Vom Homo politicus zum Homo oeconomicus
»Ein Plädoyer für einen neuen Neoliberalismus» stand im Vorspann zu NZZ-Chefredaktor Eric Gujers Leitartikel auf der Frontpage der NZZ vom 15. Oktober. Oder ausführlich:
Die Koalition der Nein-Sager
Es geht längst nicht mehr nur um die Personenfreizügigkeit. Rechter und linker Protektionismus bedrohen die Prinzipien des Freihandels insgesamt. Ein Plädoyer für einen neuen Neoliberalismus.
Da konnte man etwa folgendes lesen: «Doch das Prinzip des freien Wirtschaftsaustauschs ist politisch unter Druck geraten: in der Schweiz durch die Masseneinwanderungsinitiative, in Westeuropa und in den USA durch die Opposition gegen Freihandelsabkommen. Der Widerstand kommt ebenso von links wie von rechts, einträchtig agitiert eine globale Koalition der Nein-Sager und Verhinderer. Ihr Ziel ist mehr Protektionismus und Abschottung. Dabei geht es nicht um jährlich ein paar tausend zusätzliche Einwanderer oder das Kleingedruckte in Handelsverträgen, die sich hinter sperrigen Akronymen verbergen. Die Migration in die Schweiz wird durch ökonomische Faktoren nachhaltiger beeinflusst als durch bürokratische Vorschriften. Auch die Proteste der TTIP-Kritiker gegen Schiedsgerichte lassen sich kaum sachlich begründen, schliesslich legen solche Stellen seit langem wirtschaftliche Streitigkeiten zur Zufriedenheit der Beteiligten bei. Alle diese Argumente sind nur Vorwände, Ausflüchte und Nebelpetarden. Im Zentrum steht vielmehr der ideologisch motivierte Kampf gegen die Idee der Liberalisierung, die in den achtziger Jahren mächtig Auftrieb erhielt und einen weltweiten Siegeszug antrat. Damals setzten sich so unterschiedliche Politiker wie Ronald Reagan, Helmut Kohl und Margaret Thatcher für Deregulierung auf nationaler wie internationaler Ebene ein.»
Soweit der NZZ Chefredaktor. Zum ganzen Artikel von Eric Gujer hier.
Neoliberalismus?
Doch was ist eigentlich dieser Neoliberalismus? Um es kurz und vereinfacht zu sagen: Es ist das Prinzip, dass die Wirtschaft nicht für die Allgemeinheit, für die Gemeinschaft der Menschen da ist, sondern für die Mächtigen. Der Starke soll gewinnen, der Schwache verlieren und ausscheiden. Es geht nicht um die Balance, es geht um den Sieg der Stärksten, der Grössten, der Mächtigsten. Nur so könne es funktionieren.
Wirklich?
Wendy Brown, eine kluge US-amerikanische Professorin, ist eine genaue und scharfsinnige Beobachterin dessen, was sich da in Wirtschaft und Gesellschaft seit den 1980er Jahren – weltweit – abspielt. Und sie hat darüber ein Buch geschrieben, ein dickes Buch, ein hochinteressantes Buch.
Doch die Warnung vorweg: «Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört» von Wendy Brown ist ein schwierig zu lesendes Buch. Die 60-jährige Autorin ist Professorin für Politologie an der Berkeley University in Kalifornien und hatte beim Schreiben wohl vor allem ihr akademisches Umfeld vor Augen – oder musste so schreiben, um auch vom akademischen Publikum ernst genommen zu werden. Vor allem in der ersten Hälfte des Buches kommt man immer wieder in Versuchung, das Buch zur Seite zu legen. Nein, natürlich nicht des Themas wegen, sondern wegen des zeitlichen Aufwandes, den man da zu akzeptieren hat, denn schnell lesen lässt sich das Buch nicht. Vor allem auch eine eingehende Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault (1926 – 1984) setzt idealerweise gute Kenntnisse dessen Theorien zum Liberalismus voraus.
Wendy Brown zeigt auf, wie der Neoliberalismus den Menschen auf Humankapital reduziert. «Sowohl Personen als auch Staaten werden nach dem Modell des heutigen Unternehmens aufgefasst, sowohl von Personen als auch von Staaten erwartet man, dass sie sich in der Gegenwart im Sinne der Maximierung ihres Kapitalwerts verhalten und ihren zukünftigen Wert steigern, und sowohl Personen als auch Staaten tun das anhand von Praktiken des Unternehmertums, der Selbstinvestition und/oder der Anziehung von Investoren.»
Die Autorin analysiert etwa Obamas Rede zur Lage der Nation zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2013, die in den Medien meist als Wiederentdeckung seiner «linken Basis» interpretiert wurde. Nicht so Wendy Brown: «Während Obama den Schutz der Gesundheitsvorsorge für alte Menschen, die Reform progressiver Einkommenssteuer, eine verstärkte Investition der Regierung in Wissenschaft und Technik, saubere Energie, Hausbesitz und Bildung, eine Einwanderungsreform, den Kampf gegen sexuelle Diskriminierung und häusliche Gewalt sowie die Erhöhung des Mindestlohnes forderte, wurde jedes dieser Themen im Hinblick darauf gefasst, welchen Beitrag sie zum Wirtschaftswachstum oder zur Wettbewerbsfähigkeit Amerikas leisten.»
Anschaulicher und greifbarer wird das Buch in der zweiten Hälfte, etwa dort, wo Wendy Brown aufzeigt, wie der US-Diplomat Paul Bremer, der von Präsident Bush als Verwalter des 2003 angegriffenen und eroberten Irak eingesetzt wurde, mit Punkt 81 seiner 100 Anordnungen die traditionelle, hochentwickelte irakische Landwirtschaft vollständig zerstört und in die Abhängigkeit von Monsantos Saatgut, Dünger und Herbiziden gebracht hat.
Ausgiebig setzt sich Wendy Brown vor allem auch mit dem Entscheid des obersten US-Gerichts im Fall von Citizens United vs. Federal Election Commission auseinander. Die Mehrheit des Supreme Court unter der Führung von Richter Anthony Kennedy hat entschieden, dass das Recht der freien Rede nicht nur der Einzelperson zusteht, sondern auch Organisationen und Unternehmen. Mit der Gleichsetzung von Unternehmen und einzelnen Stimmbürgern wird die Demokratie aber in einen Markt umgewandelt, in dem systemgemäss der Stärkere gewinnt. Das Urteil impliziert denn auch, dass von gewählten Beamten, deren Wahl man mit Geld gefördert hat, eine Gegenleistung verlangt werden kann. Das ist dann keine Korruption, das ist eben Geschäft nach den Spielregeln des Marktes.
Gut nachzuvollziehen sind die Auswirkungen des Neoliberalismus auf das Bildungswesen, wo speziell in den USA mehr und mehr private Universitäten sich um einen vorderen Platz im Ranking – und damit zur «Legitimierung» höherer Studiengebühren – bekämpfen und wo es bei der «Bildung» der Studenten vor allem um Prestige und damit um bessere Einkommensaussichten geht. Eine auch geisteswissenschaftlich gebildete Elite – für eine echte, menschliche Demokratie unentbehrlich – ist im Markt der Bildung nicht mehr gefragt.
Ein Buch mit genauen Beobachtungen von oft Übersehenem und mit scharfsinnigen Interpretationen und Schlussfolgerungen. Eine etwas kürzere, verständlichere Version des Buches wäre in der politischen Wirkung aber wohl stärker.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Teil des Artikels über das Buch von Wendy Brown ist als Rezension zuerst in der Vierteljahreszeitschrift DIE GAZETTE, Ausgabe 51, erschienen.
Historisch gesehen ist der Neoliberalismus eine Bewegung, die in den 1930er Jahren in verschiedenen westlichen Ländern einsetzt, um den veralteten Liberalismus auf die Höhe des zeitgenössischen Denkens zu bringen und als Alternative gegen die modernen Systeme – Faschismus und Kommunismus – auszuformulieren.
Das geht in der Tat einher mit einer Wiederbelebung der Marktwirtschaft und einem Abbau der Staatswirtschaft, inklusive der Einsicht, dass der Mensch wesentlich ein wirtschaftendes Wesen ist, das unvermeidlich mit Knappheit, Wettbewerb, Arbeitsproduktivität, Kapitalbildung, Investition/Allokation usw. zu tun hat – auch wenn es sich das nicht eingestehen will und von einer rein parasitären Existenz träumt (wie unsere Geisteswissenschaftler).
Der klassische Neoliberalismus hat sich übrigens sehr entschieden gegen ein Zusammengehen von big government und big business ausgesprochen; insofern sehe ich in der Politik Paul Bremers im Irak nichts spezifisch «Neoliberales». Monsantos gibt es zu jeder Zeit und Politiker, die sie begünstigen, ebenfalls.
Der Begriff «Neoliberalismus» wird in der Regel mit diffamierender Absicht verwendet, auch hier. Zutreffender wäre einfach «Liberalismus». Dieser steht für eine Weltanschauung, die die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen als wesentliche und positive gesellschaftliche Triebkraft erkennt. Dies im Unterschied zu anderen Weltanschauungen, die glauben, es diene der Gesellschaft besser, wenn wir solidarischer seien. Dies ist ein Irrtum. Aus Theorie und Praxis wissen wir, dass ein System, z.B. eine Gesellschaft, dann am besten sein Optimum erreicht, wenn jeder Teilnehmer sein individuelles Teiloptimum sucht. Tönt zu theoretisch? Das heisst in der Praxis, wenn jeder seinen individuellen Vorteil sucht, wird es einer Gesellschaft besser gehen, als wenn wir einander immer über den Kopf streicheln. Am besten zeigte dies die Lebensqualität (nicht nur der materielle Wohlstand) in den ehemaligen sozialistischen Gesellschaften gegenüber derjenigen in den marktwirtschaftlich, also wettbewerblich orientierten Gesellschaften. Darwins Grundgesetze gelten auch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Dies ist gut so. Ohne sie und die durch sie induzierten dauernden Veränderungen wären wir gar nicht lebensfähig.
Dass wir uns dabei um diejenigen fürsorgend kümmern die da nicht mithalten können ist selbstverständlich und wird im modernen Sozialstaat auch getan.
Da fällt mir die Aussage von Ludwig Erhard, dem Vater des deutschen Wirtschaftswunders ein. «Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen. Wenn die Menschen nur noch Mittel zum Zweck für die Wirtschaft sind, ist die Demokratie am Ende !"
Das neoliberale System wird sehr gründlich von Professor Mausfeld erklärt.
https://www.youtube.com/watch?v=OwRNpeWj5Cs&t=6s
Was mir sehr zu denken gibt
https://nzzas.nzz.ch/notizen/unterwegs-in-den-usa-im-land-verzweifelten-kinderehe-ld.1352828
"Die Rede zur Lage der Nation von US-Präsident Donald Trump von Ende Januar 2018, aus der das Zitat stammt, muss sich für die 5,3 Millionen Amerikaner, die von weniger als 4 Dollar pro Tag leben müssen, wie eine Ohrfeige angefühlt haben. Ökonomen der Universität Oxford haben kürzlich errechnet, dass diese Amerikaner in vergleichbarer Armut leben wie die Inder oder Äthiopier, die mit 1 Dollar 90 pro Tag auskommen müssen und laut Massstäben der Weltbank in äusserster Armut leben.
Die Armutsquote der USA ist damit höher als in Sierra Leone, wo
3,2 Millionen Menschen in extremer Armut leben, oder in Nepal, wo es 2,5 Millionen Arme sind."
Wobei ich behaupte, das 1,90 US$ nur in Touristenzentren in Indien, 4 US$ in den USA entsprechen.
Wenn ich quer durch Thailand reise, bekomme ich für 50 Baht ( weniger als 2 US$ ), eine Essen in der Gaststätte inklusive Kaffee oder Wasser.
Meiner Erfahrung nach ist Indien noch billiger als Thailand.
Die Wirklichkeit ist viel dramatischer, als im Artikel dargestellt !
@Herr von Burg
Der Wirtschaftsliberale George Soros formulliert, das noch viel dramatischer als hier im Artikel beschrieben.
George Soros spricht von Fundamentalismus, also von Extremismus, wie beim Islamischen Staat oder der Al Kaida.
Das obwohl George Soros, reichlich von dem System, profitierte.
Als Top Wirtschaftsexperte, sieht aber auch Ausmaße und extreme hohe Gefahren, des neoliberalen Systems.
https://de.wikipedia.org/wiki/George_Soros
"Soros ist der Ansicht, dass die Deregulierung der Finanzmärkte aufgrund ihrer potenziellen Instabilität ein Fehler war, der die Finanzkrise ab 2007 ausgelöst hat. Verantwortlich für diese Maßnahme sei eine „marktfundamentalistische“ Ideologie gewesen, die seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher zu einer beherrschenden Kraft geworden sei. Diese lasse außer Acht, dass „Finanzmärkte kein Gleichgewicht anstreben“,…"