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Bachbett aus Beton: In der Schweiz sind 15'000 Kilometer Fliessgewässer denaturiert © cc

Die Natur steckt im Würgegriff der Ignoranten

Beatrix Mühlethaler /  Tier- und Pflanzenarten schwinden. Derweil brütet der Bund seit vielen Jahren über ein Projekt zur Förderung der Biodiversität.

Mit dem Sprichwort «gut Ding will Weile haben» können Tiere und Pflanzen nichts anfangen. Mehr als ein Drittel aller Arten sind in der Schweiz gefährdet. Wenn ihre Lebensräume schwinden wie bis anhin, verschwinden auch sie aus unserem Land. Deshalb bräuchte es einen entschlossenen Einsatz, um seltene Biotope zu erhalten. Ausserdem benötigt die Natur zusätzlich Raum. Doch der Naturschutz läuft seit Jahren auf Sparflamme.

Von Biodiversität wird nur geredet

Im Jahr 1992 bekannten sich an die zweihundert Staaten in Rio de Janeiro zu einer nachhaltigen Entwicklung. Eines der Hauptziele war, die Biodiversität zu erhalten – also die gesamte Pflanzen- und Tierwelt, die natürlichen Lebensräume und die genetische Vielfalt. Die Schweiz unterschrieb diese Konvention ebenfalls. Zehn Jahre später, 2002, vereinbarten die Signatarstaaten an einer Nachfolgekonferenz, den Verlust der Biodiversität bis 2010 signifikant zu reduzieren. Die europäischen Staaten inklusive die Schweiz setzten sich sogar das Ziel, den Verlust ganz zu stoppen. Da hätte ein Ruck durch unser Land gehen müssen, wenn man bedenkt, wie schwer angeschlagen die Natur sich bereits präsentierte.

Der freisinnig-liberale Nationalrat Kurt Fluri wollte diesen Ruck auslösen und reichte 2004 ein Postulat ein: Die Schweiz solle eine Strategie ausarbeiten, die dem alten Versprechen Taten folgen lässt. Eine solche Strategie könnte die Wirkung bestehender Reglemente zwar verstärken, antwortete der Bundesrat. Aber es wäre eine «neue Aufgabe», und dafür fehle das Geld. In der Fragestunde wunderte sich Fluri: eine neue Aufgabe?

Einige Jahre später musste der Bundesrat die verweigerte Arbeit im Auftrag des Parlaments trotzdem anpacken. Doch bis 2010 war die Wende nach dem langen Verzug nicht zu schaffen. Die Schweiz nehme ihre internationale Verantwortung für die Erhaltung der Biodiversität nur ungenügend wahr, bilanzierte selbst der Bund in seinem Bericht zur Biodiversitätskonferenz 2010 in Nagoya. An dieser Konferenz einigten sich die beteiligten Staaten erneut auf ehrgeizige Ziele. Unter anderem sollte 2020 die Biodiversität soweit gesichert sein, dass Ökosysteme ihre essentiellen Leistungen erbringen. Auch die Schweiz bekannte sich zu dieser Zielsetzung: mit der Biodiversitätsstrategie, die 2012 endlich vorlag. Nachträglich verschob der Bundesrat allerdings einige Versprechen wieder um ein paar Jahre, den Ausbau und die Vernetzung der Schutzgebiete sogar bis 2040.

Diskurs und Wortwahl zeigen, dass der Eigenwert der Natur inzwischen nicht mehr als genügend attraktiv erscheint. Vielmehr soll jetzt die Bedeutung der Natur als Ressource der Menschheit zum Handeln motivieren. «Biodiversität sichert unser Überleben und ist von grösstem wirtschaftlichem Wert», mahnte beispielsweise Bundesrätin Doris Leuthard im Geleitwort zur Strategie. Mit Aussicht auf materiellen Gewinn, so die Kalkulation, lassen sich vielleicht auch Ignoranten ködern.

Es folgt ein Marathon der Vernehmlassungen

Eine konkrete Handlungsgrundlage hatte man aber mit der Strategie immer noch nicht. Diese sollte bis 2014 vorliegen. Doch das Formulieren eines Aktionsplans zog sich erneut in die Länge. Aus Workshops, an denen 650 Fachleute aus 250 Organisationen teilnahmen, entstand ein Entwurf, den diverse Bundesämter prüften. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verarbeitete alles zu einem Bericht an den Bundesrat. Doch der Bundesrat nahm nur zur Kenntnis und leitete eine Vernehmlassung bei den Kantonen ein. Danach folgte eine erneute Überarbeitung. Jetzt, im Jahr 2017, soll das Ergebnis wieder beim Bundesrat ankommen. Voraussichtlich wird der Aktionsplan nach den anfänglichen Höhenflügen auf eine pragmatische Version geschrumpft sein.

Zeitraum der Reden und Schriften: Bisher 25 Jahre, und nur eine Aktion: Von 2017 bis 2020 soll der Bund zusätzlich 135 Millionen Franken für dringliche Sanierungs-, Aufwertungs- und Schutzmassnahmen einsetzen. Das BAFU hatte zuvor geschätzt, dass doppelt so viele Mittel für die Pflegemassnahmen von Biotopen eingesetzt werden müssten als bisher sowie zusätzliche 1,2 Milliarden Franken für einmalige Aufwertungen.

Der Schlendrian, der die Natur hierzulande verschwinden lässt, hat System. Das belegt eine Chronik der Kämpfe für den Schutz der Lebensräume, die in der Schweiz am stärksten gefährdet sind: Gewässer und Feuchtgebiete. Berücksichtigt sind hier nur die gröbsten Pflöcke der nationalen Politik, denn die Geschichte des zähen Ringens würde Bücher füllen.

Weckruf zum Schutz der Moore

90 Prozent der einstigen Moore in der Schweiz sind schon zerstört: durch Torfabbau, Entwässerung, landwirtschaftliche Bewirtschaftung und Überbauung.

1987: Das Projekt für einen Waffenplatz im Moor von Rothenthurm weckt Widerstand und das Bewusstsein für den Wert der Moorlandschaften: Die Bevölkerung sagt Ja zur Rothenthurm-Initiative und schützt damit sämtliche Moore und Moorlandschaften von besonderer Schönheit und gesamtschweizerischer Bedeutung.

2007: Die Bilanz 20 Jahre nach der Abstimmung ist erschütternd. Zwar sind die Flächen zum grössten Teil gesichert, nicht aber Pufferzonen rundum. Nur punktuell, wo in eine Renaturierung investiert wird, lässt sich der Moorcharakter sichern. Andernorts bleiben die alten Gräben erhalten, die den Mooren das Wasser entziehen. Trockenheit und Düngereintrag drängen die spezifische Flora zurück und lassen Büsche wuchern. Zudem werden weiterhin schutzwidrige Strassen und Bauten erstellt.
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Der Grosse Brachvogel, der auf grosse ungestörte Feuchtgebiete angewiesen ist, brütete in den neunziger Jahren noch in einzelnen Schutzgebieten, ab 2007 aber war Schluss. Ebenso ist die auf Feuchtgebiete angewiesene Bekassine als Brutvogel verschwunden. Generell gehören die Pflanzen- und Tierarten der Feuchtgebiete zu den am meisten gefährdeten Artengemeinschaften in der Schweiz.
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2016: Interessenvertreter von Strassenbau, Kraftwerkerweiterungen usw. versuchen immer wieder, den Schutzperimeter von Moorlandschaften zu beschneiden. Solche Versuche scheitern oft vor Gericht. Was zeigt: In diesen Fällen sichern nicht die Behörden, sondern die Einsprachen der Naturschutzorganisationen die gesetzlichen Vorgaben. Nicht immer sind die Verlierer danach einsichtig. So will der Berner Grosse Rat nach einem Entscheid des Bernischen Verwaltungsgerichts zu Gunsten der Moorlandschaft am Grimselstausee die Lockerung des Moorschutzes mit einer Standesinitiative erzwingen. Hartnäckig verfolgtes Ziel: Die Moorlandschaft an der Grimsel soll geflutet werden, um Elektrizität ökonomisch zu veredeln.

Flüsse verlieren ihr Wasser

Bäche und Flüsse verloren ihren natürlichen Charakter ebenfalls durch Nutzung und Verdrängung. Sie wurden kanalisiert, verbaut, gefasst und eingedolt.

1970: Die meisten Fluss- und Speicherkraftwerke sind gebaut, an die 90 Prozent der Gewässer für die Stromgewinnung bereits genutzt.

1975: Erstmals wird rechtlich verankert, dass auf genutzten Gewässerstrecken «angemessene Restwassermengen» fliessen müssen. Das Volk stimmt diesem Grundsatz in der Verfassung zu. Es soll ein Gesetz folgen, das den Auftrag konkretisiert.

1984: Da nichts geschieht, machen die Naturschutz- und Fischereiorganisationen mit einer «Volksinitiative zur Rettung unserer Gewässer» Druck. Erst jetzt macht das Parlament mit dem Gesetz vorwärts. Weil der Entwurf nicht befriedigt, halten die Urheber an ihrer Verfassungsinitiative fest.

1992: Es sind acht Jahre vergangen, bis die Initiative zusammen mit der Gesetzesänderung als indirektem Gegenvorschlag zur Abstimmung kommt. Das Volk bevorzugt das Gesetz. Jetzt ist geregelt, wie viel Wasser in genutzten Gewässerstrecken mindestens fliessen soll. Allerdings ist die Sanierungspflicht innerhalb bestehender Nutzungskonzessionen von Kraftwerken eng begrenzt. Gute Lebensbedingungen für die Wasserlebewesen würden damit nicht geschaffen, sondern nur ein Existenzminimum, monieren Naturschützerinnen und Fischer. Zudem trödeln die Kantone bei der Umsetzung. Sie hätten 15 Jahre Zeit, die schlimmsten Defizite zu beheben. Aber es tut sich wenig.

2003: Eine Umfrage des Bundes bei den Kantonen legt den eklatanten Rückstand offen: Nur fünf Kantone haben den gesetzlichen Auftrag bereits erfüllt. Vier Kantone haben mehr als 20 Prozent der Sanierungen umgesetzt, alle anderen weniger oder gar nichts. Das Parlament reagiert, indem es die Umsetzungsfrist um fünf Jahre bis 2012 hinaus schiebt. Derweil investieren die Vertreter der Wasserwirtschaft viel Energie in den Versuch, die Regeln für das Restwasser zu schwächen.

2006: Wiederum machen der Fischereiverband und die Naturschutzorganisationen Druck. Mit der Volksinitiative «lebendiges Wasser» setzen sie sich für eine markante Revitalisierung der Gewässerlebensräume ein. Erneut reagiert das Parlament mit einem indirekten Gegenvorschlag. Diesmal ziehen die Initianten ihren Vorstoss zurück, weil die Gesetzesrevision wichtige Anliegen aufnimmt.

2011: Das revidierte Gesetz verlangt neu eine Reihe von Massnahmen, damit Gewässer wieder ihre Funktion als Lebensräume erfüllen können. Stichworte sind: Abbau von Wanderhindernissen für Fische, Vermeiden von extremen Hoch- und Tiefwassern durch die Wasserkraftnutzung, Revitalisierungen von Gewässerabschnitten und Verbesserungen im Geschiebehaushalt. Um Raum für den Schutz der Gewässer zu gewinnen, soll ein Gewässerraum festgelegt und seine Nutzung geregelt werden. Das dient notabene auch dem Schutz der Menschen vor Hochwassern.

2012: An der konkreten Regelung des Gewässerraums in der Gewässerschutzverordnung entzündet sich erneut Widerstand. Eine Flut von Vorstössen landen in beiden Kammern des Bundesparlaments. Die Kantone verlangen bei der Umsetzung einen grösseren Spielraum, und die Bauern opponieren vehement gegen Bewirtschaftungseinschränkungen. Dies, obwohl sie für die extensivere Pflege entschädigt werden sollen. Das nationale Parlament widmet den Motionen und Standesinitiativen unzählige Sitzungen. Und auch in den Kantonen findet ein Seilziehen statt. Warnungen verhallen, die Wiedererwägungen würden gegen Treu und Glauben verstossen. Das Ende des zähen Ringens ist noch nicht absehbar.
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Die Gewässer sind die am stärksten beeinträchtigten Biotope in der Schweiz. 15’000 Kilometer Fliessgewässer sind durch Verbauungen und Kanalisierungen denaturiert, 4000 Kilometer Bäche in Dolen verlegt und ein Grossteil der Kleingewässer verschwunden. Entsprechend vermindert ist der Reichtum an Pflanzen und Tieren dieser Lebensräume. 59 Prozent der Wasser- und Sumpfpflanzen, 70 Prozent der Amphibien und 58 Prozent der Fische stehen auf der Roten Liste, was bedeutet: Einige Prozent der Arten sind bereits ausgestorben, die übrigen sind gefährdet. Wenn ihre Lebensräume nicht wieder vermehrt und verbessert werden, verschwinden auch sie.
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Schöne Landschaften stehen zur Disposition

Ähnliche Chroniken, wie Naturschutz behindert und verzögert wird, liessen sich auch zu Trockenwiesen und zum Kulturland erstellen. Dasselbe gilt für den Umgang mit unseren schönsten Landschaften, die in einem Bundesinventar verzeichnet sind.

Für letztere wird 2017 zu einem Schicksalsjahr: Erstmals steht ihre ungeschmälerte Erhaltung auch grundsätzlich zur Disposition. Denn die Vorlage zur Energiestrategie, die am 21. Mai zur Abstimmung gelangt, verleiht grossen Anlagen für die Gewinnung erneuerbarer Energie rechtlich dasselbe Gewicht wie den Landschaften von nationaler Bedeutung. Damit sind neue Anlagen zur Gewinnung von Energie in den reichhaltigsten Naturräumen unseres Landes möglich. Das erzeugt zusätzlichen Druck auf die Natur.

Weiterführende Informationen


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5 Meinungen

  • am 17.02.2017 um 16:31 Uhr
    Permalink

    Sehr gut recherchierter und fundierter Artikel. Frau Mühlethaler vertritt genau meine Meinung. Es ist auch für uns ein grosses Ärgernis, das der Bund nicht vorwärtsmacht in Bezug auf Naturschutz-und Biodiversitätsanliegen.

  • am 17.02.2017 um 16:34 Uhr
    Permalink

    Kleine Öko-Schulung

    Mit der Natur im Gleichgewicht
    Das sind wir heute leider nicht.

    Nach UNO hat vertausendfacht
    Sich ’s Artensterben, menschgemacht.
    Am übergrossen Artensterben
    Die Überlast gezeigt kann werden.

    Und die Physik hat uns gelehrt,
    Dass Überlast Kollaps beschert.

    Man kann nicht sagen wie und wann,
    Doch sind wir schon sehr nahe dran.
    Das Klima gibt uns ernste Zeichen! –

    Die Öko-Balance zu erreichen,
    Sei deshalb unser höchstes Ziel,
    Sonst gibt’s Probleme noch sehr viel.

    Woll’n Öko-Balance wir erleben
    So muss man weg vom Wachstumsstreben.*

    * Die Öko-Balance ist erreicht, wenn der durchschnittliche Fussabdruck multipliziert mit der Anzahl Menschen im betreffenden Gebiet nicht höher ist als die entsprechende Biokapazität. Z.B. für die Schweiz: 5,1 ha x 7,8 Mio. = 39,8 Mio. ha. Die Fläche der Schweiz beträgt jedoch nur 4,1 Mio. ha, also rund 10 mal zu wenig. Wir wären also auf 10facher Überlast. Dank den vorbildlichen Umweltschutzmassnahmen ist die Schweiz nur auf 5,6facher Überlast (Büro INFRAS). Durch technische Umweltschutzmassnahmen und umweltfreundliches Verhalten, könnte die Überlast um Faktor 3 gesenkt werden (ETH 2000W-Gesellschaft). Die verbleibende 1,8fache Überlast müsste durch Rückgang der Bevölkerung auf das Niveau von 1950 eliminiert werden.

    Markus Zimmermann-Scheifele
    CH 6047 Kastanienbaum 6.12.2012

  • am 18.02.2017 um 06:00 Uhr
    Permalink

    Der Bericht „Strategie Biodiversität Schweiz“ setzt leider nicht an den Wurzeln der Gefährdung der Biodiversität an. Es ist unsere Wachstumsgesellschaft mit ihrem ständigen Mehrverbrauch an Ressourcen aller Art (Energie, Rohstoffe, Kulturland, etc.), welche die Biodiversität in ihrem Fundament gefährdet. Was nützen Optimierungen in Teilbereichen, wenn bei Interessenabwägungen für grosse, für die Biodiversität relevante Entscheidungen (z. B. Personenfreizügigkeit, Bauzonenerweiterungen, Infrastrukturprojekte, Steuersystem) die Interessen der Biodiversität den wirtschaftlichen Interessen ständig unterliegen? Was nützen die Investitionen in ein stets feineres Monitoring zur Biodiversität, wenn wir von vornherein wissen, dass uns das Wirtschafts- und das Bevölkerungswachstum daran hindern, unsere Biodiversitätsziele zu erreichen? Wenn die Strategie „Biodiversität Schweiz“ nicht fundamental Einfluss nehmen kann auf unseren Ressourcenverbrauch, wird sie eine reine „Pflästerlipolitik“ bleiben wie die Raumplanungspolitik.

  • am 20.02.2017 um 21:03 Uhr
    Permalink

    Herzliche Gratulation an Markus Zimmermann und Alex Schneider – Eure Kommentare zeigen auf die Ursache! Was denken sie, Frau Mühlethaler, möchten sie nicht auch etwas gegen die Ursache tun? Oder tun sie schon etwas in diese Richtung? Es gibt bis jetzt leider erst eine Organisation, die sich dieser Ursache annimmt. Wenn sie sie nicht kennen, dann gebe ich ihnen gerne einen Tipp.

  • am 21.02.2017 um 15:36 Uhr
    Permalink

    Super Artikel, bedrückende Fakten.

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