Rentnerinnen und Rentner werden nicht mehr älter
«Jedes zweite Neugeborene wird 100 Jahre alt», verbreitete der Versicherungkonzern Swiss Life in TV-Werbespots und Zeitungsinterviews. Er rührte damit die Werbetrommel für tiefere Renten und ein höheres Rentenalter. Pensionskassen-Versicherer wie Swiss Life übertreiben die «Überalterung» der Bevölkerung, um weniger Renten auszahlen zu müssen.
Die «Alterung der Bevölkerung» ergibt sich aus zwei verschiedenen Entwicklungen, die man auseinanderhalten muss:
- Erstens wird die geburtenstarke Babyboomer-Generation pensioniert. Dieser Bauch in der Bevölkerungspyramide wird nach rund zwanzig Jahren wieder schrumpfen und der Anteil der über 65-Jährigen wieder sinken. Es handelt sich um ein zeitlich beschränktes Problem.
- Zweitens wurden die einmal Pensionierten bisher immer älter: Frauen, die im Jahr 1981 gestorben waren, überlebten ihren 65. Geburtstag durchschnittlich 18,2 Jahre. Frauen, die 2011 starben, überlebten ihren 65. Geburtstag 22,2 Jahre. Bei den Männern war die Überlebenszeit nach dem 65. Geburtstag von 14,3 auf 19,2 Jahre gestiegen (siehe Grafik oben. Quelle: Bundesamt für Statistik BfS). Diese Todesfall-Statistik der Vergangenheit nennt man irreführend «Lebenserwartung».
Fälschlicherweise wird davon ausgegangen, dass sich die Tendenz der Todesfall-Statistik in Zukunft mit wenigen Abstrichen fortsetzt. In einem «Referenzszenario» gehen das Bundesamt für Statistik BfS sowie auch das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV davon aus, dass 65-jährige Frauen im Jahr 2035 durchschnittlich noch 24,91 Jahre leben und 65-jährige Männer noch 22,44 Jahre. Das entspricht gegenüber heute einer zusätzlichen Renten-Lebenszeit von 2,7 Jahren für Frauen und von 3,2 Jahren für Männer. So viel länger müssten Renten im Jahr 2035 durchschnittlich bezahlt werden, sofern das Rentenalter nicht erhöht wird. Es geht um Milliardenbeträge.
Prognosen ignorieren den Knick in der Kurve
Diese Prognosen ignorieren allerdings, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen bereits seit fünf Jahren stagniert, bei Frauen sogar schon seit sechs Jahren. Noch vor zwei Jahren wollte das BfS keine Trendwende sehen. Man müsse die Entwicklung «über Jahrzehnte beobachten». Doch seither hat sich das Sterbealter nicht erhöht. Vielmehr hat sich der Knick von 2011 bei Männern und von 2010 bei Frauen bis heute fortgesetzt.
Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren. Entwicklung seit 1981:
Quelle: Bundesamt für Statistik. Infografik «Beobachter/AK»
Indizien für weniger Renten-Lebensjahre
Die Zukunft kann niemand voraussagen. Doch mehrere Indizien sprechen dafür, dass die 65-Jährigen bis 2035 mit keiner höheren Lebenserwartung rechnen können als heute:
- Die gegenwärtigen Rentnerinnen und Rentner hatten in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren zwar entbehrlicher, aber besonders gesund gelebt.
- Ein Teil der Bevölkerung ernährt sich ungesünder als früher.
- Der Anteil der stark Übergewichtigen und der Menschen, die sich zu wenig körperlich bewegen, hat deutlich zugenommen.
- Ein erheblich grösserer Anteil an Menschen war und ist viel mehr Feinststaub, Lärm und Stress ausgesetzt als früher.
Es gibt auch Gegentrends wie etwa die Männer, die weniger rauchen. Oder es kann künftig zum bisher ausgebliebenen Durchbruch in der Behandlung häufiger Krebserkrankungen kommen. Ein Blick ins Ausland zeigt aber, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen in manchen Industriestaaten seit wenigen Jahren ebenfalls nur noch unmerklich zunimmt, stagniert und in einigen Grossstädten sogar abnimmt.
Entscheidend für Renten der Pensionskassen
Pensionskassenrenten: Für deren Finanzierung ist praktisch allein entscheidend, wie lange die Frauen und Männer nach der Pensionierung noch leben. Denn die Höhe der Renten richtet sich danach, für wie viele Jahre die verzinsten Pensionskassenbeiträge im Durchschnitt reichen müssen. Die apodiktische Behauptung verschiedener Parlamentarier, «die Leute werden immer älter», dient der Stimmungsmache und berücksichtigt den Trend der letzten fünf Jahre nicht.
AHV-Renten: Auch die Finanzierung der künftigen AHV-Renten hängt zu einem beachtlichen Teil davon ab, ob die Lebenserwartung von AHV-Bezügern weiter steigt oder stagniert. Doch solange die AHV direkt mit Lohnprozenten finanziert wird, ist das Verhältnis der Erwerbstätigen zur Zahl der AHV-Rentner ebenfalls wichtig. Dieses verschlechtert sich während zwei Jahrzehnten wegen der geburtenstarken Babyboomer-Generation.
Politiker und Medien machen selten eine Unterscheidung zwischen der AHV und den Pensionskassen: Sie argumentieren mit der «zunehmenden Überalterung», die tiefere Renten und ein höheres Rentenalter für alle nötig mache. Um ein Rentenalter von 67 Jahren für AHV und Pensionskassen zu rechtfertigen, titelte beispielsweise die «NZZ am Sonntag»: «Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt konstant.». SVP-Nationalrat Sebastian Frehner begründete ein höheres Rentenalter und tiefere Renten mit dem Argument, «die Leute werden älter». In den Chor der «längeren Lebenserwartung» stimmte auch NZZ-Ressortleiter René Scheu ein. Die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Michel-Alder meinte im Tages-Anzeiger sogar, «wir müssen uns auf 60 Jahre arbeiten einstellen». Denn «jeder zweite Mensch mit Jahrgang 1997 wird 100 Jahre alt.» Die Werbekampagne der «Swiss-Life» lässt grüssen.
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Weitere Informationen auf der Webseite vom Baubiologen und Architekten Hansueli Stettler: «Schweizer Lebenserwartung und Lebensqualität im Sinkflug».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Dass heute mehr Feinstaub als früher die Lebenserwartung verkürzen soll, glaube ich nicht. Früher heizte man mit Holz, Briketts, Kohle, die zwar wenigen, aber dafür weitaus schmutzigeren Fahrzeuge und die Industrie, die es in der Schweiz damals noch gab, verursachten weit mehr Feinstaub, als heute noch verursacht wird. Weiter wurde früher jede Menge Müll unter freiem Himmel verbrannt, Hausabbrüche erfolgten mit der Abrissbirne, es gab Steinbrüche, verheizt wurde Heizöl mittelschwer, geraucht wurde überall und jederzeit. Man sollte die Erfolge der immensen Aufwendungen für den Umweltschutz nicht kleinreden und man müsste vertiefter recherchieren, bevor man Gemeinplätze bemüht.
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg (damals wurde die Generation geboren, die heute in der Schweiz so lange lebt) habe es weit mehr Feinststaub gegeben als heute, schreiben Sie. Woher haben Sie die Zahlen? Sie müssen die heute bedeutend geringeren Ausstosse pro Einheit mit der gewaltig gestiegenen Menge der Einheiten multiplizieren.
Nun, meine Eltern und ich haben die Zeit erlebt, bevor Ölheizungen Standart waren. Damals gab es wegen der vielen Kondensationskeime sehr viel mehr Nebel, in den Städten herrschte bei Wetterumschlag Smog. Die Lungenkranken hatten da weitaus grössere Probleme als heute. Zahlen darüber gibt es wohl keine, damals hatte die Bevölkerung andere Sorgen, als Feinstaub, Klimaerwärmung, Lichtverschmutzung und was alles als Staatsreligion gelten soll oder könnte. Sehen Sie sich die Bilder aus dem Ruhrgebiet bis in die 1970-er Jahre an, die sprechen Bände über die damaligen lufthygienischen Verhältnisse.
In meinem Artikel habe ich den Feinststaub nur als eines von etlichen möglichen Indizien genannt. Die Menschen im Ruhr- und andern Kohleförderungsgebieten waren früher wohl tatsächlich viel mehr Feinststaub ausgesetzt. Die dortigen betroffenen Menschen sind kaum 90 Jahre alt geworden! In der Schweiz ist mir kein Kohleabbau bekannt (ausser einem vernachlässigbaren im Jura).
Fakt ist, dass heute mancherorts sogar Schwefel als Bodenverbesserer verfeuert werden muss, weil nur noch entschwefelte Brennstoffe verwendet werden. Es ist dasselbe Problem, wie mit den Kläranlagen, heute fehlt es vielen Gewässern an Phosphaten, was zu einem neuen Artensterben führt. Dass die Klimaerwärmung von 2000 bis 2015 (2016 gab es El Niño) zum Erliegen kam, wurde mitunter damit erklärt, dass die Chinesen aufgrund ihrer Kohlekraftwerke verstärkt Schwefel freisetzen, was angeblich zu einer Abkühlung führen soll! Ein Zuviel an Umweltschutz ist oft kontraproduktiv. Wenn ich mir die Fassaden ansehe, waren die früher vom Diesel- und Heizungsfeinstaub sehr rasch grau bis schwarz. Hellgraue und weisse Falter änderten ihre Farbe – Industriemelanismus, die grau-schwarzen überlebten aufgrund ihrer Tarnung, die weissen gerieten ins Hintertreffen. Heute sind die grau-schwarzen wieder im Nachteil. Ich bin mir aufgrund verschiedenster Indizien sicher, dass wir heute massiv bessere Luft haben, als in den 1960er und 70er Jahren. Es gibt kaum noch Schwerindustrie hierzulande, die Luftreinhalteverordnung zeigt Wirkung. Ich glaube wirklich nicht, dass die Luftqualität hierzulande zu einer verkürzten Lebenserwartung führt. Bei den übrigen Indizien und Faktoren gehe ich mit Ihnen einig.
Demographie ist vielleicht nicht die exakteste Wissenschaft, wie wir sie uns wünschen würden.Schliesslich wird von einer statischen Alterspyramidenbetrachtung auf dynamische Entwicklungen geschlossen und unterliegende Parameteränderungen werden bestenfalls subsumiert.
Meine eigenen statistischen Resultate sind aber mit den Beobachterzahlen absolut deckungsgleich und sugerieren in der Tat eine Abflachung der Wachtumskurven, bzw. der Entwicklung der Lebenserwartungen.
Hier darf man aber auch darauf hinweisen, dass diese Resultate nicht nur zw. den Geschlechtern unterschiedlich ausfallen, sondern auch zw. unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (Schweizer vs Ausländer) bzw. geographischen Einheiten (Kantone). So habe ich z.B. eine grössere Sterblichkeit bei Ausländern in diversen zentralschweizer Kantonen festgestellt, was wohl von kompetenterer Seite näher untersucht werden sollte.
Die demographische Basis der Grenzkantone unterscheidet sich ebenfalls von den zentral gelegenen Regionen.
Auf der Basis dieser Beobachtungen finde ich übrigens diverse offizielle Szenarien reichlich phantasievoll, nicht nur die von den Lebensversicherern gesponserten Überlebenszenarien im Bereich der Pensionskassenfinanzierung.
Ob Feinstaub in der verkürzten Lebenserwartung der Ausländer in der Zentralschweiz eine Rolle spielt, kann ich leider nicht beantworten. Das statistische Kuriosum sollte aber etwas detaillierter untersucht werden.
Ich würde es begrüssen, wenn man Grafiken mit konstanter Zeitachse verwenden, und die Statistikdaten richtig verwenden würde!
Die Infografik vom Beobachter sugeriert einen viel stärkeren Knick als tatsächlich vorhanden ist. Der Zeitraum von 1981 bis 2010 beansprucht gleich viel Platz auf der Zeitachse wie der Zeitraum von 2010 bis 2015. Um eine aussagekräftige Grafik zu erhalten, müsste die erste Hälfte der Zeitachse um den Faktor 6 gestreckt werden! Mit viel Goodwill erkennt man dann zwar immer noch einen leichten «Knick», aber auch, dass die Lebenserwartung immer noch am steigen ist.
Auch zu beachten: Genau ab dem Jahr 2010, wo ein klarer Knick beobachtet werden soll, werden die statistischen Daten anders erhoben: Ab 2010 werden nämlich zusätzlich «Personen im Asylprozess mit einer Gesamtaufenthaltsdauer von mindestens 12 Monaten» in die Statistik miteingerechnet. Die Datenbasis ist somit nicht dieselbe und somit müsste zumindest abgeschätzt werden, wie weit diese neue Datenbasis die Grafik beeinflusst hat. Inwiefern wurde dies berücksichtigt?
Unter Berücksichtigung dieser beiden Punkte verliert dieser Artikel einen Grossteil an Glaubwürdigkeit. Mit falsch skalierten Grafiken wird offenbar nicht nur von rechtspopulistischer Seite her manipuliert.
@ Balsiger. Mit der Skalierung der Grafik haben Sie recht. Die unterschiedliche Skalierung ist allerdings mit der andern Farbe deutlich gemacht. – Eine Aufnahme der Personen im Asylprozess hat auf die Lebenserwartung der 65-Jährigen keinen Einfluss. Wenn diese Personen in der Schweiz bleiben und auch mal 65 Jahre alt werden, wird sich zeigen, ob sie die Lebenserwartung der 65-Jährigen steigen oder sinken lassen.
Zum Datenknick darf man vielleicht hinzufügen, dass die Detailzahlen nach Kantonen für die Jahre 2011-2014 noch nicht publiziert wurden.
Hingegen gibt es Szenarien für die nächsten 50 Jahre mit Altersgrenzen bis zu 120 Jahren. Das scheint auch nicht besonders realistisch.
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