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Carolin Emcke erhielt am Sonntag, 23.10.2016, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels © carolin-emcke.de

Was Gewalt mit einer Kriegsreporterin macht

Jürg Müller-Muralt /  Eines der eindrücklichsten Bücher über den Krieg stammt von Carolin Emcke, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Am Anfang war für einmal nicht das Wort, sondern «nur Sprachlosigkeit». Nachdem die deutsche Journalistin Carolin Emcke 1999 nach anderthalb Monaten aus Albanien und Kosovo zurückgekehrt war, wusste sie nicht, wie sie die Fragen ihrer Freunde über den Umgang mit Gewalt, Tod und Zerstörung beantworten sollte. Sie griff zum Mittel des Briefs, in dem sie in sehr persönlicher Art vom Krieg und seinen Opfern erzählte. Sie begann es nach jeder Reise zu tun. Sie spürte, dass sie damit ein Mittel gefunden hatte, die belastenden Erlebnisse auch selbst zu verarbeiten.

Zu verarbeiten? Wohl eben gerade nicht: «Seit meiner Rückkehr werde ich gefragt: ‹Wie verarbeitet man das Erlebte? Wie wird man damit fertig?› Die Antwort lautet: ‹Gar nicht.› Manche Eindrücke lassen sich nicht ‹verarbeiten›. Der Anblick eines kosovo-albanischen Mädchens im Krankenhaus von Prizren in Kosovo, das am Tag vor dem Einmarsch in Kosovo von einem Heckenschützen angeschossen wurde. Sie hatte eine Gehirnverletzung und hätte zur Operation nach Pristina ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Seit jener Nacht lag sie in einem Zimmer mit fünf schwer verletzten Männern: Serben, UCK-Kämpfer, Albaner, die Feinde des Krieges versammelt in einem überhitzten Raum. Man konnte sie atmen hören. Sie würden vermutlich im Verlaufe der nächsten fünf Stunden sterben: Das Krankenhaus konnte sie nicht nach Pristina transportieren – die serbischen Truppen hatten den einzigen Krankenwagen für ihre Flucht nach Kriegsende gestohlen.»

Über die Berichterstattung hinaus

Das 2004 erstmals erschienene Buch «Von den Kriegen. Briefe an meine Freunde» gehört mit zum Eindrücklichsten und gleichzeitig Persönlichsten, was die am 23. Oktober 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Autorin publiziert hat. Vor allem zwischen 1998 und 2006 bereiste die promovierte Philosophin und Historikerin für den «Spiegel» die damaligen – und teilweise auch noch heutigen – Kriegs- und Krisengebiete der Welt: Kosovo, Pakistan, Afghanistan, Kaschmir, Nordirak, Kolumbien. Über all diese Reisen schrieb sie Berichte und Reportagen.

Was sie mit ihrem Buch vorlegte, sind keine journalistischen Arbeiten. Sie wollte «etwas mitteilen, das über die klassische Berichterstattung hinausgeht». Klassische Briefe sind es aber auch nicht. Sie greift zu dieser Bezeichnung, um unterschiedliche Darstellungsformen zu mischen. Oft ziemlich unvermittelt wechseln sich politische Kommentare mit essayistischen Betrachtungen, spannende Reportagen mit sehr persönlichen Passagen ab.

Wenn Terror taub macht

Ihre scharfen Beobachtungen und präzisen Schilderungen lassen erkennen, dass die routinierte Reporterin das Staunen nicht verlernt hat. Zum Beispiel als sie in New York Zeugin der Terroranschläge vom 11. September 2001 wird – und «verblüfft» feststellt, wie «schlagartig die eleganten New Yorker in Aussehen und Verhalten den Opfern von Gewalt in anderen Regionen der Welt ähnelten». Auch an sich selbst beobachtet die Autorin Eigenartiges: «Wusstet ihr, dass ein Trauma das Gedächtnis taub machen kann?», schreibt sie; denn in ihrer Erinnerung «verbindet sich kein Geräusch mit dem Augenblick, als die Türme einstürzten. Ich kann mir das Bild vor Augen rufen, aber da ist keinerlei Lärm. In meinem Gedächtnis ist es still.»

«Mittendrin macht mich nervös»

Eindrücklich und spannend zugleich schildert sie auch den Versuch, Carlos Castano, den Chef der rechten paramilitärischen Einheiten in Kolumbien, zu treffen. Und wie sie sich dabei, zusammen mit ihrem Fotografen, in Medellin plötzlich – eben noch war alles ruhig im verwirrenden Dickicht aus Treppen, Gassen und Häusern – mitten im Kampfgetümmel zwischen Rebellen und Armee befindet. «Mittendrin zu stecken macht mich nervös», schreibt sie – und geht doch immer wieder hin, dort wo Tod und Gewalt herrschen. Warum? Immer wieder muss sie diese Frage beantworten. Carolin Emcke ringt um Antworten, macht es sich nicht leicht, sucht die Gründe auch in ihrer Person. Vor allem aber fahre sie in Kriegsgebiete, «weil die Erfahrung von Gewalt allzu oft dazu führt, dem erlebten Unrecht keinen Ausdruck mehr verleihen zu können, die Opfer sprachlos zu machen».

Paradoxie der Gewalt

Die Autorin macht auch auf den ersten Blick paradoxe Aussagen, etwa wenn sie schreibt, dass es gerade «in solchen Landschaften der Gewalt Schönheit und Freude in besonderer Klarheit zu geben scheint». Eine «ungeheure Gastfreundschaft» erlebt sie immer wieder gerade dort, wo die Hoffnungslosigkeit am grössten ist. Zum Beispiel damals in Medellin, als Emcke und der Fotograf mitten im Kugelhagel stehen – und sich auf der engen Gasse plötzlich eine Türe öffnet, eine rettende Hand sie, die völlig Fremden, im letzten Moment ins schützende Haus winkt.

«Mich widert es an»

Carolin Emcke hat ein Buch geschrieben, das unter die Haut geht. Sie bietet dabei auch einen Einblick ins schwierige Schaffen der Medienschaffenden in Kriegs- und Krisengebieten, relativiert aber mit ihrer Sensibilität das Klischee des hartgesottenen oder zynischen Kriegsreporters. Ihre Briefe bieten mehr als jede noch so gute Reportage, weil sie den objektiv-professionellen Blick auf das Geschehen mit Introspektion verbinden. «Die Briefe legen Zeugnis ab auch über mich, die Zeugin selbst. (…) Immer wieder haben meine Freunde, die die Briefe lasen, mit Erstaunen und Entsetzen reagiert: Das hätten sie sich so nicht vorgestellt. Das hätten sie nicht gewusst.» Die Briefe machen, man muss es so sagen, fast physisch erfahrbar, wie grauenhaft Krieg ist. Ein bewegender Einblick in den Alltag des Schreckens, geschrieben von einer Frau, die sich zwingen muss, dort hinzugehen. Denn «mich widert es an».

Carolin Emcke: «Von den Kriegen. Briefe an Freunde», Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2006, 320 Seiten, CHF 13.90


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Gewalt

«Nur wer die Gewalt bei sich versteht, kann sie bei andern bekämpfen.» Jean-Martin Büttner

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Eine Meinung zu

  • am 31.10.2016 um 17:54 Uhr
    Permalink

    Der Jugoslawien-Krieg war eine Initiative des Westen und die BRD hat mitgemischt…
    Ich habe täglich Kontakt in den antifaschistischen Donbass und erfahre fast täglich von Kindern, die von den Militärs der Kiewer Junte verletzt oder getötet werden.
    Da schaut Europa genant weg. Welche Verlogenheit!!!

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