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«Einmischung» kritisiert, obwohl man die frühere Bundesrätin bat, eine Hauptrolle zu übernehmen. © nzz

Kritik an Eveline Widmer-Schlumpf war heuchlerisch

Red. /  Sie sollte in der Pro-Kampagne zur USR III eine Hauptrolle spielen. Als sie sich kritisch äusserte, warf man ihr Einmischung vor.

Die frühere Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sollte ein wichtiger Trumpf sein im Abstimmungskampf um die Unternehmenssteuerreform III. Allerdings auf der Pro-Seite und nicht auf der Contra-Seite.

Vertrauliches Protokoll

Das geht aus einem vertraulichen Protokoll einer Sitzung vom 19. September 2016 hervor, an der die befürwortenden Lobbys ihren «Schlachtplan» für eine der wichtigsten Abstimmungen des Jahrzehnts ausheckten. Der Tages-Anzeiger und der Berner Bund veröffentlichten am 4. März grössere Auszüge aus dem Protokoll. Unter dem Vorsitz von Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer nahmen verschiedene Wirtschaftsvertreter und PR-Berater an der zweistündigen Strategie-Sitzung vom letzten September teil.

Pharma-Lobbyist Thomas Cueni plädierte laut Protokoll dafür, gute «Köpfe» als Befürworter der Kampagne zu sammeln. Christian Stiefel, Chef von Swissholdings, dem Verband der multinationalen Konzerne in der Schweiz, schlug vor, die frühere Finanzministerin als «Mutter der Vorlage» einzuspannen, weil sie im Volk eine grosse Glaubwürdigkeit geniesse. Die Sitzungsteilnehmenden beschlossen, dass eine Economiesuisse-Mitarbeiterin mit Eveline Widmer-Schlumpf Kontakt aufnimmt.

Über die Abstimmungsstrategie wurden die wichtigsten Pro-Akteure eingeweiht. Zeitungen sollten eingespannt werden und eine Auftragsstudie des «Instituts BAK Basel» sollte Argumente hinsichtlich Arbeitsplatzverluste liefern – laut Protokoll «ein glaubwürdiger Absender, der nicht so leicht angreifbar ist».

Der Trumpf Widmer-Schlumpf sollte im Abstimmungskampf zum bestmöglichen Zeitpunkt gezogen werden. Der Kontakt mit ihr hatte laut Tages-Anzeiger stattgefunden, doch sei nicht bekannt, wie die frühere Bundesrätin reagiert habe.
Anstatt sich von der Pro-Kampagne einspannen zu lassen, äusserte sich Eveline Widmer-Schlumpf am 23. Januar 2017 in einem Interview mit dem Blick kritisch zur Vorlage USR III. Das Parlament habe den ursprünglichen Vorschlag des Bundesrats einseitig zugunsten der Unternehmen verändert, was die Steuerausfälle zu gross mache. «Die Steuerreform ist ausser Balance» titelte der Blick.

Jetzt plötzlich «Einmischung» und «schlechter Stil»

Weil sich die frühere Bundesrätin nicht im gewünschten Sinn äusserte, erinnerten sich jetzt CVP-Präsident Gerhard Pfister und andere daran, sie habe doch nach ihrer Rücktrittsankündigung im Oktober 2015 gesagt, von ihr werde man «sicher keinen Kommentar zu politischen Themen auf Bundesebene mehr hören». Pfister warf Widmer-Schlumpf «schlechten Stil» vor. Den gleichen Vorwurf erhob Beat Rieder, Ständerat der CVP Oberwallis.


Titel auf der Frontseite des «Walliser Boten»
Das Bieler Tagblatt kritisierte am 24. Januar: «Alt-Bundesrätin .. mischt sich in den laufenden Abstimmungskampf ein.»
Milliardärin und Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher doppelte nach: Widmer-Schlumpfs Einmischung in den Wahlkampf sei «verantwortungslos».
Die Berner Zeitung zitierte anonyme (!) BDP-Parteikollegen, laut denen Widmer-Schlumpf «eine verkappte Diva» sei, weil «ihr Stolz es nicht verwand, dass das Parlament ihre Steuerreform verändert hat».

Dass Alt-Bundesräte die Bundespolitik nicht mehr kommentieren, sei «eine gute Tradition», schrieb Marcel Amrein am 26. Januar in der NZZ: «Weshalb sie ausgerechnet unter so heiklen Umständen dagegen verstösst, gibt Rätsel auf.»
«Dass sich die frühere Finanzministerin in den laufenden Abstimmungskampf einmischt …, stösst in der Politik auf Kritik», berichtete am 26. Januar die Südostschweiz.
Die Bündner Finanzdirektorin Barbara Janom Steiner kritisierte den «überraschenden Zeitpunkt erst kurz vor der Abstimmung».

Hätte sich Widmer-Schlumpf für die USR III ausgesprochen, wäre der Zeitpunkt wohl ideal gewesen.
In der Zentralschweiz am Sonntag meldete sich am 29. Januar die frühere Bundesrätin und heutige Verwaltungsrätin und Wirtschaftsberaterin Ruth Metzler zu Wort: «Ich konnte diese folgenschwere Wortmeldung weder zeitlich noch inhaltlich nachvollziehen.» Eine solche Einmischung könne «problematisch» sein.

Die Südostschweiz schert aus

Als eine von wenigen Medienstimmen bezeichnete die Südostschweiz Eveline Widmer-Schlumpf kurz nach der Abstimmung als «verantwortungsvolle Staatsfrau». Im Folgenden ein Auszug aus dem Kommentar von Hans Peter Putzi, stellvertretender Leiter In- und Ausland der Südostschweiz:

«Mit einer einzigen (!) öffentlichen Meinungsäusserung zur fehlenden Ausgewogenheit und unsicheren Finanzierung der Vorlage stellte die vertrauenswürdige alt Magistratin ihre SVP-Peiniger, die raffgierige Wirtschaftsoberschicht und deren Handlanger im Parlament ins Abseits. Es waren nur wenige Sätze im «Blick». Sie genügten, um der Schweiz ihre Cleverness, Geduld und eine für Volksvertreter einzigartige Glaubwürdigkeit zu übermitteln. Es ist das Meisterwerk der Eveline Widmer-Schlumpf. Was ihr als Bundesrätin der trockenen Finanzmaterie wegen nicht gelingen konnte, hat sie nachgeholt: Sie hat sich als verantwortungsvolle Staatsfrau ein Denkmal gesetzt.»


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8 Meinungen

  • am 5.03.2017 um 12:11 Uhr
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    "Niemand hält uns davon ab, über die Zeit klüger zu werden», dies sagte schon der grosse Staatsmann und erste deutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer.
    Natürlich herrscht nun bei den Befürwortern von USR III das grosse Heulen und Wehklagen. In der Schweiz herrscht nach Art. 16 Bundesverfassung Meinungs- und Informationsfreiheit, dies gilt auch für Alt-Bundesräte, inklusive EWS. Dass sich Bundesräte nicht in jede Abstimmung und jede «Hundsverlochete» einmischen sollten, versteht sich, aber Redeverbot darf ihnen bestimmt nicht auferlegt werden, selbst wenn ein Bundesrat/eine Bundesrätin nicht von allen Bürgern geliebt wurde…..
    "Hütet euch am Morgarten» ist der «Classe politique» ins Aufgabenheft zu schreiben!
    Übrigens haben sich auch die AltBundesräte Couchepin, Calmy-Rey, Stich und auch Ogi ab und zu zu politischen Themen geäussert.

  • am 5.03.2017 um 14:15 Uhr
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    Der famose USR III-Schlachtplan, dem sich Eveline Widmer-Schlumpf so souverän und couragiert verweigert hat, wurde also im Economiesuisse-Hauptquartier unter dem Vorsitz von Präsident Heinz Karrer ausgeheckt. Bevor er zu Economiesuisse kam, hat Karrer von 2002 bis 2014 für sein CEO-Salär die AXPO an die Wand gefahren – was man im Wikipedia-Artikel über ihn allerdings nicht erfährt. Wenn Ex-Handballer Karrer nun bei Economiesuisse auf seine originelle Art mithilft, dass die neoliberalen Bäume nicht in den Himmel wachsen, fühlt man sich schon fast zu so etwas wie Dankbarkeit genötigt.

  • am 5.03.2017 um 14:35 Uhr
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    "Er steht im Tor im Tor und nichts dahinter», nein das war ja Daniel Eckmann. Aber Heinz Karrer eignete sich wohl besser als defensiver Handballer. Als Economiesuisse Chef ist er ein No-Go, aber dies ist ja vielleicht gar nicht so schlecht, aber die Economiesuisse verursacht auch Spesen…. «Mit St. Otmar St. Gallen gewann der im linken Rückraum und Rückraum Mitte eingesetzte Spieler zweimal die Schweizer Meisterschaft.» Die Economiesuisse braucht einen Offensivspieler und keinen Verteidiger! Karrer ist kein Kreisläufer, der Tore schiesst.

  • am 5.03.2017 um 18:35 Uhr
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    Eveline Widmer-Schlumpf hat richtig gehandelt! Dass man es auch anders ansehen
    kann, mag stimmen. Allerdings: Wer konkrete Kritikgründe vorbringt, soll vorab dazu
    stehen, dass solche Gründe bei ihm, resp. bei seiner Partei, tabu und auch in Zukunft
    nicht zu erwarten sind! Wer das nicht kann und will soll bitte nicht auf Zustimmung
    der Zuhörerschaft bei der Kritik an Dritten zählen.
    Paul Spätig, Ligerz

  • am 5.03.2017 um 19:54 Uhr
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    Diese Heuchler! Wer glaubt denn dass die Wirtschaftsbosse und ihr Politfilz sich dann auch über die Einmischung aufgeregt hätten wenn Frau Widmer-Schlumpf sich gehorsam für die USRIII ausgesprochen hätte? Economiesuisse und ihre SVP Handlanger sind schon lange nicht mehr glaubwürdig. Schade dass die Medien ihnen überhaupt noch eine Bühne bieten, solange sie nür Lügen und Eigennutz im Sinn haben.

  • am 5.03.2017 um 23:13 Uhr
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    Da hat sie uns wohl wieder mal gerettet und kriegt dafür aufs Dach – wie gehabt. Ich hoffe, sie hat einen Schädel wie ihr Graubündner Wappentier und lässt sich auch von Kopfnüssen mit krummen Hörnern nicht erschüttern.
    Ich finde, die Frau hat ausgesprochen Stil, mitten im schlammigen Schlachtfeld. Das sollten wir trocken legen.

  • am 6.03.2017 um 17:12 Uhr
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    Diesmal ist das abgekartete schmutzige Spiel von bürgerlichen Filzparteien und Economiesuisse nicht aufgegangen. Der vereinigte Bürgerblock von SVP bis zur GLP hat eine kräftige Ohrfeige vom Stimmbürger erhalten, nicht zuletzt dank der Tatsache, dass sich Frau E. Widmer-Schlumpf nicht vor ihren Karren spannen liess. Schlecht auch der Stil des Bürgerblocks: Wer nicht mitmacht, wird verunglimpft und in den Dreck gezogen.

  • am 7.03.2017 um 11:46 Uhr
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    Ich bin dankbar für diesen zweiten Mutanfall von Eveline Widmer-Schlumpf und auch für diesen erhellenden Artikel.

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