Mensch und Tier: Der kleine, unfeine Unterschied
Red. Der Wissenschaftsjournalist Ori Schipper hat diesen Beitrag in «UniPress» veröffentlicht, dem Wissenschaftsmagazin der Universität Bern.*
Der Graben zwischen Mensch und Tier wird zugeschüttet
Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist im Umbruch. Die seit der Antike als unumstösslich geltenden Mauern, die das Humane vom Animalischen trennen, stürzen ein. Der tiefe Graben, der uns als Krone der Schöpfung von den anderen Lebewesen abgrenzt, wird gleichsam aufgeschüttet von den Erkenntnissen, die Biologen über die Talente von Tieren gewinnen. «Bei jeder geistigen Fähigkeit, die ursprünglich als rein menschlich betrachtet wurde, hat sich herausgestellt, dass sie älter und weiter verbreitet ist als zuerst angenommen», sagt Frans de Waal. Der bekannte Primatenforscher aus den USA leitete die Ringvorlesung «Menschen und andere Primaten» des Collegiums generale ein (die Vorlesungen auf Postcasts hier herunterladen).
Unterschätzte Tiere
De Waal legte dar, wie die Wissenschaft das Denkvermögen der Tiere lange unterschätzte. Weil niemand den Vorwurf der Vermenschlichung des tierischen Verhaltens riskieren wollte, ging bis vor Kurzem unter, dass Tiere einige grundlegende Elemente der menschlichen Moral – etwa Empathie oder Gerechtigkeitsgefühl – mit uns teilen. Die, wie De Waal sie nennt, «psychologische Kontinuität» zeigt sich etwa in seinem Experiment mit Kapuzineräffchen, das sein Team auf Video aufgenommen hat: Im Film (der sich mittlerweile zu einem millionenfach angeklickten YouTube-Hit entwickelt hat) sind zwei Affen in Käfigen zu sehen. Für das Zurückgeben eines Steins belohnen die Forschenden das erste Äffchen mit einem Stück Gurke. Damit ist das Äffchen so lange zufrieden, bis es sieht, dass das Äffchen im Nachbarkäfig für die gleiche Arbeit eine Traube kriegt. «Das grosse Interesse, auf das unser Video gestossen ist, zeigt, dass sich viele in diesem Widerwillen gegen die Ungleichheit gespiegelt sehen. Dieser Widerwille dürfte auch bei der kürzlichen Protestbewegung ‹Occupy Wall Street› eine Rolle gespielt haben», so De Waal.
Nicht so spezifisch menschlich, wie wir geneigt sind anzunehmen, ist auch unsere soziale Organisation mit der ausgeprägten Arbeitsteilung. Im Gegenteil, das Prinzip der Arbeitsteilung ist im Tierreich weit verbreitet, wie der Berner Evolutionsbiologe Michael Taborsky in seinem Vortrag ausführte. «Wenn es – ausser dem Menschen – Lebewesen gibt, die ökologisch erfolgreich sind, dann sind das Insekten.» Viele Ameisen weisen ein Kastensysem auf, bei dem sich Gruppenmitglieder genetisch nicht unterscheiden, aber trotzdem stark spezialisiert sind. Bei den Honigtopf-Ameisen gibt es etwa Individuen, die sich überfressen, bis ihr Unterleib so anschwillt, dass sie nur noch – wie Honigtöpfe – bewegungslos an der Decke ihres Baus hängen. Wenn draussen das Nahrungsangebot wieder knapp wird, würgen sie auf Aufforderung ihrer Kolleginnen Nahrungstropfen hervor. In Versuchen mit verschiedenen Tierarten haben Taborsky und sein Team gezeigt, dass das (auf den ersten Blick selbstlos wirkende) soziale Verhalten vieler Tiere mehr vom Prinzip der Gegenseitigkeit denn von verwandtschaftlicher Nähe geleitet wird.
Tier-Mensch-Kontinuum statt starre Grenzen
So scheinen die einst starren Grenzen zwischen menschlichen und tierischen Fähigkeiten zusehends zu einem Tier-Mensch-Kontinuum zu verschmelzen. Julia Fischer von der Abteilung kognitive Ethologie des Deutschen Primatenzentrums in Göttingen betonte allerdings in ihrem Vortrag, dass schon Charles Darwin von «graduellen Unterschieden» zwischen den Lebewesen gesprochen hatte. Heute lässt sich wohl nur noch erahnen, wie unerhört diese Idee damals war. Liess sich Darwin deshalb zwölf Jahre Zeit, bevor er sein Buch über die Abstammung des Menschen auf sein epochales Werk über den Ursprung aller anderen Arten folgen liess?
Fischer zeigte einige Beispiele solcher fein abgestuften Unterschiede im Denkvermögen von Menschen und anderen Primaten auf. In Versuchen mit Makaken mussten die Affen etwa erraten, wo die Forschenden um Fischer Trauben oder andere Leckerbissen versteckt hatten. Hatten die Makaken ein flaches Brett und eine Tasse zur Auswahl, tippten sie gleich oft auch auf das Brett, obwohl das Brett schräg steht, wenn sich etwas darunter befindet. Den Makaken fällt es offenbar schwer, «aus der Evidenz von Absenz diagnostische Schlüsse zu ziehen», so Fischer.
Die doppelte Evolution des Menschen
Die Kognitionsforscherin meint, dass sich die vielen feinen Unterschiede – etwa im Werkzeuggebrauch oder im Abstraktionsvermögen – addieren und gegenseitig verstärken könnten. Im Zusammenspiel dieser kleinen Abweichungen hätten sich so grundlegend neue, emergente Eigenschaften herausgebildet, die in der Entwicklung des Menschen trotz nur «gradueller Unterschiede» zu einer «radikalen Diskontinuität» geführt hätten: Im Gegensatz zu allen anderen Tierarten durchläuft der Mensch (zusätzlich zur natürlichen) auch eine kulturelle Evolution. Mit der sogenannten «kumulativen kulturellen Evolution» bezeichnet die Fachwelt den Umstand, dass der Mensch in der Lage ist, einen langfristigen Erfahrungsschatz zu äufnen: So bauen wir heute darauf auf, dass es unseren Vorfahren gelungen ist, ihren Nachkommen zu zeigen, wie sie das Feuer zähmen oder das Rad zur Fortbewegung nutzen können. Und tragen gleichzeitig mit immer neuen Erfindungen und Erkenntnissen zur fortlaufenden Erweiterung des menschlichen Wissensstands bei.
Die Epoche des «Anthropozäns»
Vielleicht lässt sich mit der «kumulativen kulturellen Evolution» auch erklären, wieso der Mensch – mit den Alleinstellungsmerkmalen, die ihm gegenüber Tieren abhanden kommen – in der Biologie zwar an Wichtigkeit verliert, in der Geologie aber zusehends an Bedeutung zu gewinnen scheint: Seit der Jahrtausendwende hält der Begriff des «Anthropozäns» die Erdwissenschaften auf Trab. Das geflügelte Wort steht für den Beginn einer neuen geochronologischen Epoche, in der der Mensch (gemäss Wikipedia) «zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist».
Der globale menschliche Fussabdruck umfasst nicht nur das sich erwärmende Klima, sondern etwa auch die stetig wachsenden Berge (und Meere) von Plastikmüll oder die radioaktiven Spuren, die nach der Zündung von Atombomben weltweit in allen Ablagerungen zu finden sind.
Das Selbstbildnis des Menschen ist also heftig am Wanken. Wissenschaftlich begründet oszilliert es zwischen Bedeutungslosigkeit und Grössenwahn.
Einerseits scheinen wir zusehends bereit zu sein, die Krone der Schöpfung als untaugliches Konzept zurückzuweisen, vom Gipfel der natürlichen Leiter hinabzusteigen und uns stattdessen bescheiden in das biologische Tier-Mensch-Kontinuum einzureihen. Andrerseits wird auch immer klarer, dass der Mensch mit seinem Verhalten die Lebensgrundlagen auf der Erde dauerhaft und unumkehrbar verändert.
Wie viel Zeit die Menschheit für ihre Selbstfindung noch zur Verfügung hat, bleibt offen.
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*UniPress, Wissenschaftsmagazin der Universität Bern, Nr. 170, Februar 2017
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
AUSGEZEICHNETER ARTIKEL!!!
Interessanter Artikel! Eine Frage bleibt für mich: Wie ist es eigentlich mit Kunst? Gibt es auch Tiere, die an sich sinnlose Dinge erzeugen, nur weil sie «schön» sind? Oder ist das ein letzter Unterschied zwischen Mensch und Tier?
Hingegen sehe ich bei der kulturellen Evolution, wie sie im Artikel beschrieben wird, auch wieder eher graduelle Unterschiede: Heutige Stadt-Füchse profitieren von der Erfahrung, die ihre Vorfahren im Zusammenleben mit Menschen gesammelt haben. Sie wenden zur Nahrungsbeschaffung und zum Selbstschutz Techniken an, die ihre wild lebenden Ahnen nicht kannten.
Die Kooperationsbereitschaft von noch wenig sozialisierten Homo SAPIENS liegt bereits weit über allen Affen. Ein Kontinuum hätte zumindest hier einen Quantensprung. Ein zweiter kommt dann durch die Sozialisierung eines sprachmächtigen Wesens. Letztere kann dann allerdings auch alles verderben.
MfG
Werner T. Meyer
Quelle: Why We Cooperate (Boston Review Books), Tomasello, Michael, The MIT Press
und anderes von Tomasello sowie anderes NEUEREN DATUMS zur Paläoanthropologie.
Lernen nicht Menschen und Tiere vor allem durch genetisches Programm und Nachahmung? Menschen kōnnen nicht eher gehen und sprechen bis die Zeit dazu reif ist, und wenn sie Sprache nicht nachahmen kōnnen, lernen sie nicht sprechen. Menschen ūbernehmen auch die Stimmlagen ihrer Eltern und ihrer Gesellschaft (Schweizer sprechen in der Regel beispielsweise leiser als Deutsche, was ich in der Ōffentlichkeit meist schātze). So nehme ich an, dass auch Tiere durch Nachahmung sozialisiert werden. Wenn Menschenaffen uns verstāndliche Sprachen und Schriftzeichen hātten?