NZZ bläst zur «Dienstmädchen»-Hausse an der Börse
«Wer zum ersten Mal in Aktien investieren möchte, muss nicht Betriebswirtschaft studiert haben», verkündete die NZZ am 21. August auf der Seite «Geldanlage». Aktien seien «kein Buch mit sieben Siegeln». Doch «viele Finanzprofis» (keiner mit Name) würden «klagen», dass «Herr und Frau Schweizer zu wenig in Aktien investieren». Es folgte eine ganze Seite Einführung in die Börse, von «Aktienformen», «Aktienkursen» bis zu «Indizes» und «Aktienkennzahlen» (so einige Zwischentitel).
Warum nur klärt die NZZ «Herr und Frau Schweizer» erst jetzt auf, wenn die Börsenkurse wegen der Geldschwemme der Nationalbanken schon fast im Himmel sind? Warum nicht vor einem Jahr, oder noch besser, bereits vor fünf Jahren?
Das Phänomen ist unter dem Namen «Dienstmädchen»-, «Putzfrauen»- oder «Hausfrauen»-Hausse bekannt. Laut Wikipedia sollen unkundige Kleinanleger auf eine Börsenblase aufsteigen und die Kurse noch eine Zeit lang stützen. Häufig würde eine «Dienstmädchen»-Hausse die letzte Phase einer Blase einleiten, bevor diese platze.
Da mit dem Interesse börsenferner Kreise auch die Berichterstattung in der Boulevardpresse steige, «spricht man auch vom ‹Bildzeitungs›-Indikator in dem Sinne, dass das Ende der Hausse naht, wenn die Bild-Zeitung auf der Titelseite über Börsenthemen berichtet», heisst es auf Wikipedia.
In der Schweiz erinnert man sich an den Spekulanten Martin Ebner, der mit seinen Visionen (BK Vision, Pharma Vision, Stillhalter Vision, Spezialitäten Vision) am Schluss von Dorf zu Dorf pilgerte, nachdem die Kurse vorher emporgeschnellt waren. «Aktien verändern Ihr Leben», war sein Motto. Den börsenunkundigen, aber gewinnsüchtigen «Dummen» sollte noch möglichst viel Geld von deren Konten abgezogen werden.
Kurz darauf, Ende 2001, konnte der «Beobachter» nur noch feststellen: «Anlagen in den BZ Visionen von Martin Ebner haben in den vergangenen Monaten grosse Kursverluste erlitten.»
Die Aktien veränderten das Leben vieler Kleinanleger tatsächlich, allerdings anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Besonders dramatisch wurde die finanzielle Lage derjenigen, die in der Hoffnung auf hohe Gewinne Aktien mit Krediten gekauft hatten.
Investor André Kostolany soll empfohlen haben, «die letzten zehn Prozent Kurspotenzial an der Börse den Dummen zu überlassen».
Unter Börsianern gilt eine «Dienstmädchen»-Hausse als Spätphase eines Aufschwungs und als Signal, die Wertpapiere vor einem erwarteten baldigen Kursverfall noch zu Höchstpreisen zu verkaufen.
Der Appell der NZZ richtet sich erst an den bisher börsenfernen Teil der Mittelklasse. Das Dienstpersonal und die Schichtarbeiter haben «Blick» oder «20Minuten» erst indirekt – mit Geschichten über tolle Börsengewinne –aufgerufen, sich an den phänomenalen Gewinnen an der Börse zu beteiligen.
Es bleibt daher noch eine Galgenfrist.
Historisches
Auf Wikipedia ist noch Folgendes zu erfahren: «Das Phänomen, das der Begriff bezeichnet, soll auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 zurückgehen. Als selbst Hauspersonal in der Hausse Aktien zu kaufen begann, stiegen erfahrene Investoren aus, weil sie sich sorgten, dass Börsenneulinge selbst durch kleine Anlässe eine Verkaufspanik auslösen könnten.
Der Ökonom Hans Lurch schrieb bereits 1927, im Aufschwung vor der Krise: ‹Man berichtete, dass gerade im Jahre 1925 fast jeder Strassenkehrer und jedes Dienstmädchen mit Getreide spekulierte, ungefähr wie zur Zeit unserer Inflation auch beinahe jeder Deutsche glaubte, ohne Spekulation nicht mehr existieren zu können.›
Belegt ist die semantische Verbindung von Hausmädchen und Kleinspekulantin in den 1870er Jahren. Nach dem Gründerkrach von 1873 erklärte der Berliner Journalist Wilhelm Wackernagel, die gegen die Spekulation gerichtete Börsensteuer würde ‹den kleinen Capitalisten, darunter Hausknechte und Dienstmädchen, stärker treffen als den reichen Geldmann.›
Für ‹durchaus vorstellbar› hält es die Historikerin Barbara Orland, dass sich Dienstmädchen, die im Hause ihrer Herrschaft Informationen aufgeschnappt hatten, als ‹Nachspekulanten› bereits an der Eisenbahnhausse der 1840er Jahre beteiligt hatten.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
… und das, nachdem die gleiche NZZ eine Woche vorher, am 21.8., vor einer Dienstmädchen-Hausse gewarnt hatte.
Die Warnung von Urs Gasche kommt möglicherweise gerade noch rechtzeitig. Trotzdem: Es fehlt ein Hinweis auf jene Geldonkel, die seit jeher vor dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch warnen. Unter diesen befindet sich ein an der Uni Zürich promovierter Oekonom mit selbst deklarierten Spezialkenntnissen im Bordellwesen. Die Befolgung seiner Ratschläge finden globale Aufmerksamkeit und haben vielen potentiellen Anlegern Gewinnmöglichkeiten geraubt.
Fairerweise müsste Infosperber auch erwähnen, dass die gleiche alte Tante seit Jahr und Tag vor einem grossen Börsencrash warnt.