in seinem Wagen über ein ungewöhnlich grosses Waffenarsenal.
Mit Gewehren gegen Familien
Scharf geschossen wurde auch vor der Verhaftung Santiago Maldonados. Die Gendarmerie rückte an diesem Tag mit rund hundert Personen an, nachdem sie tags zuvor bei einer Strassensperre neun Mitglieder der im Widerstand lebenden Mapuche-Gemeinschaft Pu Lof Cushamen festgenommen hatte. Maldonado unterstützt die Mapuche, die sich 2015 in Hütten eingerichtet haben und jenes Land zurückfordern, das einst ihre Vorfahren bewohnt hatten; es wurde 1991 vom italienischen Kleiderhersteller Benetton gekauft. Die Gendarmerie schoss mit Gummigeschossen und Bleikugeln auf die Familien und zündete ihr Hab und Gut an. Bei der anschliessenden Verfolgung konnten alle flüchten, bis auf Maldonado, der im Ufergestrüpp des nahen Flusses hängen geblieben war. Gemäss Augenzeugen wurde er festgenommen und Richtung Esquel gefahren.
Sicherheitsministerin Patricia Bullrich trat ein paar Tage später an die Öffentlichkeit und sagte, es gebe keine Indizien, dass die Gendarmerie Maldonado verhaftet habe. Es war der Versuch, jene Empörung zu dämpfen, die sich seither landesweit im Internet und an Demonstrationen entlädt.
Geopolitische Interessen
Dabei ist das Verschwinden des 28-jährigen Kunsthandwerkers keine grosse Überraschung. In Lateinamerika verschwinden regelmässig Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, gerade wenn es um geopolitische Interessen wie in Patagonien geht. Denn die Gegend ist reich an Rohstoffen wie Wasser, Holz oder Erdöl. Ausserdem sind im argentinisch-chilenischen Grenzgebiet mehrere Grossprojekte wie Wasserkraftwerke, Tunnels und Flughäfen geplant. Es war jedenfalls kein Zufall, dass Mauricio Macri vor einem Jahr per Dekret entschied, den Landkauf für Ausländer wieder zu vereinfachen. Das Signal war klar: Kommt und investiert! Und es war auch von Anfang an klar, dass diese Investitionen nötigenfalls gewaltsam verteidigt würden. «Solidarität mit andern wird von dieser Regierung auf keiner Ebene gutgeheissen», sagt Diana Lenton vom Netzwerk zur Erforschung des Genozid an Indigenen. Im Gespräch mit Canal Abierto sagte die Anthropologin, es handle sich beim Verschwinden von Maldonado um eine deutliche Botschaft: «Vorsicht, nicht nur die Mapuche werden zur Kasse gebeten, sondern all jene, die ihre Anliegen unterstützen.»
Brandanschläge und Morddrohungen
Was das bedeutet, erfahren seit Monaten auch die Bewohner von El Bolsón, rund hundert Kilometer nordwestlich des Ortes, wo Maldonado festgenommen wurde. In der Kleinstadt herrscht ein erbitterter Streit zwischen Gemeinde und Bürgern, weil der englische Multimillionär Joe Lewis oberhalb Bolsóns ein Wintersport-Resort für Reiche bauen lassen will (Infosperber berichtete). Damit wäre der Trinkwasserzugang von über 40’000 Menschen im Tal gefährdet. Die Bürger organisierten sich, demonstrierten regelmässig – und riskierten damit Kopf und Kragen. Diffamierungen und Morddrohungen waren das eine, Brandanschläge gegen zwei Radiostationen und das Kulturzentrum, wo sich das Gegnerkomitee versammelte, das andere. Mehrere Aktivisten fürchteten schon länger, dass jemand von ihnen entführt oder gar getötet werden könnte. Und da die Gemeindebehörde über dubiose Firmen eng mit Joe Lewis verbandelt ist und dieser wiederum Millionärskollege Macri regelmässig in seiner Luxus-Villa am Lago Escondido empfängt, wandten sich die Bürger an die UNO. Irgendeine Instanz sollte sich schliesslich mit den Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzen.
Ministerin gibt Zeugen preis
Unterdessen schlitterte der argentinische Staat mit seinen Äusserungen zu Maldonado immer tiefer in den Sumpf. Sicherheitsministerin Bullrich gab Mitte August bei der Befragung im Senat den Namen eines bis dahin unter Schutz stehenden Zeugen bekannt. Ariel Garzi, Freund von Maldonado und ebenfalls aktiver Unterstützer für die Rechte der Indigenen, trat aus Angst vor möglichen Repressalien unmittelbar darauf an die Öffentlichkeit und berichtete, er habe einen Tag nach Maldonados Verschwinden auf dessen Handy angerufen, und während 22 Sekunden habe jemand geantwortet. Ermittlungen, um das Handy Maldonados zu orten – in Zeiten der Digitalisierung kein Problem – fanden keine statt. Und nur wenige Tage später sagte der zuständige Gendarmerie-Hauptmann im Interview mit El Disenso, er habe für das Vorgehen in Cushamen «präzise Anweisungen vom Sicherheitsministerium» erhalten. Auch diese Aussage wurde von Bullrich im Senat dementiert.
Eingeschleuste Polizisten
Die Empörung über das Verschwinden von Maldonado hat sich inzwischen mit der Empörung vermischt, wie damit umgegangen wird. «Lebend haben sie ihn weggenommen, lebend wollen wir ihn wieder!», schrien Zehntausende Demonstranten vor zwei Wochen in Buenos Aires und hielten Fotos des Vermissten in die Höhe. Die Demonstration wurde, angestachelt von eingeschleusten Zivil-Polizisten, mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst, 27 Personen verhaftet. Aus Angst vor dem, was sie auf dem Polizeiposten erwarten könnte, riefen sie noch während ihrer Verhaftung Vor- und Nachnamen in die Handykameras anderer Demonstranten.
Jene, die den Flyer mit der 0800er-Nummer verbreiteten, wollen nicht, dass in den Schulen über Politik gesprochen wird. Und auch wenn der Vergleich mit der Militärdiktatur hinkt: Angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise, dem repressiven Vorgehen des Staates und der Willkür innerhalb des Sicherheitsapparates, stehen in Argentinien die Grundrechte der Demokratie wieder einmal auf dem Spiel.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor lebte zwischen 2009 und 2016 in Argentinien, unter anderem in El Bolsón.