Zeitungsleser: das Aussterben einer Gattung
Das machen wahrscheinlich nicht viele Leute: Eine Zeitung kaufen, die sie nicht lesen können. Claus Peymann macht es. Peymann ist Regisseur und künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles und kauft in jeder Stadt, in der er sich aufhält, eine Zeitung, selbst dann, wenn er ihren Inhalt nicht versteht, wie etwa in Moskau oder Tokio. Durch die Zeitung atme er den Geist einer Stadt ein, sagt er. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard wiederum reiste vor Jahrzehnten 350 Kilometer durchs Land, um eine bestimmte Ausgabe der NZZ zu erstehen, nur weil diese in der engeren Umgebung gerade nicht mehr erhältlich war.
Poetische Huldigung
Nachzulesen ist das alles im Büchlein «Der letzte Zeitungsleser» von Michael Angele. Der Titel lässt es erahnen: Es ist eine Hommage an die gute, alte Zeitung, denn der Autor weiss: «Die Zeitungssüchtigen sterben langsam aus». Das ist zwar keine neue und schon gar keine originelle Erkenntnis, und es ist auch schon sehr viel darüber geschrieben und debattiert worden. Doch noch kaum je ist der Zeitung als Lebensform derart poetisch gehuldigt worden. Und zwar nicht von einem hoffnungslosen Nostalgiker, der die Zeichen der Zeit nicht versteht und sich mit Händen und Füssen gegen technische Neuerungen wehrt, sondern von einem medialen Internet-Pionier. Angele war Ko-Chefredaktor der «Netzeitung», der ersten deutschen Internetzeitung; heute ist er stellvertretender Chefredaktor der deutschen Wochenzeitung «Der Freitag».
Ein Gedankenspaziergang
Michael Angele hat keinen Beitrag zur Medienwissenschaft geschrieben, auch nicht zur Medienpolitik oder zur Debatte um den Service public. Es ist ein Essay eines phasenweisen weit aus- und abschweifenden Beobachters, eines assoziativ-verspielten Gedankenspaziergängers, der sich und uns bewusst macht, was wir mit dem Verlust des raschelnden Mediums verlieren – wenn es denn tatsächlich dereinst dazu kommen sollte. Die Zeitung ist nicht nur eine bestimmte Form der journalistischen Nachrichtenübermittlung, sondern eine kulturelle Erscheinung. Schon nur die Präsenz der Zeitung im öffentlichen Raum unterscheidet sich fundamental von der individuell abgeschotteten Lektüre der News auf dem Smartphone. Es sieht keiner, auf welcher News-Plattform ich im Restaurant gerade herumsurfe; aber wenn ich öffentlich eine bestimmte Zeitung lese, dann gebe ich ein klein wenig von mir preis. Und nur die bereitliegende Zeitung, die lokale und die internationale, signalisiert in der Lobby eines anspruchsvollen Hotels so etwas wie Weltläufigkeit.
Es sind diese kleinen anekdotischen und pressephilosophischen Beobachtungen, welche die Lektüre zu einem Gewinn machen. Etwa wenn der Autor lapidar feststellt: «Die meisten Versuche zur Rettung der Zeitung gehen davon aus, dass die Menschen eine Zeitung lesen wollen. Dass sie sich eine Zeitung besorgen, bloss um sie lesen zu können, wird nicht bedacht, es würde ja auch ein wenig ratlos machen. Aber es ist in vielen Fällen so». Denn kaum jemand liest die Zeitung lückenlos von vorne bis hinten; wenn man an zwei, drei oder vielleicht vier grösseren Beiträgen hängenbleibt, ist es viel. Aber man sucht auch nicht in jedem Fall die News, den tiefschürfenden Hintergrund, den luziden Kommentar oder die kluge Analyse. Wenn gerade nichts Anderes aufzutreiben ist, gibt sich die Leserin, der Leser, auch mit dem Amtsanzeiger zufrieden, und man liest die dürren Mitteilungen «als wären es Aphorismen.» Passiert einem nur im gedruckten Anzeiger.
Axiome hinterfragt
Michael Angele stellt auch einige Axiome des heutigen Journalismus in Frage. Eines dieser Axiome kristallisiert sich im «Info-Kasten». Doch «zu viele Verstehenshilfen sind der Tod des leidenschaftlichen Zeitungslesens», findet Angele. Der Trend zur totalen Verständlichkeit ist ihm ein Gräuel: «Kein Rest an Fremdheit soll bleiben, es könnte die Leser abschrecken. Vor lauter Angst, den Leser anzustrengen, vergisst man, ihn anzuregen». Der Leser, die Leserin, muss abgeholt werden, man muss ihm und ihr die Zugänge erleichtern, und «er muss immer irgendwo ein Bild sehen, sonst wird er unruhig. So denken sie (die Zeitungsmacher; J.M.). Sie stellen sich den Leser als grosses Kind vor: etwas begriffsstutzig, dabei nicht gutmütig, sondern reizbar und schnell beleidigt, das Abo praktisch schon gekündigt.»
Verengung der Sicht im Internet
Es ist also das leicht Elitäre, das den passionierten Zeitungsleser in den Augen von Angele charakterisiert. Und dieser gehört meist auch zur Gattung der Sammler, weil er nicht selten Zeitungsseiten herausreisst, die er dann am Sonntag lesen will. Doch da es jetzt auch Sonntagszeitungen gibt, die meist dicker sind als jene unter der Woche, geraten die Sammlerinnen und Sammler in manchmal hoffnungslosen Rückstand. Überhaupt, der Umfang: Wenn er zu gross ist, kann die Zeitung auch zur Belastung werden: «Anstelle des guten Gefühls, viele Möglichkeiten zur Lektüre zu haben, tritt das schlechte Gewissen. Anstelle der Freude einer Entdeckung, und das ist ja eigentlich, was eine Zeitung gewähren soll und was sie zu einem kleinen Abenteuer des Geistes macht, tritt die Last des Pensums.» Ein Problem, das man beim Medienkonsum im Internet nicht hat: Man hat die unendlich viel grössere Stoffmenge nie physisch vor sich. Aber paradoxerweise führt die Unendlichkeit des Netzes beim Nutzer eher zu einer thematischen Verengung als zu einer Ausweitung des Horizontes.
Ein auch ästhetisch schönes Denkmal
Wie lange es die Tageszeitung noch macht, lässt Michael Angele offen. Jahre? Vielleicht gar Jahrzehnte? Selbst eine kleine Renaissance will er nicht ausschliessen. Aber eines ist für ihn sicher: Sie verschwindet irgendwann. «Daran zweifelt keiner. Aber nicht jeder erkennt den Verlust, den dieses Verschwinden bedeutet». Mit seinem Büchlein hat Michael Angele, wenn es denn einmal soweit sein sollte, der Lebensform Zeitung schon heute ein schönes Denkmal gesetzt. Übrigens auch ein ästhetisch schönes Denkmal, das sich grafisch an das Medium anlehnt, indem die Buchseiten im Spaltenformat der Zeitung daherkommen.
Michael Angele: «Der letzte Zeitungsleser», Verlag Galiani, Berlin 2016, 153 Seiten, CHF 23.90
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine