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In Mals haben sich die Stimmbürger für ein Pestizidverbot ausgesprochen © umweltvinschgau

Kampf den Pestiziden: Ein Dorf probt den Aufstand

Romano Paganini /  In der Südtiroler Gemeinde Mals dürfen Bauern keine chemischen Spritzmittel mehr verwenden. Ein Volksentscheid mit Zündstoff.

Wenn Ulrich Veith einen Gast begrüsst, dann tut er dies gebührend. Der Bürgermeister von Mals zieht den Fremden zu sich heran und schüttelt ihm lange die Hand. Er fragt nach dem Befinden, offeriert einen Polstersessel in seinem Büro und schenkt Bio-Apfelsaft in die Gläser. Ulrich Veith fläzt sich in den Sessel, und irgendwie wirkt der Mann mit seiner unbekümmerten Art so gar nicht wie ein Politiker, ebenso gut könnte er ein Sportler oder Schauspieler sein.

«Der Bürgermeister hat die Aufgabe, für die Gesundheit in der Gemeinde zu sorgen», Ulrich Veith, Bürgermeister von Mals. (Bild: Romano Paganini)
Warum der 46-jährige Familienvater einem der letzten Dörfer im Südtiroler Vinschgau vorsteht, wird schnell klar, wenn er von jenem Thema spricht, das sogar ein japanisches Fernsehteam nach Mals reisen liess: dem Einsatz von synthetischen Pestiziden in der Landwirtschaft. «Die Apfel-Monokulturen haben in der Bevölkerung Ängste ausgelöst», sagt Veith, «sowohl bei den Anwohnern als auch bei den Bio-Bauern, die um ihre Existenz fürchten.» Er habe wissen wollen, wie sehr der Einsatz von chemischen Spritzmitteln die 5000 Bewohner tatsächlich beschäftige und liess die Bürgerinnen sowie Bürger darüber abstimmen. Und siehe da: Drei Viertel der Stimmenden sprachen sich gegen «sehr giftige, giftige, gesundheitsschädliche und umweltschädliche chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel und Herbizide auf dem Gemeindegebiet» aus.
Das war 2014. Im März dieses Jahres ist die neue Regelung in Kraft getreten. Seither dürfen gewisse synthetische Pestizide gar nicht mehr gespritzt werden, andere nur noch mit einem Abstand von fünfzig Metern zu Schulen, Wohnhäusern, Friedhöfen, Wander- und Velowegen – was wegen der kleinen Landwirtschaftsparzellen ebenfalls einem Verbot gleichkommt.
Atemprobleme und Hautreizungen
Es ist kurz nach sieben Uhr morgens, viele der rund 300 Bauern in Mals haben ihre Bewässerungsanlagen eingeschaltet. Die Felder mit Apfelbäumen liegen teilweise direkt vor der Haustür, an einzelnen Stellen bleiben zwischen Häusern und Plantagen nur wenige Meter Platz.

Obstplantage mitten im Wohnquartier: Mals schränkt den Gebrauch von Spritzmitteln erheblich ein. (Bild: Romano Paganini)

Das sonnenverwöhnte Vinschgau, der letzte Seitenarm Italiens vor der Grenze zur Schweiz und zu Österreich, ist seit Jahrzehnten ein beliebter Boden für Apfelkulturen. Durch das allgemein wärmer werdende Klima rückten die Produzenten immer weiter das Tal hinauf – bis nach Mals auf gut 1000 Meter über Meer. Dort weideten bisher Kälber und Kühe, ab und an hatte ein Landwirt Gemüse oder Getreide gepflanzt, aber kein Obst. Als Ende der Nullerjahre sich immer mehr Obstplantagen ausbreiteten und die Bauern mit ihren Traktoren bis vor die Haustüren spritzten, erschraken die Malser. Denn die Apfelproduzenten spritzten nicht nur Wasser, sondern auch Pestizide in die Bäume. Den giftigen Sprühnebel verteilt der Wind über weite Strecken.

Unerfreulich für Anwohner, Touristen und benachbarte Biobauern: Der Wind verbreitet den giftigen Sprühnebel. (Quelle: umweltvinschgau)
Man wusste von Gemeinden weiter unten im Tal, dass die Spritzmittel der Gesundheit der Menschen schaden können. Anwohner und Touristen, die mit ihren Bikes Richtung Meran rasselten, klagten über entzündete Augen, Atemprobleme und Hautreizungen. Als auf einer Weide oberhalb der Gemeinde Mals tote Ziegen und Schafe gefunden wurden, die durch Pestizidverwehungen belastetes Gras gefressen hatten, kochte es in der Gemeinde. «Es war klar, dass wir an dieser Situation etwas ändern müssen», sagt Ulrich Veith. «Wir wollten keine Verhältnisse wie in unseren Nachbargemeinden.»
Vergiftetes Dorfklima
In Mals wurden Diskussionsveranstaltungen und Aktionstage organisiert, Rundschreiben und Leserbriefe verfasst. Ärzte, Apotheker und Biologen veröffentlichten ein Manifest «für den Schutz der Gesundheit und für den nachhaltigen Umgang mit Boden, Wasser und Luft». Doch die besorgten Bürgerinnen und Bürger merkten bald, dass sich an den Praktiken der konventionell wirtschaftenden Bauern nichts änderte. So formierte sich ein Unterstützungskomitee, welches das Thema zur Abstimmung bringen wollte.
Die Landesregierung in Bozen reagierte umgehend. Der Gemeindepräsident überschreite seine Kompetenzen, er müsse im Fall einer Abstimmung mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen. Gleichzeitig verschärfte sich im Dorf der Umgangston. Eine Gruppe von Dorfbewohnern erhob Klage gegen Veith und die Mitglieder der Abstimmungskommission. Der Sprecher des Unterstützungskomitees bekam anonyme Anrufe mit Todesdrohungen. Eines Nachts verwüsteten Unbekannte sein Familiengrab, ein paar Nächte später seinen Garten. Das Gift aus der chemischen Industrie verseuchte das Dorfklima.

Eingang zu einer Obstplantage in Mals: Die Diskussion über den Einsatz von Pestiziden schürt Emotionen. (Bild: Romano Paganini)
Heute, zwei Jahre nach der Volksabstimmung, herrscht Eiszeit in Mals. Zwar sei die Stimmung nicht mehr so angespannt, heisst es, doch der Streit ist nicht beigelegt. 43 Grundbesitzer haben beim Verwaltungsgericht Rekurs gegen die neuen Pestizid-Bestimmungen eingereicht. Ihr Argument: Für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln sei nicht die Gemeinde zuständig, sondern das Land Südtirol, der italienische Staat und die EU.
Von den Abstimmungsgegnern äussert sich kaum jemand öffentlich – aus Verunsicherung, aus Angst vor schiefen Blicken und weil auch sie wissen, dass die Pestizide nicht ungefährlich sind. «Die Fronten sind verhärtet», sagt ein Mitarbeiter der Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft, in der Obstbauern ihre Pflanzenschutzmittel kaufen. «Man setzte auf den radikalen statt auf den friedlichen Weg.» Der Umsatz mit Pestiziden sei im vergangenen Jahr um dreissig Prozent zurückgegangen, sagt der Verkäufer. «Die Vinschgauer Bauern fühlen sich hier nicht mehr wohl und kaufen lieber woanders ein.» Immerhin führt die Genossenschaft heute auch fünf neue biologische Mittel für den Hausgebrauch.
Bio und Nicht-Bio einträchtig nebeneinander
Wir verlassen Mals und fahren mit der Vinschger Bahn fünf Stationen nach Schlanders. Der Anblick der Felder erinnert an die endlosen Plantagen Argentiniens – nur dass hier nicht Soja, sondern Äpfel angebaut werden. Schluderns, Spondinig, Eyrs, Laas. Je weiter wir nach Süden fahren, desto dichter stehen die Bäume an den Gleisen. Immer wieder wird der Zug von den Bewässerungsanlagen besprüht.

Apfelland Vinschgau: Obstplantagen so weit das Auge reicht. (Quelle: vinschgau.it)
Im Bio-Restaurant «Anna» im Zentrum von Schlanders sitzen einige Obstbauern beim mittäglichen Kartenspiel. Da sei wieder mal ein Journalist, der zu Mals recherchiere, scherzt die Mitinhaberin des Lokals und Biobäuerin. «Gott sei Dank habe ich dort keine Felder», sagt einer ihrer Kollegen am Tisch. Der 64-Jährige stellt jedoch gleich klar, dass er grundsätzlich keine Probleme mit den Biobauern habe. Rund um seine Plantage seien alles Biobauern. Er achte darauf, dass er seine Bäume nicht bei Wind spritze. Spezielle Düsen würden verhindern, dass Sprühnebel in Nachbars Bäume gelangt. «Schliesslich sind wir aufeinander angewiesen, egal ob Bio oder Nicht-Bio.»
Skepsis und Wohlwollen
In Schlanders bleibt man gelassen – auch Rudi Tappeiner, der 2015 nach 35 Jahren konventionellem Anbau seinen Obstbetrieb auf Bio umgestellt hat. Er sitzt auf einer Holzbank ausserhalb des Dorfes, vor sich die Plantage mit Pinova-Äpfeln eines Kollegen. Seit Tappeiner biologisch produziert, hat sich seine Wahrnehmung gewandelt. «Du merkst, dass du mit der Natur arbeiten musst und deine Handlungen Konsequenzen haben.» Früher sei das anders gewesen. Wenn ein Pilz oder ein Insekt aufgetaucht sei, habe man einfach das passende Mittel gespritzt – ohne zu fragen, woher das Problem kommen könnte.
Heute wachsen zwischen den Apfelbäumen von Rudi Tappeiner wieder Kräuter und Blumen, die er früher mit Herbiziden abtötete. «Heute muss ich mir keine Gedanken mehr machen, welches Mittel ich wann gespritzt habe und ob ich aus gesundheitlichen Gründen besser noch ein paar Tage warte, bis ich wieder in die Plantage gehe.»

Blumen zwischen den Baumreihen: Patrik Gamper aus dem Nachbardorf Schlanders verzichtet in seiner Apfelplantage auf Pestizide. (Bild: Romano Paganini)
Neben Tappeiner sitzt der Besitzer der Pinova-Reihen, Patrik Gamper. Er ist Vorstandsmitglied des Verbands Bioland Südtirol und war 1992 dabei, als sein Vater auf Bio umstellte. Eine erste Bio-Welle sei damals durchs Vinschgau geschwappt. Eine weitere könne man gegenwärtig beobachten, sagt Gamper. Im vergangenen Jahr haben 55 Landwirtschaftsbetriebe in Südtirol auf Bio umgestellt, die meisten davon im Vinschgau. Allein in Schlanders waren es 16.«Dennoch», betont der 46-Jährige, sei ihm ein überzeugter, konventionell arbeitender Bauer lieber als ein «zwangsmissionierter Papier-Biobauer».
Angesprochen auf den Konflikt in Mals, reagieren beide Apfelproduzenten gereizt. Mit der Abstimmung habe man versucht, einen Keil zwischen die Bauern zu treiben und sie in Bio beziehungsweise Nicht-Bio einzuteilen. Das habe unter Kollegen für Misstrauen gesorgt, auch in Schlanders. Ein Landwirt denke in 15-Jahren-Rhythmen. «Man kann nicht von heute auf morgen sagen: ‹So, und jetzt produzierst du anders›», sagt Gamper. «Unter Kollegen diskutieren wir dieses Thema hart, aber es bringt niemanden weiter, wenn wir uns zerstreiten wie in Mals.»
Rekurs und Gesundheit
Schlanders und Mals: zwei Gemeinden, zwei Wege im Umgang mit Pestiziden in der Landwirtschaft. In Schlanders, wo der Obstbau zum Dorfbild gehört, macht man keinen Hehl aus dem Gift und verweist auf andere Quellen der Umweltverschmutzung: Autoabgase, Putzmittel, Insektensprays. Man bleibt pragmatisch und möchte nicht, dass das Klima unter Berufskollegen vergiftet wird.
Mals hingegen, wo der Obstbau noch jung ist, hat mit seiner Volksabstimmung eine Diskussion angestossen, die anderswo in Europa totgeschwiegen wird. «Pestizide und deren Einfluss auf die Gesundheit waren ein Tabuthema», sagt Ulrich Veith und leert sein zweites Glas Apfelsaft. «Viele sind froh, dass jetzt darüber gesprochen wird.»
Mals hat den Konflikt in Kauf genommen und sich mit zwei grossen Gegnern angelegt: dem Bauernbund und der chemischen Industrie. Wie viel Einfluss diese haben, wird sich im laufenden Rekursverfahren beim Verwaltungsgericht zeigen. Mals würde den Entscheid weiterziehen – und hätte gute Karten. Denn die Trentiner Gemeinde Malosco hatte 2010 eine ähnliche Regelung für Pestizide eingeführt und vom Staatsrat in Rom Recht bekommen. «Der Bürgermeister hat die Aufgabe, für die Gesundheit in der Gemeinde zu sorgen. So steht es in der Verfassung», sagt Ulrich Veith. «Und wenn synthetische Pestizide die Gesundheit der Bürger gefährden, dann wehren wir uns – trotz Drohungen aus Bozen und Rom.»

Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Form in der «WoZ».


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