Amusement für die Bourgeoisie – nachhaltig
Es ist nach diesem Theaterabend wie ein flüchtiges Erlebnis, wenn man am Ende die Szene verlässt. Und trotzdem sind eine Woche später die Bilder immer noch da und geben, vielleicht, so etwas wie einen Hinweis auf das wirkliche Leben.
Obwohl nicht klar ist, was das wirkliche Leben ist. Aber darum geht es vielleicht. Auch wenn man nur die Hälfte wirklich sieht. Die andere Hälfte sieht man medial, das heisst: projiziert auf eine grosse Leinwand. Projiziert wird das, was hinter unserem Rücken wirklich geschieht. Wobei, selbstverständlich, auch die «wirkliche» Hälfte nicht das wirkliche Leben ist, sondern Show, Theater, Inszenierung. Wie im wirklichen Leben.
Das Publikum sitzt erhöht Rücken an Rücken. Der Damenchor auf der Bühne trägt Sträflingskleidung oder auch nicht. Die vier anderen, drei Frauen und der einzige Mann, jagen den vielen Mädchen hinterher, die in Wirklichkeit ein Chor sind, und bekommen einander über weite Strecken nicht zu sehen, denn all die Akteure kreisen um das erhöht sitzende Publikum, das den Jägerinnen und den Gejagten den Blick verstellt. Das ist unterhaltsam und mysteriös zugleich.
Unterhaltsam als ganz einfacher Vorgang zunächst, den wir als Publikum immer nur zur Hälfte «wirklich» wahrnehmen, weil die Mädchen, also der Chor, also die Sträflinge vor uns leibhaftig im Marsch oder im Laufschritt oder in loser Formation vorbeiziehen und dabei mit den Vier einen Dialog führen, bei dem sie einander missverstehen, selbstverständlich, schon wegen der physischen Distanz, mit der sie sich auf der Bühnenfläche im immer gleichen Abstand aufeinander zu und voneinander weg bewegen. Es ist über weite Strecken die Geschichte der verpassten Begegnungen. Fast wie im wirklichen Leben.
«Immer muss alles was bedeuten», lautet der Titel zu dem Gespräch, das der Autor und Regisseur René Pollesch mit der Dramaturgin Karolin Trachte führt. Pollesch, der an den grossen Bühnen in Wien, Berlin, Hamburg, Zürich für seine Stücke Regie geführt hat –, René Pollesch will in «High (du weisst wovon)» Theater machen, das nicht schon mit allem, was da ist, den Bauten zum Beispiel, auch Bedeutung anmeldet.
Und doch tut er das, wenn er das Hotelzimmer gleich zu Beginn zum Gefängnis erklären lässt, wenn auch die Gitterstäbe des Gefangenenwagens Raum genug lassen, um sich dazwischen ins Freie zu schieben, nachdem die Truppe sich darin versammelt hatte, um den Joint zu rauchen, und Pollesch tut es, indem er von Anfang an die Erinnerung an das «Picknick am Valentinstag» weckt, den Film von Peter Weirs, in dem das mysteriöse Verschwinden der dortigen Vier, drei Mädchen und eine Lehrerin, zum Niedergang eines Mädcheninternats führt. Pollesch liebt es überhaupt, mit filmischen oder theatralischen Assoziationen zu spielen, in denen auf unterhaltsame Weise etwas unheimlich schief geht. Das «Picknick» ist die eine, «Inside out», in dem der Umzugswagen nicht ankommt, eine andere Assoziation, und die dritte selbstverständlich Samuel Beckets «Warten auf Godot», der bekanntlich nie erscheint, auch wenn sein Erscheinen immer wieder versprochen wird.
Es geht um «Phänomene aus Alltag, Liebe und Arbeiten in Zeiten des Kapitalismus», sagt die Ankündigung zu «High». Und so wird das endlose Gehen und Rennen im Kreis, das nur sein will, was es ist, doch zum mehr oder minder bedeutenden Hinweis auf etwas anderes. «Ich glaube, das ist hier ein Hamsterrad», sagt eine der Vier, und ein anderer: «die sehen da immer ganz vergnügt aus, die Hamster», und: «Ich glaube, die Leute spielen Lotto, um sich daran zu gewöhnen, dass sie Loser sind.»
Ja, es ist eine Komödie, und das Publikum lacht und amüsiert sich und atmet dann vielleicht kurz durch, denn die Textsorte ist kabarettistisch, sie dreht sich vom doppelsinnig komischen Wortspiel und Missverständnis in einer schnellen Spirale hinauf zur philosophischen Frage nach der Beziehung zwischen Sprechen und Denken und Fühlen, die jede und jeder, auch auf der Bühne, für sich selber beantworten muss, weil ja aus dem steten Dialog ein Gespräch nicht wird, wie so oft, und ganz gewiss nicht eine Beziehung. Vielleicht ein Selbstgespräch zu zweit, ein Selbstgespräch zum Zweck der Erkenntnis, wie Pollesch sagt, «denn denken kann man nur zu zweit».
Die vier Darsteller geben ihn gut, diesen fast pausenlosen Text, der so tut, als ob er Dialog wäre, und doch wird er nur hinausgesprochen in den Raum, wo wir ihn auffangen und zusammensetzen zu seiner Bedeutung für uns: Hilke Altefrohne, Inga Busch, Marie Rose Tietjen und Jirka Zett machen daraus, zusammen mit dem Chor der 13 Frauen, einen 90-Minuten-Film ohne Hänger und Spannungsabfall – ein echtes Amusement für die Bourgeoise – nachhaltig, denn die wiederkehrenden Bilder des Kreislaufs bleiben hängen im Kopf und vielleicht sogar in der Seele, also in diesem Gefühl, das uns mit uns selber und der Welt verbindet.
«High (du weisst wovon)» ist noch nicht Revolutionstheater, es ist Reflexionstheater, es ist eher Freud als Marx, eher Verdrängung und Unterdrückung als Entfremdung. Und vielleicht ihre Überwindung. «Ich muss mir erlauben, das Gegenteil von dem zu denken, was ich fühle. Dann ist das a u c h die Wahrheit», heisst es am Ende des Stücks. «Ich sass mal neben meiner Mutter, und sie hat gegessen, und es war so schlimm. Und ich denke, es wird ein Geräusch gewesen sein, was ich so unglaublich mag, dass es für mich kaum auszuhalten ist. Es ist so einfach.»
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PS: Das Bühnengeschehen in «High» definiert sich selber. «Das ist hier Warten auf Godot im Gehen,» heisst es da. «Warten auf Godot-to-go.»
Vielleicht ist Samuel Becketts «Warten auf Godot» aber gar nicht so sehr absurdes Theater, wie wir gelernt haben. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass das Stück von zwei Juden erzählt, die 1943 in Frankreich auf einen Schleuser warteten, der sie vor den Nazis retten soll. – Giorgio Strehler, der grosse italienische Theatermann, hat Samuel Beckett mal Brechts Frage gestellt, wo die beiden Hauptfiguren in «Godot» «eigentlich im 2. Weltkrieg» waren. Becketts Antwort; «In der Résistance». (gemäss: Valentin Temkine: Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte. Matthes & Seitz, Berlin 2009)
Widerstand scheint immer angesagt. Das Absurde geschieht ja in der Wirklichkeit.
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Das Stück steht heute (16. Januar) und am 20., 23. und 24. Januar, dann wieder ab 3. Februar auf dem Spielplan.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Irgendwie tröstlich, dass die schweizerische Linke noch Zeit für Kapitalismuskritik hat. Anderswo ist die Linke nur noch damit beschäftigt, den kapitalistischen Fortschritt gegen seine rechten Feinde zu verteidigen.