Ungarns Transitlager: «Leben wie im Gefängnis»
Red. Im Juni dieses Jahres entschied das Bundesverwaltungsgericht, vorerst keine Asylbewerber und -bewerberinnen mehr nach Ungarn auszuschaffen. Der Grund ist ein im März verabschiedetes Gesetz des ungarischen Parlaments. Es erlaubt, alle Geflüchteten bis zum Ende ihres Asylverfahrens in den beiden Lagern Röszke und Tompa in den Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze festzuhalten.
Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verstossen solche «geschlossenen» Lager gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Entsprechend soll nun das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Geheiss des Bundesverwaltungsgerichts abklären, ob die gesetzlichen sowie humanitären Bedingungen vor Ort Rückführungen von Asylsuchenden nach Ungarn gemäss dem Dublin-Abkommen überhaupt noch zulassen.
Berichte aus den Flüchtlingslagern in Ungarns Transitzonen sind sehr spärlich. Medienleute haben kaum noch Zugang und auch unabhängige Hilfsorganisationen benötigen spezielle Bewilligungen. Dazu gehört «Sirius help», ein Kollektiv von Freiwilligen, das seine Arbeit 2015 auf den griechischen Inseln begann und seit über einem Jahr auch in Budapest und an den ungarischen Grenzen aktiv ist.
Klaus Petrus hat sich an der serbisch-ungarischen Grenze mit Zuzana Kizáková getroffen, die bis Ende Mai im Auftrag von «Sirius help» mehrmals wöchentlich die Transitcamps Röszke und Tompa besucht hat.
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Klaus Petrus: Flüchtlingshilfswerke und Menschenrechtsorganisationen vergleichen die Transitzentren für Geflüchtete an der ungarisch-serbischen Grenze mit Gefängnissen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Zuzana Kizáková: Ja, man kann von Gefängnissen reden. Die Lager befinden sich abgeschottet im Grenzgebiet und sind von drei Meter hohen Zäunen mit Stacheldraht umgeben. Die Camps selbst sind zudem in Sektoren unterteilt – manche für Familien, andere für einzelne Männer –, und jeder dieser Sektoren ist ebenfalls vollständig mit Gittern und Stacheldraht abgeriegelt. Alle Eingänge werden bewacht und die Flüchtlinge dürfen ihre Sektoren nicht unbeaufsichtigt verlassen, geschweige denn das Lager. Überall sind Polizisten. Auch gibt es an allen Ecken Kameras, die Menschen haben kaum Privatsphäre.
Lager Röszke: Die Geflüchteten können ihre Sektoren nicht unbeaufsichtigt verlassen, überall ist Polizei. (Archiv-Bild)
Wie muss man sich diese Sektoren vorstellen?
Sie sind unterschiedlich gross. Im einen Sektor hielten sich zum Beispiel an die fünfzehn Familien auf, in einem anderen deren fünf. Alle Sektoren bestehen aus Containern, in denen die Geflüchteten leben und schlafen. Auf dem Platz vor den Containern hat es Sitzbänke, eine Rutsche mit Schaukel, ein paar Töpfe mit Zierpflanzen. Trotzdem wirkt alles sehr artifiziell und kühl. Neben den Wohncontainern gibt es einen Gemeinschaftsraum, wo auch die Kinder basteln oder zeichnen können. In Röszke wurde er allerdings schon um vier Uhr nachmittags geschlossen.
Sie sagten, die Geflüchteten leben in Containern. Wie sieht es darin aus?
Jeder Container sieht genau gleich aus. Es hat einen Tisch, einen Schrank, vier Betten, das muss für eine Familie reichen, egal, wie viele Kinder sie hat. Einen Herd gibt es nicht, die Menschen können also nicht selbst kochen. Zu dieser Jahreszeit ist es bereits sehr heiss, sodass man sich tagsüber nicht mehr in den Containern aufhalten kann. Auch draussen hat es kaum schattige Plätze. Deshalb haben wir den Kindern Hüte und Sonnencrème mitgebracht. Zudem ist es in den Lagern sehr staubig, was auch mit dem Kiesboden zu tun hat. Viele Geflüchteten haben sich bei uns über permanenten Husten und Atembeschwerden beklagt, darunter vor allem Kinder.
Öde, staubig und heiss: «Dorfplatz» im Lager Tompa.(Bild: Keegan Nashan)
Wie lange bleiben die Geflüchteten im Schnitt in diesen Lagern?
Das lässt sich nicht allgemein sagen. Die Geflüchteten wissen ja selbst nicht, wie lange es dauert, bis sie weiterkönnen. Es gibt manche, die sind einige Tage hier, andere schon seit Wochen oder gar Monaten. Am Schlimmsten ist für sie das ständige Warten und die Ungewissheit, ob der Asylantrag durchkommt – und was mit ihnen passiert, falls es mit dem Asyl nicht klappt. Viele von ihnen sind schon ein Jahr oder länger auf der Flucht, sie sind müde und oft sehr verzweifelt.
Erhalten Geflüchtete in Ungarn überhaupt noch Asyl?
Die ungarische Regierung lässt inzwischen nur noch fünf Personen pro Werktag und Transitcamp ins Land. Allein im Mai waren in beiden Camps schätzungsweise vierhundert Menschen interniert. Während dieser Zeit haben bloss fünf Familien Asyl erhalten.
Es wurde kritisiert, dass sich auch unbegleitete Minderjährige in diesen Transitlagern aufhalten. Stimmt das?
Ja. Mitte Mai wurden fünfzehn bis siebzehn unbegleitete minderjährige Jungen von Tompa ins Lager von Röszke gebracht. Dort leben sie in einem speziell abgeriegelten Sektor.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen befürchtet, dass das Leben in solchen geschlossenen Lagern schwere psychische und physische Auswirkungen auf die Geflüchteten haben kann.
Ohne Zweifel. Viele der Menschen hier fühlen sich tatsächlich wie in einem Gefängnis. Sie haben immer wieder zu uns gesagt: «Wir wurden aus unserem Land vertrieben und jetzt steckt ihr uns in ein Gefängnis. Was haben wir denn verbrochen?» Das zeigt, dass die Geflüchteten gar nicht verstehen, was mit ihnen geschieht.
Gibt es denn in den Lagern keine Betreuung?
Die ungarische Regierung sagt, dass es den Geflüchteten an nichts fehle. Oberflächlich gesehen könnte man diesen Eindruck tatsächlich haben. Die Lager sind ja noch sehr neu, sie wurden erst Ende März eröffnet. Entsprechend ist alles noch sauber, aufgeräumt und weiss: die Container, Plastikfenster, Bettlaken, Stühle. Auch erhalten die Geflüchteten regelmässig ihre Mahlzeiten und wenn sie medizinisch versorgt werden müssen, können sie sich melden und werden von den Polizisten in den Ärztesektor gebracht. Aber das ist bloss Fassade. Blickt man dahinter, erkennt man das Trauma der Menschen, die hier völlig abgeriegelt und von Stacheldraht umzäunt in Stahlbehältern leben müssen. Am schlimmsten trifft es, wie immer, die Kinder.
Kinder im Transitlager Tompa. (Bild: Keegan Nashan)
Wie reagieren sie darauf?
Viele von ihnen sind verstört. Als wir sie zum Beispiel fragten, was wir ihnen mitbringen sollen, rannten sie zum Container und holten ihre Karte mit der Registrierungsnummer. Diese brauchen sie immer dann, wenn sie im Lager etwas bekommen, zum Beispiel Essen oder Kleider. Auch dauerte es einige Zeit, bis die Kinder begriffen, dass wir das Spielzeug, das wir ihnen kauften – den Mädchen Barbies, den Jungs Autos –, am Ende unserer Besuche nicht wieder mitnehmen werden. Auch haben wir Kinderzeichnungen gesehen, auf denen das Lager mit all den Zäunen und Stacheldrähten abgebildet waren.
Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verstossen solche «geschlossenen Lager» gegen die Menschenrechtskonvention. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán weist diese Kritik zurück und beteuert, die Geflüchteten könnten diese Camps jederzeit wieder verlassen.
Ja, doch die einzige Wahl, die sie haben, ist nach Serbien zurückzukehren. Aber was sollen sie da? Die meisten von ihnen waren ja schon monatelang dort. Zudem sind die staatlichen Lager in Serbien inzwischen überfüllt. Auch gibt es kaum noch Möglichkeiten, auf eigene Faust von Serbien nach Ungarn zu gelangen. Die ungarische Regierung hat einen durchgehenden Zaun errichten lassen. Wer es trotzdem schafft, läuft Gefahr, von den ungarischen Grenzpolizisten aufgegriffen, malträtiert und wieder nach Serbien zurückgeschafft zu werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Klaus Petrus ist freischaffender Fotojournalist mit den Schwerpunkten Protestbewegungen und Tierschutz.