Kim will mehr Touristen in sein Reich locken
Schlagzeilen machen Raketentests, Atombomben und wüste Drohungen des obersten Führers Kim, die südkoreanische Hauptstadt Seoul oder gar den Todfeind Amerika in einem «Feuersturm in Schutt und Asche zu legen». Seit dem ersten Atombombentest im Jahr 2006 antwortet die internationale Gemeinschaft über den UNO-Sicherheitsrat mit Sanktionen. Doch diese waren und sind nach Aussagen hochrangiger Überläufer in Seoul und in den USA praktisch wirkungslos.
Sanktionen lassen sich umgehen
Auf legalen und illegalen Wegen schaffen es die Nordkoreaner und Geschäftsleute im Ausland immer wieder, die Sanktionen zu umgehen. Die komplett staatlich betriebene Wirtschaft Nordkoreas erlaubt es, dass Unternehmen ihre auf Sanktionslisten vermerkten Namen schnell ändern können. Geschäftspartner in China und anderswo stört das meist nicht, denn alle wollen Geld verdienen. Kein Wunder deshalb, dass der nordkoreanische Aussenhandel 2016 um 4,7 Prozent auf 6,25 Milliarden Dollar gewachsen ist. China bestreitet mit 92,5 Prozent den Hauptanteil.
Nach chinesischen Statistiken hat im ersten Halbjahr des laufenden Jahres der Warenaustausch mit dem verbündeten Nordkorea gar um 10,5 Prozent auf 2,6 Milliarden Dollar zugelegt. Wie ist das mit den auch von China verhängten UNO-Sanktionen zu vereinbaren? Peking weist darauf hin, dass die für Nordkorea wichtigen Kohlenexporte nach China im Februar total eingestellt und die Ölzufuhr nach Nordkorea gedrosselt worden seien. Der Zuwachs wird mit Textil-Exporten erklärt, die nicht auf der Sanktionsliste stehen.
China will Regimewechsel verhindern
Chinas Einflussnahme auf Nordkorea ist überdies limitiert. Der junge Marschall Kim Jong-un lässt sich vom grossen Nachbarn und Verbündeten nicht dreinreden – und schon gar nichts vorschreiben. So hielt es schon sein Grossvater Kim Il-sung, der Präsident in alle Ewigkeit, und sein Vater Kim Jong-il, der geliebte Führer. Peking andrerseits will ein Regimewechsel unbedingt verhindern, weil bei einem Zusammenbruch Nordkoreas eine Flüchtlingskatastrophe droht und kein Puffer mehr zwischen China und Südkorea und den dort stationierten amerikanischen Streitkräften bestünde. US-Präsident Trump nimmt zwar immer China in die Pflicht, vom UNO-Sicherheitsrats-Mitglied Russland redet er nicht. Bekannt ist aber, das Nordkorea einen grossen Teil seines Erdöls über Russland bezieht.
Nordkorea als «attraktives Reiseziel»
Kim Jong-un macht derzeit noch mit anderen wirtschaftlichen Nachrichten Schlagzeilen. So wird neuerdings auf einer Webseite für die «attraktive Feriendestination» Nordkorea geworben. Die Reiseseite gibt es auf Koreanisch, Englisch, Chinesisch, Russisch und Japanisch. Vom Golfplatz bis zum Skigebiet bietet die nördliche Halbinsel alles. Die Tourismusbranche, so die amtliche nordkoreanische Nachrichten-Agentur, habe sich «unter der klugen Führung des Obersten Führers» gut entwickelt. Allerdings verbietet die US-Regierung neuerdings ihren Bürgern das Reisen nach Nordkorea nach dem Vorfall mit dem amerikanischen Studenten Otto Warmbier. Andere westliche Länder mahnen zur Vorsicht, so auch die Schweiz, die ihren Bürgern empfiehlt, sich strikte an die Weisungen der nordkoreanischen Reiseleiter zu halten.
In der 2,8-Millionen-Metropole Pyongyang gehen den meisten Touristen die Augen auf. Moderne Hochhäuser schiessen in den Himmel. Adrette Polizistinnen regeln den Verkehr. Manchmal kommt es gar zu Mini-Staus. Auch die Zahl der Geschäfte und Restaurants hat in den letzten fünf Jahren markant zugenommen. Die Jungen zeigen sich nicht mehr im Einheitsgewand, sondern modisch bis bunt. Fast alle aber tragen einen Pin mit dem Porträt Kim Il-sungs im Knopfloch.
«Meister des Geldes»
In der Hauptstadt und in einigen wenigen Provinzstädten etabliert sich langsam eine neue Mittelklasse, bestehend aus Angestellten staatlicher Institutionen, mittleren und höheren Managern der Staats-Firmen und Banken. Zur Mittelklasse zählen auch die Nouvaux Riches der Donju-Klasse (Donju – «Meister des Geldes»), die ihr Geld auf dem illegalen aber geduldeten Schwarzmarkt und mit Schmuggel über die chinesische Grenze machen. Marktwirtschaft auf Nordkoreanisch, sozusagen.
Alle Donjus im vermeintlich total abgeschotteten Land sind bestens informiert über das, was in Südkorea, China, Amerika und sonst wo auf der Welt vor sich geht. Popstars und Soap-Operas aus Südkorea sind wohlbekannt, DVDs und CDs aus Südkorea sind deshalb auf den Schwarzen Märkten heissbegehrt. Die Mittelständler und Donjus besitzen selbstverständlich ein Handy, das allerdings nur innerhalb des Landes funktioniert. Einige reiche Schmuggler benutzen zusätzlich ein chinesisches Smartphone mit internationalen Verbindungen und Internet. Von den etwas über 25 Millionen Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner gehören zu dieser wachsenden Mittelklasse je nach Schätzung zwischen zwei und vier Millionen Menschen.
Elektronische Geldbeutel
Viele Donjus besitzen quasi als Statussymbol und Zeichen ihres Wohlstands seit drei Jahren einen elektronischen Geldbeutel, das heisst eine von der Koryo-Bank oder der Aussenhandelsbank des Nordens herausgegebene Debit Card. Da Karteninhaber mit Devisen – chinesische Yuan, US-Dollar, Euros – ein Konto äufnen mussten, kommt der Staat ganz legal zu dringend benötigten harten Währungen. Seit Juli dieses Jahres ist der elektronische Geldbeutel verallgemeinert worden. Die Löhne an Staatsangestellte werden fortan – natürlich in koreanischen Won – über ein Cash-Konto ausbezahlt. Damit hat die absolute Macht des Staates auf seine Bürger nochmals ein wenig zugenommen. Rodong Sinmun, das Sprachrohr der allmächtigen Arbeiterpartei, kommentiert die Entwicklung so: «Elektronische Karten zu popularisieren, hat eine wichtige Bedeutung bei der Entwicklung der nationalen Wirtschaft und ist hilfreich für das materielle und kulturelle Leben der Bevölkerung.»
Bezahlen kann man mit der Debit Card etwa in Warenhäusern, Supermärkten, Apotheken, Theatern, Kinos, Bibliotheken, der U-Bahn oder der Eisenbahn. Bargeld kann überdies an Geldautomaten bezogen werden. Das alles funktioniert aber nur in Pyongyang und einigen Provinzhauptstädten. Ansonsten bleibt Cash der König. Dies gilt insbesondere für die Schwarzmärkte, wo – zumal für teure und stark nachgefragte Güter – auch harte Devisen am Staat vorbei die Hand wechseln.
Die Wirtschaft wächst
Der renommierte, in Seoul lehrende Nordkorea-Experte Andrei Lankow spricht derzeit sogar von einem «Wirtschaftsboom», allerdings von einer «niedrigen Ausgangslage» her. Da Nordkorea keine statistischen Zahlen zur Wirtschaft und zum Konjunkturverlauf herausgibt, schätzt Lankow das jährliche Wachstum des Brutto-Inlandprodukts (BIP) auf derzeit 3 bis 5 Prozent. Die Südkoreanische Zentralbank, die seit 1991 jährlich nordkoreanische Zahlen aufarbeitet, kommt für 2016 auf ein BIP-Wachstum von 3,9 Prozent, der stärkste Anstieg seit 1999, als 6,1 Prozent zu Buche standen. Im vergangenen Jahr betrug der Wert aller Güter und Dienstleistungen in Nordkorea 32 Billionen Won oder umgerechnet 28 Milliarden US-Dollar, im Vergleich zu Südkorea mit 1,34 Billionen US-Dollar allerdings nur ein kleiner Bruchteil. Beim BIP pro Kopf der Bevölkerung bleibt Nordkorea 2016 mit 1136 Dollar hinter Südkorea – rund 23‘000 Dollar – weit zurück.
Die Südkoreanische Nationalbank, die auch auf Erkenntnisse des Geheimdienstes zurückgreift, erklärt das BIP-Wachstum im Jahr 2016 von 3,9 Prozent mit den Leistungen in Bergbau und im Energiebereich sowie beim Bau von Komponenten für das Atom- und Raketenprogramm. Das durchschnittliche BIP-Wachstum seit Machtantritt von Kim Jong-un vor fünf Jahren beziffert die Südkoreanische Nationalbank auf 1,2 Prozent, während andere Schätzungen von 2 bis 3 Prozent ausgehen.
Misswirtschaft und Hunger
Trotz all dieser positiven Zahlen hat Nordkorea wie immer Schwierigkeiten, seine Bevölkerung adäquat zu ernähren. Das UNO-Ziel von 600 Gramm Getreide pro Tag pro Person wird seit über zwei Jahrzehnten nicht erreicht. Missernten infolge von Dürre oder Hochwasser sind fast jährlich die Norm. Doch die misslichen Wetterbedingungen sind nur ein Grund für die schlechten Ernten. Ebenso wichtig wenn nicht wichtiger sind Misswirtschaft und das kollektivierte Landwirtschaftssystem. Immerhin dürfen jetzt die Bauern ihre Überschüsse auf legalen Märkten verkaufen. Viele Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner erinnern sich noch an die grosse Hungersnot Mitte der 1990er-Jahre. Rund eine Million Menschen starben.
Auch für dieses Jahr stellt die UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft FAO alarmierende Prognosen. Wegen der schlimmsten Dürre seit 16 Jahre sei die Produktion von Nutzpflanzen «schwer geschädigt». Die Frühernte von Weizen, Gerste und Kartoffeln sei im Juni um 30 Prozent zurückgegangen. Die «ohnehin schon schwierige Versorgungslage» werde sich weiter verschärfen, wenn die Reis-, Mais- und Sojabohnenernten anstehen. In den kommenden drei Monaten bis Ende Oktober sind nach Auffassung der FAO grössere Nahrungsmittel-Importe oder Spenden dringend nötig, um Hilfsbedürftige wie Alte und Kinder zu versorgen. Einmal mehr hängt Nordkorea am Tropf der internationalen Nahrungshilfe.
Der westliche Besucher in Pyongyang und Nordkorea wird von alledem nichts mitbekommen. Die Wirtschaft boomt ja. Und das Essen ist gut. Westlichen Besuchern von Peking und China ging es 1958 bis 1961 ähnlich. Sie bereisten damals staunend das Reich der Mitte, sogar ansonsten kritische Journalisten waren beeindruckt. Und das Essen war gut, während – wie wir heute wissen – die katastrophale Hungersnot, verursacht durch Maos utopischen Grossen Sprung nach Vorne, über 35 Millionen Menschen das Leben kostete. Noch heute lernen Chinas Schüler, dass die grosse Hungersnot eine Folge von Naturkatastrophen war. Zu hoffen ist, dass in sechzig Jahren nordkoreanische Schüler und Schülerinnen der Wahrheit näher kommen werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.