Glyphosat: EU-Bewertung hat gravierende Mängel
Red. Die zur Weltgesundheitsorganisation WHO gehörende Agentur für Krebsforschung IARC hat den Unkrautvernichter Glyphosat im Jahr 2015 als «wahrscheinlich krebserregend» eingestuft. Vor Kurzem hat sich die kalifornische Behörde für Gesundheit und Umwelt dieser Beurteilung angeschlossen. Seit dem 7. Juli 2017 gilt der Unkrautvernichter in Kalifornien als «krebserregende Substanz». Monsanto ficht den Entscheid an.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA und das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hingegen stuften Glyphosat 2016 als «ungefährlich» ein. Es gebe keine Hinweise auf eine krebserzeugende oder erbgutschädigende Wirkung durch Glyphosat, so ihre Bewertung. Auch die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) gab Mitte März Entwarnung: Glyphosat sei nicht krebserregend, heisst es im Gutachten der ECHA. Gestützt auf die Bewertung der europäischen Behörden will die EU-Kommission Glyphosat für weitere zehn Jahre zulassen. Erfahrungsgemäss wird sich die Schweiz stark an die Massnahmen der EU anlehnen.
Widerspruch gegen die Risikobewertung der EU-Behörden kommt von Christopher Portier, Experte für Chemikaliensicherheit in den USA. Er hat die Krebsrisiken von Glyphosat im Auftrag der IARC untersucht und bewertet. Portier und weitere 93 WissenschaftlerInnen kritisieren die europäischen Zulassungsbehörden scharf: Die EU-Bewertung weise schwere wissenschaftliche Mängel auf1, die «eine ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Gesundheit bedeuten können».
Das Interview mit Christopher Portier ist in der Fachzeitschrift «Oekoskop» 2/17 der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz erschienen.
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Christopher Portier (PhD) ist Mathematiker und Biostatistiker. Er war 2010 – 2013 Direktor des US National Center for Environmental Health, Centers for Disease Control and Prevention und der US Agency for Toxic Substances and Disease Registry.
Portier war unter anderem als externer Berater bei der Bewertung von Glyphosat durch die Krebsforschungsagentur der WHO (IARC) beteiligt. Damals war er bereits für den US-amerikanischen Umweltverteidigungsfonds tätig. Um Interessenkonflikte auszuschliessen, durfte er zwar sein Expertenwissen einbringen, hatte aber kein Stimmrecht. Portier schrieb weder Evaluationen noch war er bei der finalen Beurteilung zugelassen. Seine Analyse hat jedoch dazu beigetragen, dass die WHO Glyphosat als «wahrscheinlich krebserregend» einstufte. Nach dem Votum der IARC wurde Portier im Internet und teilweise auch in den Medien von der Glyphosat-Lobby angefeindet. Portier nimmt bei der IARC keine Funktion mehr wahr, um die Arbeit der Forscher vor solchen Angriffen zu schützen. Heute ist Portier selbstständiger Berater, u.a. für Regierungsbehörden mehrerer Länder.
«Oekoskop»: Christopher Portier, Sie tragen den Entscheid der IARC mit, Glyphosat sei als «wahrscheinlich krebsfördernd» einzustufen, und kritisieren die gegenteilige Einschätzung durch die EFSA und die ECHA scharf. Weshalb sollten wir der IARC mehr vertrauen als den europäischen Behörden?
Christopher Portier: Es gibt ein paar grundsätzliche Unterschiede, wie die IARC bzw. die EFSA und die ECHA zu ihren Einschätzungen kommen. Die IARC verwendet ausschliesslich öffentlich verfügbare Studiendaten. Denn sie überprüft auch die Rohdaten der Studien, um sicher zu gehen, dass alle Angaben und Zahlen richtig sind. Viele der Studien zu Tierkrebs und Genotoxizität2 sind jedoch im Besitz der Industrie. Sie sind weder für die IARC noch für sonst jemanden öffentlich einsehbar.
Es scheint, dass die EFSA und die ECHA die Rohdaten nicht überprüfen. Wenn sie nur die Berichte überprüfen, die ihnen die Industrie einreicht, so kann es sein, dass die Behörden wichtige Studienresultate übersehen.
Woraus schliessen Sie, dass die Behörden das nicht tun?
Die EFSA hat in ihrem Bericht zur Glyphosat-Einschätzung acht positive Tumorbefunde in Tierstudien übersehen. Das BfR lieferte die Grundlage für diesen EFSA-Bericht. Die entsprechende Kritik von zahlreichen Wissenschaftlern haben BfR-Mitarbeitende bestätigt. Wäre ich Chef des BfR, würde ich mich unter diesen Umständen sofort fragen: Haben wir noch andere Tumore übersehen? An diesem Punkt liesse ich das gesamte Datenmaterial durch meine Mitarbeitenden nochmals evaluieren und jeden Tumor-Typ auf seine statistische Signifikanz hin neu bewerten. Das ist die einfachste und offensichtlichste Sache, die sie in einer Krebs-Evaluation tun können. Trotzdem hat dies das BfR nicht getan.
Warum überprüfen EFSA und ECHA nicht genauer?
Ich kann nicht für sie sprechen, aber ich kann von meiner Funktion innerhalb einer Regulierungsbehörde berichten. Nicht nur beim BfR, der EFSA und der ECHA sind alle mit Arbeit überlastet. Zudem stehen die Behörden unter Druck, sehr schnell Resultate zu liefern. Denn wird Glyphosat über längere Zeit nicht genehmigt oder verliert Monsanto gar die Zulassung in Europa, entgeht dem Konzern viel Geld. Die Behörden stehen also unter starkem Druck und haben keine Zeit.
Nach Ansicht von Christopher Portier gibt es bei der Zulassung von chemischen Substanzen einiges zu verbessern. Seine Forderungen:
- Unternehmen sollen ihre Unterlagen elektronisch einreichen, damit die Daten nicht mehr mühsam digitalisiert werden müssen, um sie zu prüfen.
- Die Industrie muss die Rohdaten ihrer Studien öffentlich zugänglich machen, damit alle die gleichen Überprüfungsmöglichkeiten haben. Alle positiven und negativen Befunde sollten aufgelistet werden, damit eine schnelle Reevaluation möglich ist.
- Der Zulassungsprozess muss unabhängig sein. Heute bestimmt die Regierung, wer in der ECHA sitzt und wer den EFSA-Bericht evaluiert. Eine unabhängige Institution sollte Wissenschaftler nominieren, die dafür qualifiziert sind und aus Universitäten und Institutionen stammen, die weder mit der Industrie noch mit Behörden verbandelt sind. Eine hohes Mass an Unabhängigkeit könnte so gewährleistet werden, auch wenn die Regierung am Ende aus den Nominierten auswählt.
- Es braucht strenge Gesetze über mögliche Interessenkonflikte. Die fehlen z B. in der EU weitgehend. Es müsste unter anderem auch definiert sein, was ein Interessenkonflikt ist.
Welche weiteren Unterschiede sehen Sie zwischen IARC und EFSA/ECHA?
Die Regeln, nach welchen sowohl IARC wie auch EFSA und ECHA arbeiten, um die wissenschaftliche Evidenz für Krebs zu evaluieren, sind identisch. Also sollte man meinen, dass auch die Schlüsse, die gezogen werden, identisch sind. Dem ist aber nicht so. Die IARC fand bei der Überprüfung einer epidemiologischen Studie einen plausiblen Zusammenhang zwischen der Glyphosat-Exposition und Non-Hodgkin-Lymphom-Erkrankungen. Deshalb kam die IARC zum Schluss, dass eine limitierte Evidenz für Krebserkrankungen beim Menschen besteht. EFSA und ECHA hingegen wiesen dem Befund eine «sehr limitierte Evidenz» zu. Das ist eine Kategorie, die es offiziell gar nicht gibt. Es ist nicht nachvollziehbar, was sie damit meinen.
Die Gegenseite wirft der IARC genauso vor, sie würde unwissenschaftlich arbeiten: Nicht nur EFSA und ECHA. Auch die US-amerikanische Umweltbehörde EPA und andere Behörden sagen, bei Glyphosat liege die IARC falsch.
Wenn zwei positive Tierstudien vorliegen muss die Evidenz als ausreichend kategorisiert werden. Beim Glyphosat fand die IARC vier Tierstudien mit positivem Krebsbefund. Es gab keinen Grund, sie anzuzweifeln. Die Befunde waren plausibel und statistisch signifikant gegenüber den Kontrollgruppen. Die Behörden hingegen gaben immer wieder andere Gründe an, weshalb die Befunde dennoch nicht taugen würden.
Bundesrat Josef Schneider-Amman schrieb uns kürzlich: «Die Schlussfolgerungen der lARC basieren nicht auf neuen Studien, sondern auf einer anderen Beurteilungsmethode, welche die Exposition, d.h. die Menge und Dosis, der ein Anwender und/oder Konsument ausgesetzt ist, nicht berücksichtigt».3 Was sagen Sie dazu?
Das ist richtig. Ich kenne das Schweizer Gesetz nicht, aber in der EU ist es sehr klar: Das Dosis-Wirkung-Prinzip wird bei nicht genotoxischen Substanzen angewandt. Ist eine Substanz aber genotoxisch, dann spielt die Dosis der Exposition keine Rolle und die Substanz muss gemäss EU-Recht verboten werden. Deshalb ist die Aussage des Bundesrates zumindest bezüglich EU-Recht für Glyphosat kein statthaftes Argument.
Die meisten Behörden auf der Welt haben festgelegt: Ist eine Substanz genotoxisch und handelt es sich um ein Karzinogen, dann wird sie verboten.
Ist Glyphosat genotoxisch?
Wir wissen es nicht genau: Die Daten von 50 Prozent der Studien sprechen für eine Genotoxizität, 50 Prozent dagegen. Im Interesse der öffentlichen Gesundheit sollten wir Glyphosat deshalb meiner Meinung nach als genotoxisch klassieren.
Die Zulassungsbehörden wurden in den 1970er-Jahren aufgebaut, um einen zweiten «Fall DDT» zu verhindern. Mit Blick auf die Pestizide Glyphosat, Triclosan oder die Neonicotinoide: Wurde dieses Ziel erreicht?
Das ist schwer zu beantworten. Seitdem chemische Substanzen verboten wurden, wissen wir nicht, ob wir damit tatsächlich präventiv Krebsfälle verhindert haben. Aber ganz klar, seit DDT haben wir Fehler gemacht. Viele Substanzen haben wir falsch angegangen; z. B. Blei im Benzin, es dauerte lange, bis es verboten wurde. Es hiess zwar, Blei ist ein Problem, aber nur ein kleines. Dann zeigten Studien, dass das Problem doch grösser sein könnte…
…ist das nicht immer so?
Es ist oft so, dass die Behörden bei einer Substanz einen Grenzwert festlegen, um später festzustellen, dass dieser zu hoch war. Sie senken ihn, um danach erneut zu bemerken, dass er noch immer zu hoch ist. So wiederholte es sich bei zahlreichen Substanzen, etwa bei den Dioxinen, den Dibenzofuranen, den PCBs und auch bei den bromierten Brandschutzchemikalien.
Anders aber scheint es bei den klassischen Pestiziden abzulaufen. Sind sie einmal zugelassen, so verfolgt kaum jemand mehr ihre gesundheitlichen Konsequenzen. Wer geht der Frage nach, ob zugelassene Pestizide Krebs auslösen oder nicht? Beim Glyphosat stammen einige der Studien, die wir überprüft haben, aus dem Jahre 1981. Darin tauchen Tumore auf, obwohl meist nur rund 200 Menschen berücksichtigt wurden. Während 36 Jahren will weltweit keine Zulassungsbehörde diese Tumor-Befunde erkannt haben, obwohl die Literatur nur neun Studien zum Krebsrisiko durch Glyphosat beim Menschen umfasst. Stellen Sie sich vor, schon 1981 hätte jemand dieses Versehen entdeckt und es korrigiert. Das hätte wohl zu einer geringeren Akzeptanz von Glyphosat geführt.
Nehmen wir die grosse US-Umweltbehörde EPA: Warum hat sie diese Tumore nicht erkannt?
Das überraschte mich auch. Die EPA betont, sie würde Pestizide ständig reevaluieren. Dasselbe sagt die EFSA. Offensichtlich tun sie es nicht richtig. Bei richtigem Vorgehen sind diese Tumor-Befunde schwerlich zu übersehen.
Heute stehen wir auch vor dem Problem der neuartigen Neonicotinoide, also Insektiziden, die systemisch in die Pflanzen eindringen. Waren sich die Behörden der neuen Dimension bewusst, als sie diese neue Art von Pestiziden zuliessen?
Früher wurde das sehr giftige Nikotin als Insektizid verwendet. Die Neonicotinoide sind viel weniger giftig, bestanden die Tests und wurden zugelassen. Der Zulassungsprozess war aber nicht speziell an die neuen Substanzen angepasst worden. Inzwischen wissen wir, dass Neonicotinoide ökotoxikologisch ein Problem sind. Ich bin überzeugt, dass die Evidenz gegeben ist, dass sie Bienen töten. Ich denke, sie werden verboten und durch ein neues Produkt ersetzt, welches dann möglicherweise wiederum problematisch ist.
Die Bienen starben schon in den 1940er-Jahren durch DDT und danach bei allen neuen Insektiziden, die auf den Markt kamen. Die Bienenverträglichkeit müsste doch zumindest heute getestet werden…
…das gehört in den USA auch heute nicht zum Zulassungsprozedere.
Warum nicht?
Das ist eine sehr gute Frage, die Sie den Zulassungsbehörden stellen sollten. In den USA werden Insektizide an Schmetterlingen getestet, nicht aber an Bienen, obwohl deren Biologie verschieden ist. Auch bei den Schmetterlingen ist die Beurteilung mehr als fragwürdig: Sterben 20 Prozent auf Grund eines Insektizids, gilt das als okay. Sterben über 20 Prozent, schauen sie genauer hin. Sind es mehr als 50 Prozent, wird die Substanz verboten.
Wie sehen Sie die Zukunft von Glyphosat?
Ich war lange Zeit in Zulassungsbehörden tätig und hatte die Möglichkeit, Substanzen zu verbieten. Darum antworte ich als Wissenschaftler und ehemaliger Funktionär: Die EFSA und die ECHA haben ihren Job nicht gemacht. Die Informationen, die sie den gesetzgebenden Politikern geliefert haben, sind wissenschaftlich nicht haltbar und qualitativ schlecht. Mir geht es nicht vordringlich darum, dass Glyphosat verboten wird. Mir geht es grundsätzlich um die wissenschaftliche Beurteilung des Krebspotenzials von Substanzen. Dafür bestehen Regeln, welche die Behörden streng befolgen müssen. Das ist bei Glyphosat momentan nicht der Fall. Folgen die Politiker der Empfehlung ihrer Behörden, wird beim Glyphosat der öffentliche Gesundheitsschutz scheitern. Deshalb habe ich den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker in einem Brief auf die fehlerhaften Grundlagen aufmerksam gemacht, die er von seinen Behörden erhalten hat.
1. Christopher Portier et al.: Differences in the carcinogenic evaluation of glyphosate between the International Agency for Research on Cancer (IARC) and the European Food Safety Authority (EFSA), J Epidemiol Community Health Month, JECH Online First, published on March 3, 2016 as 10.1136/jech-2015-207005.
2. Chemische Stoffe werden als genotoxisch bezeichnet, wenn sie das genetische Material von Zellen verändern.
3. E-Mail von Bundesrat Schneider-Ammann vom 22.05.2017 als Antwort auf ein Schreiben von Bernadette Scherrer (Genkritisches Forum GenAu) und Dr. med. Peter Kälin (AefU) betreffend «Unzulässige Öko-Fördergelder für Glyphosat».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Martin Forter ist Geschäftsleiter der Organisation Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz. Stephanie Fuchs ist Redaktorin der Fachzeitschrift «Oekoskop».