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Haaretz am 1. Juni 2017: Was ich in 30 Jahren Berichterstattung gesehen habe © Haaretz

Gideon Levy: Was ich selber gesehen habe!

Christian Müller /  Sechs Tage Krieg im Juni 1967 – und danach fünfzig Jahre von Israel besetztes Land. Die Stimme eines Augenzeugen vor Ort.

Vor genau 50 Jahren, am 5. Juni 1967, schritt Israel zum Präventivschlag. Das junge Land unter Ministerpräsident Levi Eschkol sah sich von Ägypten unter Präsident Gamal Abdel Nasser und von Syrien unter Nureddin Mustafa al-Atassi bedroht. Es gelang den israelischen Streitkräften, durch Unterlassung einer Kriegerklärung und durch – die Radarüberwachung unterlaufende – Tiefflüge die feindlichen Luftwaffen zu überraschen und praktisch am ersten Kriegstag zu zerstören. Und nach nur sechs Tagen stand der Sieger dieses äusserst kurzen Krieges fest: Israel.

Israel war aber nicht nur der Sieger, es hatte auch etliche Gebiete der Nachbarländer besetzt: den Gazastreifen im Südwesten, die Sinaihalbinsel im Süden, Westjordanland im Osten, die Golanhöhen im Nordosten und zusätzlich den östlichen Teil der Stadt Jerusalem mit dem Tempelberg. Und diese Gebiete (mit Ausnahme der in mehreren Etappen bis 1982 an Ägypten zurückgegebenen Halbinsel Sinai) hält Israel heute, 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg, noch immer besetzt (beziehungsweise, im Falle des Gaza-Streifens, total abgesperrt; 2014 wurde der Gaza-Streifen erneut bombardiert und weitestgehend zerstört).

Während einerseits die westliche Weltöffentlichkeit den ultrakurzen Präventivschlag Israels gegen die Nachbarländer Ägypten, Jordanien und Syrien nicht nur weitestgehend verstand, sondern sich damals über diesen Sieg Israels sogar freute, wuchs in den folgenden Jahren die Kritik an Israel, die besetzten Gebiete nicht nur nicht zurückgegeben zu haben, wie versprochen, sondern, vor allem in der West Bank, sie mit immer neuen israelischen Siedlungen de facto einzuverleiben und alle Friedensbemühungen zu blockieren. Kam die Kritik aus nicht-jüdischen Kreisen, wurden die Kritiker mit dem Argument des Antisemitismus meist schnell zum Schweigen gebracht. Kam die Kritik aber von jüdischer Seite – man denke an Tony Judt, Norman Finkelstein, John Mearsheimer oder auch Richard Falk – sprach Israel von «Nestbeschmutzern» oder auch etwa von «jüdischen Selbsthassern».

Das ist, leider, weitestgehend heute noch so. Die internationale Israel-Lobby versucht bis zum heutigen Tag, jede Kritik an der Besatzungs- und Siedlungspolitik Israels als «antisemitisch» zu diskreditieren. Aber es gibt zum Glück nicht nur US-amerikanische oder britische «Nestbeschmutzer», sondern auch Intellektuelle in Israel selbst, die es wagen, der jetzigen Regierungspolitik Benjamin Netanyahus und der politischen Propaganda der Israel-Lobby entgegenzutreten.

Gideon Levy, der Augenzeuge vor Ort

Der vielleicht mutigste und schärfste Kritiker der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik ist der heute 64jährige Journalist Gideon Levy. Seine Eltern waren 1933 aus Angst vor den Nazis aus dem Sudetenland (damals Tschechoslowakei) nach Israel geflohen. Gideon Levy schreibt seit vielen Jahren für die in Tel Aviv erscheinende linksliberale Tageszeitung Haaretz, wo seine Artikel und Kommentare auch in englischer Sprache – auch im Internet – gelesen werden können.

Am 21. April 2017 schrieb er einen – zwar bös sarkastischen, aber umso deutlicheren – Kommentar in Form eines offenen Briefes an ein israelisches Ehepaar, das seinetwegen das Abonnement von Haaretz abbestellt hatte (die deutsche Übersetzung folgt jedem englischen Originalabschnitt):

A Heartfelt Apology to Haaretz Readers

Eine von Herzen kommende Entschuldigung bei den Leserinnen und Lesern von Haaretz

Der Vorspann: To all offended readers, I apologize for the one-sidedness. How could I not maintain a balance between the murderer and the murdered; the thief and his victim; and the occupier and the occupied?

(Ich entschuldige mich bei allen gekränkten Lesern für meine Einseitigkeit. Wie konnte ich es versäumen, das Gleichgewicht zwischen den Mördern und den Ermordeten einzuhalten, dem Dieb und seinem Opfer, und dem Besetzer und dem Besetzten?)

Dear Orna and Moshe Gan-Zvi

(Liebe Orna and Moshe Gan-Zvi)

I was saddened to read in Tuesday’s Hebrew edition of Haaretz that you’ve decided to cancel your subscription. I don’t know you, but I will miss you as readers. As someone who is partly responsible for your decision, as your article indicated, allow me to apologize. To apologize for writing the truth all these years. I should have taken into account that this truth wasn’t palatable to you, and acted accordingly.

(Ich wurde traurig, als ich in der Dienstagausgabe der hebräischen Ausgabe von Haaretz las, dass Sie Ihr Abonnement kündigen. Ich kenne Sie nicht, aber ich werde Sie als Leser vermissen. – Erlauben Sie mir als einem, der für Ihre Entscheidung mitverantwortlich ist, wie es Ihr Brief andeutet, mich zu entschuldigen. Zu entschuldigen dafür, dass ich all die Jahre die Wahrheit geschrieben habe. Ich hätte in Betracht ziehen müssen, dass diese Wahrheit für Sie unangenehm ist, und ich hätte mich entsprechend verhalten müssen.)

It was not pleasant for you to read the theory put forward by me and my fellow Haaretz correspondent Amira Hass about the occupation. You, who are active in Rotary Israel, who come from the business world, who are so proud of your children and the fact that they live in the West Bank. Your son was educated at the Eli premilitary academy, and your granddaughters proudly carry the last name Sheetrit. You, who are so pleased with yourselves and your values, with your children and your morals, don’t think you should be forced to read unpleasant truths. You simply don’t deserve it.

(Es war unerfreulich für Sie, die Thesen über die Besatzung zu lesen, die von mir und meiner Haaretz-Kollegin Amira Hass vorgebracht wurden. Sie, die Sie aktiv im israelischen Rotary Club sind, die Sie aus der Geschäftswelt kommen, die Sie so stolz auf Ihre Kinder und auf den Umstand sind, dass diese in der West Bank leben. Ihr Sohn wurde in der Eli Pre-Military Academy ausgebildet, und Ihre Enkelkinder tragen stolz den Namen Sheetrit (bekannter israelischer Politiker, Red.). Sie, die Sie so zufrieden sind mit sich selbst und Ihren Werten, mit Ihren Kindern und mit Ihrer Moral, Sie denken, dass Sie nicht genötigt werden sollten, unangenehme Wahrheiten zu lesen: Das haben Sie einfach nicht verdient.)

Indeed, how could I have spent all these years publishing articles that even you, generously, admitted were touching, without ever, to my shame, checking how these Palestinian families ended up in their serious predicaments? Really, how did that happen? Of course it was their own fault, but I keep blaming the Israel Defense Forces – how could I? And how could Amira Hass be so one-sided and lacking in perspective that would explain how a people could prefer the elimination of another people over a democratic society? Really, how could you, Amira?

(In der Tat, wie konnte ich nur all diese Jahre Artikel publizieren, die sogar Sie, grosszügigerweise, berührend fanden, ohne je, zu meiner Schande, zu überprüfen, wie diese palästinensischen Familien in ihre missliche Lage gelangt sind? Wirklich, wie konnte es so weit kommen? Selbstverständlich, es war deren eigener Fehler, stattdessen kritisiere ich immer nur die israelische Streitkraft – wie konnte ich nur?! Und wie konnte Admira Hass so einseitig und perspektivlos sein und nicht erklären, warum ein Volk die Vernichtung eines anderen Volkes einer demokratischen Gesellschaft vorzieht? Wirklich, wie konntest du nur, Admira?)

I assume, Moshe, that if they were to lock you in a cage for years, you would continue your Rotary membership and refuse to back a struggle against your incarceration. I assume, Orna, that if foreign soldiers were to burst into your home in the middle of the night and arrest your Moshe before your eyes, kick him, force him to his knees, blindfold him, handcuff him, and beat him in front of your children who study in Eli – and then snatch him from your home for months without trial – you would be looking for some »creative leadership” for your people.

(Ich nehme an, dass Sie, Moshe, für Jahre ins Gefängnis gesperrt, Ihre Rotary Mitgliedschaft aufrechterhalten würden und nicht bereit wären, den Kampf für Ihre Freilassung zu unterstützen. Ich vermute, dass Sie, Orna, sich, wenn fremde Soldaten mitten in der Nacht in Ihr Haus eindringen und Moshe vor Ihren Augen festnehmen würden, ihn treten und in die Knie zwingen, ihm die Augen verbinden, ihn in Handschellen legen, ihn vor Ihren Kindern, die an der Akademie Eli studieren, schlagen und dann für Monate wegbringen würden, ohne Gerichtsverhandlung, dass Sie sich dann nach einer «schöpferischen Führung» für Ihr Volk umschauen würden.)

I assume that you, who come from the business world, would lovingly accept those who confiscate your property and ban you from your own land. I’m sure it would never occur to you to struggle against those who have tortured you with such evil for so many years.

(Ich gehe davon aus, dass Sie, die Sie aus der Geschäftswelt kommen, jene liebevoll aufnehmen würden, die Ihnen Ihr Besitztum wegnehmen und Sie von Ihrem Land vertreiben. Und ich bin sicher, dass Sie sich nie gegen jene wehren würden, die Sie so viele Jahre so übel behandelt, ja gefoltert haben.)

What can we do? The Palestinians are different from you, dear Orna and Moshe. They were not born in such lofty heights as you. They are human animals, bloodthirsty, born to kill. Not all of them are as ethical as you and your children from the Eli academy. Yes, there are people who fight for their freedom. There are people who are forced to do so violently. In fact, there are almost no nations who haven’t acted this way, including the chosen people you’re proud to belong to. Not only do you belong; you are the pillar of fire that leads the camp, you’re the best, the moral elite – you, the religious Zionists.

(Was können wir tun? Die Palästinenser sind anders als Sie, liebe Orna und Moshe. Sie, die Palästinenser, sind nicht so hochwohlgeboren wie Sie. Sie, die Palästinenser, sind Tiere in Menschenform, blutrünstig, geboren, um zu töten. Nicht alle sind moralisch so makellos wie Sie und Ihre Kinder von der Eli Academy. Ja, es gibt Leute, die für ihre Freiheit kämpfen. Es gibt Leute, die gezwungen sind, dabei gewaltsam vorzugehen. In der Tat, es gibt kaum Völker, die sich in dieser Situation anders verhalten haben, einschliesslich das auserwählte Volk, zu dem zu gehören Sie so stolz sind. Ja, Sie gehören nicht nur dazu, Sie sind die Feuersäule, die vor uns herzieht, Sie sind die Besten, die moralische Elite – Sie, die religiösen Zionisten.)

I apologize for the one-sidedness. How could I not maintain a balance between the murderer and the murdered; the thief and his victim; the occupier and the occupied? Forgive me for daring to turn off your joy and pride in the land flowing with milk and Mobileye, and cherry tomatoes, too. There are so many wonderful things in this country, and Haaretz – with its »moral deterioration», as you call it – is ruining the party. How did I not see that you don’t like to read the truth, and didn’t take this into account when I’d return from the occupied territories every week to write about what I’d seen with my own eyes?

(Ich entschuldige mich für meine Einseitigkeit. Wie konnte ich nur die Balance zwischen den Mördern und den Ermordeten nicht einhalten, zwischen dem Dieb und seinem Opfer, dem Besetzer und dem Besetzten? Verzeihen Sie mir, dass ich es gewagt habe, Ihre Freude und Ihren Stolz zu verderben im Land, wo Milch fliesst und Mobileyes mitfahren, und wo es, natürlich, auch Cherry Tomaten gibt! Es gibt so viele wunderbare Dinge in diesem Land, und Haaretz – mit ihrem moralischen Verfall, wie Sie es nennen – ruiniert die Fête. Wie konnte ich übersehen, dass Sie die Wahrheit nicht gern lesen, wie konnte ich das ausser acht lassen, wenn ich jede Woche aus den besetzten Gebieten zurückkam, um darüber zu schreiben, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe?)

But now it’s too late. The call to boycott chocolate spread was too much even for you, so you’ve decided to boycott Haaretz. From now on, the only paper on your coffee table will be the weekly, right-wing Makor Rishon. They won’t write about how IDF soldiers sprayed five Palestinian car passengers with bullets three weeks ago, and I’m sure your Shabbats will be a lot more pleasant from now on.

(Aber jetzt ist es zu spät. Mein Aufruf, die Schokoladen-Verteilung zu boykottieren, war zu viel für Sie. Und so haben Sie sich entschieden, die Zeitung Haaretz zu boykottieren. Ab jetzt wird die einzige Zeitung auf Ihrem Kaffeetisch die Wochenzeitung Makor Rishon aus dem rechten Lager sein. Sie wird nicht darüber berichten, wie israelische Soldaten vor drei Wochen fünf palästinensische Autoinsassen mit Kugeln durchsiebt haben, und ich bin sicher, Ihre Shabbats werden künftig sehr viel vergnüglicher sein.)

Gideon Levy, Haaretz Correspondent

Ein zweites Dokument von Gideon Levy, aus Anlass des 50. Jahrestages des Sechstagekrieges:

What I’ve Seen in 30 Years of Reporting on the Israeli Occupation

(Was ich in 30 Jahren Berichterstattung über die israelische Besatzung gesehen habe.)

The occupation has its own language: An Arab is a ‹terrorist,› detention without trial is ‹administrative,› the occupying power is forever the victim and writing about its crimes is treason.

(Die Besatzung hat ihre eigene Sprache: Ein Araber ist ein ‹Terrorist›, Haft ohne Gerichtsverfahren heisst ‹administrativ›, die besetzende Macht ist immer das Opfer und über ihre Verbrechen zu schreiben ist Verrat.)

Fifty Years, Fifty Lies / Fünfzig Jahre, fünfzig Lügen

Let’s assume the occupation is justified. Let’s also say that Israel has no choice. Let’s not even call it an occupation. Let’s say it was recognized by international law and that the world has applauded it. Let’s assume that the Palestinians are grateful for its presence. Nevertheless, a small problem still hovers over it: the whole thing is based entirely on lies.

(Lass uns annehmen, die Besetzung sei gerechtfertigt. Lass uns auch sagen, Israel habe keine andere Wahl. Vergessen wir sogar das Wort Besatzung. Lass uns sagen, sie sei völkerrechtlich in Ordnung und die Welt habe applaudiert. Lass uns annehmen, die Palästinenser seien dankbar für Israels Anwesenheit. Aber nichtsdestotrotz, ein kleines Problem wird bestehen bleiben: Die ganze Geschichte basiert vollständig auf Lügen.)

From beginning to ever-receding end, it’s all a pack of lies. There is not one word of truth associated with it. Were it not for these lies it would have imploded in its rottenness a long time ago. Were it not for these lies, it’s doubtful if it would have ever come into being. These lies, some of which the right takes pride in («for the sake of the Land of Israel it’s permissible to lie»), are enough to make any decent person recoil in revulsion. One doesn’t need its other horrors to be convinced of this.

(Von allem Anfang an bis zum in immer weitere Ferne rückenden Ende: es ist ein Konglomerat von Lügen. Da ist kein Wort an Wahrheit dabei. Wären da nicht diese Lügen gewesen, das Ganze wäre schon vor langer Zeit in Fäulnis zusammengebrochen. Wären da nicht diese Lügen gewesen, es wäre zweifelhaft, ob überhaupt alles so entstanden wäre. Diese Lügen – auf einige von ihnen ist die (politische, Red.) Rechte stolz («für das Wohl des Landes Israel ist Lügen erlaubt»), diese Lügen sind genug, um jede anständige Person beim Gedanken an eine Rückkehr mit Ekel zu erfüllen. Man braucht keinen anderen Graus, um davon überzeugt zu sein.)

It began with the question of what to call the territories. On Israel Radio it was decided to use the term «temporarily-held territories». This was lie No. 1, implying that the occupation was temporary and that Israel intended to evacuate these territories, that they were only a bargaining chip in the quest for peace. This is probably the biggest lie and is certainly the most decisive one. It is the one that has enabled the celebration of its jubilee anniversary. The truth is that Israel never intended to end the occupation. Its alleged temporariness only put the world to sleep with its deceit.

(Es begann mit der Frage, wie Westjordanland und Gaza bezeichnet werden sollten. Im israelischen Radio wurde entschieden, den Terminus «vorübergehend gehaltenes Territorium» zu verwenden. Das war die Lüge Nr. 1, die beinhaltete, dass die Besatzung vorübergehend sein würde und dass Israel beabsichtige, diese Territorien wieder frei zu geben und dass die Besatzung nur ein billiges Pfand im Verlangen nach Frieden sein werde. Das ist wahrscheinlich die grösste Lüge und es ist sicher die entscheidendste. Es ist diejenige, die es möglich machte, jetzt das Jubiläum zu feiern. Die Wahrheit ist, dass Israel nie beabsichtigte, die Besatzung zu beenden. Dass die Besatzung nur vorübergehend sein würde, liess die Welt mit diesem Betrug aber ruhig schlafen.)

The second major lie was the argument that the occupation serves the security interests of Israel, that it’s a self-defense measure by a helpless nation beset by enemies.

(Die zweitgrösste Lüge war das Argument, die Besatzung diene den Sicherheitsinteressen Israels. Es sei eine Massnahme zur Selbstverteidigung einer von Feinden belagerten Nation.)

The third lie was the «peace process», which never really took place, and which in any case was only meant to buy the occupation more time. This lie had many legs. The world was an accomplice, continuously lying to itself. There were arguments, presentations of maps (all of them alike), peace conferences were held with numerous rounds of talks and summits, with envoys rushing back and forth, and mainly empty patter. These were all based on a lie, which was the assumption that Israel even contemplated ending the occupation.

(Die dritte Lüge war der «Friedensprozess», den es in Wirklichkeit nie gab und der so oder so nur dazu diente, mehr Zeit für die Besatzung zu erhalten. Diese Lüge hatte viele Beine. Die Welt war ein Komplize, sich andauernd selbst belügend. Da gab es Argumente, Präsentationen von Karten (alle waren sich ähnlich), es wurden Friedenskonferenzen abgehalten mit mehreren Runden von Gesprächen und Gipfeltreffen, mit diplomatischen Gesandten, die rückwärts und vorwärts drängten, mit vornehmlich leeren Sprüchen. All das basierte auf der Lüge, die vorgab, Israel denke darüber nach, die Besatzung zu beenden.)

The fourth lie, obviously, is the settlement enterprise. This project was born and raised in a lie. Not one settlement was established honestly, starting with the overnight stay at the Park Hotel in Hebron, through the «labor camps», «protective camps», «archaeological digs», «nature reserves», «green spaces», «fire zones», «survey lands», outposts and expansions – all those fabrications committed with a wink and a nod, culminating in the biggest lie in this context, that of »state lands,” a lie that can only be likened to that of Israel’s Palestinian »present absentees.”

(Die vierte Lüge, offensichtlich, ist das Siedlungsunternehmen. Dieses Projekt wurde gestartet und gefördert mit einer Lüge. Nicht eine einzige Siedlung wurde ehrlich gebaut, es begann mit einer Übernachtung im Park Hotel in Hebron und gedieh unter Namen wie ‹Arbeitslager›, ‹Schutzlager›, ‹archeologische Ausgrabungen›, ‹Naturparks›, ‹grüne Zonen›, ‹Feuerzonen›, ‹Landvermessungen›, Aussenposten und Erweiterungen – all diese Machenschaften wurden begleitet mit einem Augenblinzeln und mit Zunicken, und kulminierten in der grössten Lüge in diesem Kontext, dass nämlich alles auf «Staatsland» geschah, eine Lüge, die nur mit jener von Israels palästinischen «anwesenden Abwesenden» verglichen werden kann.)

The settlers lied and the politicians lied, the army and the Civil Administration in the territories lied – they all lied to the world and to themselves. From the protection of an antenna tower grew a mega-settlement and from a weekend at that hotel grew the worst of the lot. The cabinet members who ratified, the Knesset members who nodded and winked, the officers who signed and the journalists who whitewashed, they all knew the truth. The Americans who «condemned» and the Europeans who were «infuriated», the UN General Assembly that …called on” and the Security Council which »decided», none of them ever had any intention of following this up with any action. The world is also lying to itself. It’s convenient for everyone this way.

(Die Siedler logen und die Politiker logen, die Armee und die Zivilverwaltung in den besetzten Territorien logen, sie alle haben die Welt und sich selber angelogen. Von der Beschützung eines Antennenturms wuchs die Geschichte an zu einer Mega-Siedlung und aus einem Wochenende im Park Hotel in Hebron entstand das schlimmste Szenario. Die Kabinettsmitglieder, die es ratifiziert haben, die Mitglieder der Knesset, die ihm zugestimmt und weggeschaut haben, die Offiziere, die unterschrieben haben und die Journalisten, die es weissgewaschen haben, sie alle haben die Wahrheit gekannt. Die Amerikaner, die «verurteilten» und die Europäer, die «aufgebracht» waren, die UNO Generalversammlung, die «vorgesprochen» und der Sicherheitsrat, der «entschieden» hat, keiner von all diesen hatte je die Absicht, den Worten Taten folgen zu lassen. Auch die Welt belügt sich selbst. Es ist so für alle bequemer.)

It’s also convenient to issue the endless daily lies that cover up the crimes committed by the Israel Defense Forces, the Border Police, the Shin Bet, the Prison Service and the Civil Administration – the entire apparatus of occupation. It’s convenient to use sanitized language, the language of the occupier so beloved by the media, the same language it uses to describe their excuses and self-justifications. There is no whitewashing in Israel like the one describing the occupation and there is no other broad coalition that expands and supports it with such devotion. The only democracy in the Middle East that employs a brutal military tyranny and the most moral army that kills more than 500 children and 250 women in one summer – can anyone conceive of a bigger lie than this? Can anyone think of a greater self-deception than the prevailing opinion in Israel, by which all this was forced upon us, that we didn’t want this, that the Arabs are to blame? And we still haven’t mentioned the two-state lie and the lie about peace-seeking Israel, the lies about the 1948 Nakba and the «purity» of our arms in that war, the lie about the whole world being against us and the lie about both sides being to blame.

(Es ist so bequem, die endlosen täglichen Lügen zu wiederholen, mit denen all die Verbrechen der israelischen Streitkräfte, der Grenzpolizei, des Inland-Geheimdienstes, der Gefängniswärter und der Zivilverwaltung – die Verbrechen des gesamten Besatzungsapparats –, vertuscht werden. Es ist so bequem, eine reingewaschene Sprache zu sprechen, die Sprache der Besetzer, die von den Medien so geliebt wird: die gleiche Sprache, die sie zu ihrer Entschuldigung und Selbstrechtfertigung brauchen. In Israel wird nirgends so weissgewaschen wie bei der Beschreibung der Besatzung, und nirgends herrscht ein so enger Zusammenhalt wie bei der hingebungsvollen Aufblähung und Unterstützung dieser Version der Geschichte. Die einzige Demokratie im Mittleren Osten, die eine brutale militärische Tyrannei einsetzt, und die moralischste Streitkraft, die mehr als 500 Kinder und 250 Frauen in einem Sommer umbringt … Kann sich jemand eine grössere Lüge als das vorstellen? Kann sich jemand einen grösseren Selbstbetrug vorstellen als die in Israel vorherrschende Meinung, dass wir zu all dem gezwungen worden seien, dass wir das alles nicht gewollt hätten und dass die Schuld auf Seite der Araber zu suchen sei? Und wir haben noch nicht einmal die Lüge von der Zwei-Staaten-Lösung erwähnt und die Lüge vom friedensuchenden Israel, die Lügen über die Nakba im Jahr 1948 (die Vertreibung von etwa 700’000 Arabern aus dem von Israel beanspruchten Gebiet, Red.) und über die «Lauterkeit» unserer Waffen in jenem Krieg, die Lüge, wonach die ganze Welt gegen uns sei und die Lüge, dass beide Seiten schuld seien.)

Since Golda Meir’s «we’ll never forgive the Arabs for forcing our children to kill them» to «a nation cannot be an occupier on its own land», lies keep following lies. It hasn’t stopped to this day. Fifty years of occupation, fifty shades of mendacity. And now? Another fifty years?

Von Golda Meirs «wir werden den Arabern nie verzeihen, dass sie unsere Kinder gezwungen haben, zu töten» bis zu «eine Nation kann nicht Besetzer ihres eigenen Landes sein», es werden immer wieder Lügen über Lügen folgen. Bis heute hat sich nichts geändert. Fünfzig Jahre Besatzung, fünfzig Jahre Heuchelei in allen Schattierungen. Und jetzt? Weitere fünfzig Jahre?

(Übersetzung cm/VT)

PS:
Am 24. Mai 2017 hielt Gideon Levy auf Einladung der Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München in München einen Vortrag. Schon im Voraus kritisierte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, dass ein solcher Vortrag im stadteigenen Konzert- und Kongresshaus Gasteig stattfinden dürfe. Nach dem Vortrag, so war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: «Er habe die Veranstaltung zwar absagen wollen, sagt der für den Gasteig verantwortliche Bürgermeister Josef Schmid (CSU), doch ein Gutachten der Rechtsabteilung der Stadt habe das nicht hergegeben. So lange kein Boykottaufruf gegenüber Israel erfolge, sei der Vortrag von der Meinungsfreiheit gedeckt, argumentierten die städtischen Juristen laut Schmid. Deshalb habe die Stadt einen Aufpasser hingeschickt, der die Veranstaltung bei entsprechenden Äußerungen abgebrochen hätte. So weit sei es aber nicht gekommen.»

Die Headline in der Süddeutschen: «Nur kritisch oder schon antisemitisch? Umstrittener Gast im Gasteig». Die Gegenfrage sei erlaubt: Kann ein Vortrag antisemitisch sein, wenn ein in Israel geborener und in Israel lebender und für eine grosse israelische Zeitung schreibender Jude auf der Bühne steht?

PS 2:
Am 19. Juni 2017 findet zum gleichen Thema an der Universität Zürich eine öffentliche Veranstaltung statt. Persönlich anwesend ist Miko Peled, der Sohn des Sechstagekrieg-Generals Matti Peled. Er spricht zu zwei Fragen: Was habe ich von meinem Vater gelernt? Wie können Israelis und Palestinenser jene Feindschaft überwinden, die täglich Menschenleben fordert?

Die Veranstaltung findet unter der Obhut des Asien-Orient-Instituts statt, Abteilung Islamwissenschaft. Die Moderation liegt bei Erich Gysling, der regelmässig auch für Infosperber.ch schreibt. Vortrag und Diskussion in englischer Sprache.

Montag, 19. Juni 2017, 19 bis 21 Uhr, Im Hauptgebäude der Universität Zürich, Hörsaal KOL F-101.

Und hier zum Interview mit Miko Peled im Echo der Zeit vom 18. Juni 2017.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Atommacht Israel und ihre Feinde

Teufelskreis: Aggressive Politik auf allen Seiten festigt die Macht der Hardliner bei den jeweiligen Gegnern.

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Eine Meinung zu

  • am 6.06.2017 um 23:25 Uhr
    Permalink

    Dank dafür, das hier publiziert und ūbersetzt zu haben. Oft bleibt einem wirklich nur Sarkasmus.

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