Kein Kollege mehr_Die Schiwoff-Affäre 7_10
Red. Am 19. Dezember 1956 wurde der VPOD-Sekretär Victor Schiwoff verhaftet, später «wegen unwahrer Behauptungen gegen die Interessen der Schweiz zu einem Monat bedingt verurteilt» (Historisches Lexikon der Schweiz), sowohl aus der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaft VPOD ausgeschlossen. Sechzig Jahre danach publizieren wir auszugsweise die ihn betreffenden Fichengeschichten aus dem Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg» von Jürgmeier als Serie.
—
- Hier finden Sie alle Folgen der Serie «Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren»
—
Eine denkwürdige Vorstandssitzung des VPOD
VPOD Schweiz, Verbandssekretariat, Zürich-Sonnenberg, 19. Januar 1957: Helmut H. und Victor S. – die der Berichterstatter vierzig Jahre danach an gleicher Stelle zum Rendez-vous bittet – trafen sich, vielleicht sogar zum ersten Mal, im Rahmen einer Verbandsvorstandssitzung des VPOD. Traktandum 1: Ausschluss von Victor S. Traktandum 2: Absetzung des geschäftsleitenden Sekretärs Max A., den der Trumpf Buur (1) für das «Kuckucksei im Swissair-Nest» verantwortlich machte. Der als Sozialdemokrat stur das antikommunistische Bekenntnis verweigerte. Weil er’s im Gegensatz zu den Genossen mit kommunistischer Vergangenheit nicht nötig habe, solchen Verdacht von sich zu weisen, erklärte der Nationalrat mehr als einmal. Was den Trumpf Buur nicht daran hinderte, ihn als einen Mann zu diffamieren, «der in seinem blinden Hass gegen alles Nichtsozialistische keinen guten Faden an unseren schweizerischen Einrichtungen lässt» und sich auch jetzt noch alle Mühe gebe, «das Früchtchen S., den Mitläufer der Ungarnmörder, als verirrtes Schaf hinzustellen».
Aber nicht nur bürgerliche Kreise versuchten, aus dem Fall S. einen Fall A. zu machen, wie die Traktandenliste der historischen Verbandsvorstandssitzung im Januar 1957 beweist, die nicht nur stenografisch protokolliert, sondern auch auf Band aufgenommen worden ist – hochoffiziell, entgegen Victor S.‘ Erinnerung, der sich im Besitz eines heimlich aufgezeichneten Tondokumentes glaubte –, sodass nachzulesen und nachzuhören ist, wie an der aufgeregten Zusammenkunft – einzelne Anwesende fürchteten offensichtlich eine empfindliche Schwächung des Gesamtverbandes, wiesen darauf hin, es seien bereits Austritte zu verzeichnen – Kollege Dr. Fritz P. dem als «Uristier» charakterisierten Luzerner A., der sich, nach eigenen Worten, nicht wie «ein stummer Hund abschlachten» lassen wollte, zu Hilfe kam. «Seht, die bürgerliche Presse lässt Leute aus unseren Kreisen so gewissermassen kommen wie ein Schulbube und sagt: ‹Sag jetzt schön dis Versli, gäll, die Kommunisten sind wüeschti.› Und dann muss er dieses Verslein aufsagen und macht es auch. Wir dürfen aber nicht vergessen – unsere Hauptfront ist das Bürgertum. In der Schweiz spielen die Kommunisten ja eine nebensächliche Rolle. Es ist sogar im Kampf der Arbeiterbewegung, in der Schweiz wohlverstanden, in andern Ländern ist es anders, es ist fast ein wenig ein Flohnerposten, wenn man gegen die Kommunisten kämpft. Dort kann einem nichts passieren. Was einem aber passieren kann, wenn man in vorderster Front gegen das Bürgertum, gegen den Kapitalismus kämpft, das beweist das Beispiel von Max A. Er ist gewissermassen ein politischer Puritaner. Ich glaube, es ekelt ihn an, da die Rolle des Flohnerpostens zu spielen.»
«Ich habe eine Welle des Hasses gespürt»
Da, wo heute die EDV-Anlage gnadenlos den Rückgang der Mitgliederzahlen registriert, sass Victor S., isoliert, bis auf zwei, drei, die noch zu ihm hielten, so Dr. Fritz P., der auf die «kolossale» Beliebtheit S.‘ bei seinen Kollegen hinwies und betonte: «Das kann man nicht mit Geflunker, das kann man nur mit Taten.» Sonst aber sass S. «unter lauter Feinden». Es sei «schlimmer gekommen, als ich gehofft, sogar befürchtet hatte. Ich habe eine Welle des Hasses gespürt. Man kann es nicht anders ausdrücken, es war ein Ausdruck des Hasses.» Helmut H., sagt er, war einer der schlimmsten (2). Kein Händedruck? Damals sicher nicht, lacht Victor S. vierzig Jahre später, zwei Stockwerke höher. «Ich habe es gar nicht versucht, damals bin ich eine Unperson gewesen.» Der wegen Nachrichtendienst und staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagte S. war inzwischen von der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen worden und als Sekretär des VPOD zurückgetreten. «Damit möchte ich Euch vor drohenden verbandsinternen Schwierigkeiten und Gewissenskonflikten behüten. Die Tätigkeit in Eurer Sektion und für Euch ist mir lieb geworden. Gerade deshalb trete ich hiermit ausdrücklich vom Amte zurück. Das geschieht aber auch aus Vernunftgründen und zur Wahrung der höheren Gewerkschaftsinteressen.» Diese Erklärung – die Verbandspräsident Ferdi B. «als psychologisch ausserordentlich geschickt abgefasst» bezeichnete – erfolge, so S., «freiwillig. Einem Druck hätte ich mich nicht gebeugt, weil ich keine verbandsschädigenden Handlungen begangen habe.» Was bestandene Gewerkschafter im Raum ganz anders beurteilten. Sie werden genickt haben, als Ferdi B. den Ausschluss-Antrag begründete: «Ich glaube, im Namen sämtlicher Arbeiter der Vergangenheit und der Gegenwart zu reden, wenn ich sage, dass solch eine Haltung unentschuldbar und mit wirtschaftlicher Not nicht begründet, noch entschuldigt werden kann.» Carl C. von der Sektion Zürich-Städtische schleuderte entrüstet über den Tisch, an dem auch S. sass: «Was haben dann unsere Gewerkschaftspioniere durchmachen müssen?» … Wahrscheinlich ohne S. anzuschauen, erklärte er zu dessen Handel mit dem ehemaligen ungarischen Legationsrat: «Aber wegen 30 windigen Franken, wenn das so ist, verkauft einer seine Überzeugung nicht. Das ist meine persönliche Meinung, sonst schaue ich das als eine fertige Lumperei an, eine Charakterlumperei an und für sich.»
Neunzehn Stimmen für, zwei Stimmen gegen den Ausschluss, zwei Enthaltungen
Das Augenwasser muss dem lebenslänglichen Gewerkschafter den Blick auf die Mitglieder des Verbandsvorstandes versalzen haben. Die Kollegen – Zwischenruf Dr. Sch.: «Nicht mehr Kollege!» – hatten das Urteil über Dr. Victor S., der, so mussten sie es sehen, mit seiner zum Schleuderpreis nach Ungarn verhökerten Kritik an führenden Figuren der schweizerischen Arbeiterbewegung die Hand biss, die ihn nährte, schon gemacht. Ein Urteil, das sie nicht als politisches, sondern als «charakteriologisches» (Ferdi B.) gesehen haben wollten. «Eine Verteidigung», schätzte er seine Lage realistisch ein, als ihm das Wort erteilt wurde, «scheint mir sinnlos zu sein. Denn ich komme nicht als Angeklagter, sondern als bereits Verurteilter.» S.‘ Beteuerungen wurden im Protokoll zwar minuziös festgehalten – «Ich bin kein Landesverräter, kein Spion, kein Kommunistenagent, kein Kominformagent und was man mir alles, vor allem in der sozialdemokratischen Presse, an den Kopf wirft, Sowjetbürger usw. Ich lehne solche Titulierungen wirklich ab.» –, in der Sache waren sie damals bedeutungslos. Die Männer am sauberen Tisch waren sich bald einig, und die stummen Frauen im Raum stenographierten es mit: neunzehn Stimmen für, zwei Stimmen gegen den Ausschluss, zwei Enthaltungen. S. selbst wurde noch vor der Abstimmung vom Tisch gewiesen. Hätte das Fernsehen bereits die heutige Bedeutung und Technologie gehabt, eine TV-Equipe hätte ihm am Sonnenberg aufgelauert und das Mikrofon auf die Brust gesetzt. «Wie fühlen Sie sich jetzt?» 1957 aber blieb Victor S. auf seinem Heimweg unbeachtet. Wahrscheinlich war er schon in der Nähe des Würstlistandes beim Zürcher Bellevue, als der Berner Gewerkschafter Doktor Sch. fürs Protokoll festhielt: «Von jetzt an fällt bei S. das Wort ‹Kollege› weg!»
«Das hat mir am meisten weh getan – der Ausschluss aus dem VPOD», murmelt Victor S. 1996 und klopft auf den Tisch. «Das habe ich als ungerecht empfunden. Schliesslich gab es erst eine Anklage, noch keine Verurteilung.» Warum haben die Gewerkschafter, warum hat Helmut H. der Anklage blind vertraut? Weil der damalige Bundesanwalt ein Genosse war? Der dementierte allerdings gegenüber Zentralsekretär Max A. Gerüchte, wie sie der Postgewerkschafter und spätere Nationalrat Richard M. verbreitete – «Nach meinen Informationen hat S. bis zu seiner Verhaftung Nachrichten geliefert.» –; wer behaupte, die Untersuchung habe mehr ergeben als das beschlagnahmte Dokument, machte der oberste Maulwurf klar, der sage die Unwahrheit.
S. schlagen, hiess das – sich gegen russische Panzer stellen
«Ich bin fast ein Opfer des Kalten Krieges gewesen, ich bin da einfach mitgeschwommen», erklärt Helmut H., der als Scharfmacher jener Tage herhalten muss, der 1996 dem Kommunisten S. ganz selbstverständlich die Hand hinstreckt. «Wenn der oberste Gerichtspräsident des Kantons Basel», der zugleich Sektionspräsident des VPOD war, «diese Anklage ‹usbeinlet› und für ausschlusswürdig befunden hat, dann habe ich das geglaubt, und dann hat es kein Pardon gegeben. Was verlangst du anderes von einem kleinen Gewerkschaftssekretär?» Jetzt kommt das andere Opfer des Kalten Krieges dem einen zu Hilfe, gegen den 1956 eben gerade fünf Jahre alten Bueben, der vierzig Jahre später ob soviel Autoritätsgläubigkeit gegenüber einem Gerichtspräsidenten die Stirn runzelt. «Da habe ich», vermittelt S., «für den Helmut mehr Verständnis als du. Damals hat man vor gewissen Leuten einfach eine Hochachtung gehabt.» Hat ihnen vertraut. Ist ihnen gefolgt.
S. schlagen, hiess das – sich gegen russische Panzer stellen? Eine derart komplexe Motivlage weist Helmut H. 1996 von sich. «Da würdest du mich überschätzen – so komplizierte Kombinationen habe ich nicht angestellt, und im Übrigen war der Victor dann doch nicht so eine zentrale Person. Er war in diesem VPOD, von dem eine gewisse politische Zuverlässigkeit verlangt wurde, einfach eine Reizfigur», an der sich der Hass gegen alles, was unter kommunistischer Flagge segelte, entlud. Der Hass, der sich auch in H.‘s Sprache verriet. «Man muss sie öffentlich brandmarken, blossstellen, dem Spott und Hohn preisgeben, das Beste, das mit diesem politischen Lumpenpack geschehen könnte, wäre eine direkte Verfrachtung nach Moskau» (3), hält der Berichterstatter dem Verfasser die vierzig Jahre alten Sätze vor.
«Du musst mir das nicht vorlesen», unterbricht H., der später festhalten wird, er könne vergessen – und vergeben. Jetzt sagt er: «Ich kenne den Text. Wahrscheinlich kann man sich diese Stimmung in deiner Generation gar nicht mehr vorstellen.»
Immerhin wissen auch Leute im Alter des Berichterstatters, dass damals selbst in Gewerkschaftskreisen Säuberungen gefordert und KommunistInnen handgreiflich bedroht wurden. Aufgehetzt durch Artikel wie den H.‘schen?
«Das habe ich sicher so nicht gewollt! Ich bin nie ein gewalttätiger Mensch gewesen! Diese Frage weise ich entschieden, ganz entschieden zurück.»
Aber dein Text enthält doch ganz eindeutige Gewaltphantasien – du schreibst zum Beispiel: «Da wir in einer Demokratie leben, wird auch dieses Gesindel, die PdA-Mitglieder, von unserer Polizei geschützt. Diesem Umstand haben sie es zu verdanken, dass ihnen ob der Volkswut die Augen nicht blau werden. Verachtung wie sie Mördern und Verbrechern gegenüber herrschen muss, wird sie trotzdem strafen. Dass keiner mehr mit ihnen rede, dass keiner mehr ihnen die Hand gebe, dass jeder sie hasse und ihnen seine Empörung augenfällig zeige, bleibt unser Wunsch. Unsere Abrechnung muss auf diese zugegebenermassen viel zu humane Weise geschehen.»
Keine Gewaltphantasie?
«So ist es nie gemeint gewesen. Ich bin kein Politiker, der zur Gewalt aufruft, auch nicht indirekt, aber ich habe da verbal sicher überzogen. In der Wut sollte man nie schreiben.»
Ich unterstelle dir keinen Aufruf zur Gewalt, aber ich frage mich, ob solche Sprache – Max. A. nannte sie 1956 «eine faschistische Schreibweise oder ganz einfach eine Pogromhetze» – das damalige Klima des Hasses nicht mit-geschaffen hat.
Jetzt, auch vierzig Jahre danach, ist die Erregung zu spüren, als er entgegnet: «Entschuldigung, daran ist nicht der H. schuld, sondern die damals führenden Leute der PdA, die diesen Einmarsch nicht zurückgewiesen haben!»
«Wer diese Politik unterstützt oder nicht bekämpft hat, hat das ertragen müssen.»
Zwischenruf S., der darauf besteht, die PdA Basel-Stadt habe, im Gegensatz zur schweizerischen und zürcherischen Partei, ganz klar Stellung genommen – gegen die Panzer in Budapest. Aber, jetzt fuchtelt er mit einem leicht vergilbten Papier aus dem Jahre 1956 durch die Luft der Neunzigerjahre, aber alle hätten sich auf das differenzierende Aber gestürzt. «Für jeden Sozialisten und vor allem für jedes Mitglied der Partei der Arbeit war es erschütternd, dass als Folge der vorangegangenen unverzeihlichen Fehler von Partei und Regierung die Sowjettruppen in Ungarn eingreifen mussten. Dieses Eingreifen erfolgte, um weit Schlimmeres, Faschismus und Krieg, im Herzen Europas abzuwehren», ist da beispielsweise zu lesen. Und im Übrigen, ereifert er sich, «ist es ja witzig, Schweizer Kommunisten für das verantwortlich zu machen, was die Russen drüben in Ungarn machen», aber abschwören, «das hat doch kein Kommunist machen können». Viele verliessen damals die Partei der Arbeit. Hierzulande habe es eine eigentliche Pogromstimmung gegeben. Sein Neffe, «der null und nichts damit zu tun hatte – nur weil er den gleichen Namen gehabt hat, ist er mit verschlagenem Grind aus der Schule nach Hause gekommen. Er hat ein paar Tage zu Hause bleiben müssen. Das ist unheimlich. Aber von den Opfern, die es in der Schweiz gegeben hat, spricht man nach vierzig Jahren nicht mehr. Die Kommunisten ausmerzen, Moskau einfach – hat es damals geheissen.»
Helmut H. ist in diesem Punkt auch vierzig Jahre danach nicht versöhnlerisch. «Das ist mir hundewurst», hält er deutsch und deutlich fest und wird die Klage der Schweizer KommunistInnen über ihre Verfolgung, angesichts der «Ereignisse» in Ungarn, für etwas weinerlich halten. «Wer diese Politik unterstützt oder nicht bekämpft hat, hat das ertragen müssen.»
Und das, kommt der Berichterstatter auf seine Frage zurück, ohne Helmut H. nochmals aus seinem Artikel zu zitieren, rechtfertigt solche Sprache?
«Du bist ein Sprachästhet! Ich bin Politiker! Und ich habe schon manches gesagt, das man anständigerweise nicht sagen würde. Politik ist kein Metier, in dem Gediegenheit gepflegt wird.»
Was, wenn ihr die Macht gehabt hättet, nicht nur zu schreiben, sondern zu handeln, mit den KommunistInnen zu machen, was da als Wunsch durchschimmert?
«Du musst doch nicht sprachästhetisch, wie ein religiöser Fundi, Wort für Wort glauben. Du musst endlich zur Kenntnis nehmen – ich han e Wuet im Ranze gha, weil ich empört gewesen bin, aber ich habe in meinem Leben bewiesen, dort, wo ich Einfluss gehabt habe – ich bin nicht so, so bin ich nicht!»
«Das ist keine gute Phase gewesen damals»
Da sind Differenzierungen gefragt, mit denen PdA-Mitglieder – die zwar gegen Panzer in Budapest waren, aber zugleich Verständnis für die militärische Intervention in Ungarn zeigten – 1956 nicht rechnen durften. «Sie sollen behandelt werden wie die Pest und Cholera, als Seuche in unserem Lande, die vertrieben werden muss.» Dem Basler PdA-Grossrat Robert K., der 1956 wegen solcher Sätze vor H. auf den Boden spuckte – «der hätte mich lynchen können» –, gratuliert der SP-Nationalrat Jahrzehnte später freundschaftlich und persönlich zum Achtzigsten. Und seit den Siebzigerjahren haben sich auch Victor S., PdA, und Helmut H., SP, immer wieder getroffen, als Gewerkschaftskollegen, oft und gerne, manchmal auch länger, als es der Gang der Geschäfte verlangte. Nie aber spricht einer von ihnen den 19. Januar 1957 an. «Ich habe keine Veranlassung gehabt», gibt sich S. versöhnlich, «der Helmut hat meine Wahl im 71gi unterstützt, damit war für mich die Sache vergessen.» Auch Helmut H. schweigt. «Sicher wegen meines schlechten Gewissens. Das ist keine gute Phase gewesen damals.» Der Satz, so Victor S. nach der 1996 aus literarischen Gründen organisierten Begegnung, «ist für mich der zentrale gewesen, eine Art Pauschal-Entschuldigung.»
Szenen aus einem Land, das Weltgeschichte seit Langem nur noch nachstellt. Geschichten aus einem Land, in dem die Gegner nach ungeschlagener Schlacht aus dem Scheinwerferlicht treten, sich die Hand reichen und in helvetischer Einmütigkeit beteuern: vergeben und vergessen, alles nur ein Spiel. Will der Berichterstatter schreiben. «Nein», protestiert S., «ein Spiel war das alles nie, jedenfalls für mich nicht, auch die Aussöhnung mit Helmut H. nicht.» «Für dich hat es natürlich materielle Folgen gehabt, daran haben wir gar nicht gedacht», bedauert der Hardliner von damals den Kollegen von heute, «aber die PdA ist ja kein schuldloses Lamm gewesen, und du bist zu dieser PdA gezählt worden».
Das waren andere Zeiten, der «Charakterlump» von damals attestiert dem heutigen Nationalrat, er habe sich geändert. «Sonst hätte ich mich geweigert, mit dir an einen Tisch zu sitzen.» Glücklich das Land, in dem sich die Kämpfer wider das Unrecht am Ende die Hand zur Versöhnung reichen – können.
—
- Der nächste Teil der Serie «Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren» erscheint in wenigen Tagen.
—
(1) Trumpf Buur oder Aktion für freie Meinungsbildung – platziert seit 1947 wöchentlich politische Inserate in verschiedensten Tageszeitungen, kann als rechtsbürgerlich eingestuft werden, wird von den Autoren des Buches «Die unheimlichen Patrioten» der «politischen Reaktion in der Schweiz» zugeordnet.
Selbstdarstellung auf Homepage 2001: «Der Trumpf Buur will alle, die sich für das Wohl unseres Landes interessieren, durch sachliche und klare Informationen auf jene Erscheinungen im politischen Leben aufmerksam machen, welche auf die Dauer die persönliche Freiheit einschränken und den Rechtsstaat aushöhlen. Mehr Freiheit – weniger Staat. Mehr sparen – weniger Steuern. Mehr Markt – weniger Bürokratie.» [Wer ist der Trumpf Buur?] «Diese Frage stellen sich seit gut 50 Jahren immer wieder hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer, denn seit 1947 ist der Trumpf Buur die meistverbreitete politische Meinung in unserem Land. Von niemandem abhängig, nur sich selbst verpflichtet. Diese Unabhängigkeit garantiert der Verein ‹Aktion für politische Meinungsbildung›, welcher den Trumpf Buur trägt und weder vom Staat noch von politischen Parteien finanzielle Unterstützung entgegennimmt. Dafür kann der Trumpf Buur auf über 30’000 Bürgerinnen und Bürger zählen, die mit seinen politischen Zielen einiggehen und ihn in seiner Aktivität finanziell unterstützen. Dabei bestimmt jeder Spender die Höhe seines Beitrages selbst. Die Tatsache, dass die grösste Einzelspende nur knapp 2% des Trumpf Buur Budgets ausmacht, garantiert, dass der Trumpf Buur von Geldgebern nicht unter Druck gesetzt werden kann.»
(2) In einem Artikel der Basler AZ am 8. November 1956 (kurz nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn am 4.11.) gab der damalige VPOD-Sekretär Helmut H. (späterer Nationalrat und Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz) jenem einfachen Arbeiter recht, der im Tram, offensichtlich in Anwesenheit von Helmut H., kundgetan haben soll, die führend tätigen Moskauanhänger der Basler PdA sollte man «öffentlich auf dem Marktplatz hinter Drahtgehegen ausstellen». H. weiter: «Wer jetzt noch Mitglied der PdA bleibt, bekennt sich als Anhänger der russischen Mordgesellen am ungarischen Volk. Er billigt mit seiner Mitgliedschaft alles, was Moskau getan hat und tun wird.»
Helmut Hubacher zeichnete mit H. H-er, der Einfachheit halber von mir durch Helmut H. ersetzt.
(3) Aus dem bereits erwähnten Artikel von Helmut H. in der Basler AZ vom 8.11.1956
—
Victor S.: Victor Schiwoff, geboren am 22. November 1924 in Meiringen. Der Vater war Russe, die Mutter Polin; beide schlossen ihr Medizinstudium in Zürich ab. Kurz vor Matura-Abschluss wurde Victor Schiwoff vom Militär einberufen – 300 Aktivdiensttage. 1945 als jüngstes Parteimitglied bei der Gründung der Partei der Arbeit dabei. 1946 den Matura-Abschluss nachgeholt. 1947 bis 1951 Studium mit Abschluss als Dr. rer. pol. Nach verschiedenen Tätigkeiten 1954 erste Arbeiten für den VPOD, u.a. die Studie zum 50-Jahr-Jubiläum «Das Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht des Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst», 1955 Wahl zum Sekretär der VPOD-Sektion Luftverkehr, 1956 die sogenannte «Schiwoff-Affäre», mit Ausschluss aus VPOD. Nach einer kurzen Zeit der Stellenlosigkeit verschiedene Arbeiten, u.a. als Hilfsmaler und Packer in einer Buchhandlung. 1960 bis 1971 Redaktor beim «Vorwärts» in Genf, wo er als Mitglied der PdA in den Gemeinderat von Meyrin und in den Grossrat des Kantons Genf gewählt wurde. 1971 bis zu seiner Pensionierung 1989 Zentralsekretär VPOD, in Zürich. Am 5. April 2006 gestorben.
Elsi S.: Elsi Schiwoff, geborene Wettstein. Am 3. Januar 1925 in Meilen geboren. Ausbildung: Handelsmatura in Neuenburg, Latein-Matur in Zürich, Diplom für französische Sprache und Zivilisation an der Sorbonne in Paris. Tätigkeit als Verwaltungsangestellte in Treuhandbüros, Wohn-Bau-Genossenschaft und Gewerkschaft GBI. Politisches Engagement: hauptsächlich in Genf-Cointrin. Am 20. März 2004 gestorben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Das Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg» von Jürgmeier ist 2002 im Chronos-Verlag, Zürich, erschienen.
Ja, inzwischen hat der Antifaschismus gesiegt und sie bringen alle wieder «Verständnis» dafür auf, dass die Sowjets Ungarn nicht einfach demokratisch werden – und damit den Faschisten überlassen – konnte. Der Schiwoff, der Jürgmeier und letztlich auch wieder der Hubacher.
Tja, Herr Möller. Wirklich gut, dass der Faschsmus besiegt wurde. Für Sie, das lese ich nicht nur aus diesen, ihren Zeilen, auch aus anderen Statements von Ihnen, scheint der Faschismus der Zwillingsbruder der Demokratie zu sein. Die Anfänge der Demokratie in Ungarn zu Beginn der Zwischenkriegszeit, die dann «demokratisch» in den Faschismus übergingen: Horthy und andere Massenvernichter, Hitler, der demokratisch an die Macht kam, und Orban desgleichen. Da sind mir einige Kommunisten viel lieber, etwa die seit Jahrzehnten Regionalregierenden des Aostatals, der letzte Präsident Zyperns und Napolitano, der letzte Italiens, es gäbe noch viele andere Beispiele. Gorbatschow etwa. Der Kommunismus hat viele Gesichter, auch schöne, er ist nicht einfach mit den dunklen Zeiten der Sowjetunion gleichzusetzen. Der Faschsmus hat aber nur eines: ein hässliches.
Versteh ich nicht. Hier geht es um die Verhinderung der Demokratie in Ungarn 1956, weil ja dann (angeblich) die Faschisten wieder an die Macht kämen – eine These, die nicht von mir stammt, sondern von den Kommunisten. (Dasselbe Argument brachten sie ja schon 1953 vor, bei der Niederschlagung des Aufstands in der DDR.) Und genau damit können sich Schiwoff, Jürgmeier und Hubacher 1996 wieder identifizieren.
Antifaschisten waren damals Antidemokraten und sind es bis heute geblieben.
Na gut, «Schönwetter"-Demokraten. Solange man sie an die Macht wählt, sind sie mit der Demokratie herzlich einverstanden. Ist ja auch keine Kunst – aber das macht noch keinen echten Demokraten aus.
Helmut Hubacher, Willy Brandt und alle Sozialdemokratenn haben die Niederschlagung der Aufstände in der DDR und Ungarn unmissverständlich verurteilt, aber auch die Ermordung von.Salvador Allende und die Machtübernahme durch den schmuddligen Massenmörder Pinochet. Im Gegensatz zu Exponenten der eurpäischen Rechten. Antifaschisten als Antidemokraten zu verunglimpfen, ist eine Ungeheuerlichkeit, zu der nur Epigonen der Neonazis (Pegida, AfD, FN, Lega, FPÖ) fähig sind.
Klar hat der Hubacher 1956 die Niederschlagung der Aufstände verurteilt. Haben sie alle: aus Überzeugung, Dussligkeit, Wahltaktik … wer weiß? 1996 stolpert der Hubacher dann allerdings über seine Füße, um sich immer wieder zu entschuldigen: Wie KONNTE ich 1956 nur so böse Sachen über die Kommunisten schreiben? Und: naja, das alles ist ja passé – kann man ja gut verstehen, dass die Kommunisten damals so drauf waren.
Genau das meine ich doch mit: Der Antifaschismus hat gesiegt.
Und der (antifaschistisch-kommunistische) Kampf gegen die freiheitliche Demokratie wird geleugnet, schöngeredet, legitimiert – mit Folgen für die Gegenwart und Zukunft.